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Die neue Sinatra-Doktrin

Viele Länder unterschiedlicher Kulturkreise zeigen eine wachsende Unlust, sich der von den Vereinigten Staaten entwickelten internationalen Ordnung anzupassen. Sie stellen die vorgegebenen Normen und Institutionen in Frage und höhlen sie aus, wählen ihren eigenen Weg und betonen, was für sie eigentümlich ist, weniger, was sie mit anderen gemeinsam haben. Dieser Trend zeigt sich auch in Europa.

Am 23. Oktober 1989 kündigte der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse in einer Rede an, die UdSSR werde das Recht aller Staaten einschließlich der Mitglieder des Warschauer Paktes respektieren, eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben. Zwei Tage darauf äußerte der sowjetische General Gennadij Gerasimow in einer Sendung des US-amerikanischen Fernsehens die berühmten Worte, die als „Sinatra-Doktrin“ in die Geschichte eingehen sollten. Er sagte, es herrsche „jetzt die Sinatra-Doktrin. Sinatra sang das Lied ,I Did It My Way‘. Soll also jedes Land für sich entscheiden, welchen Weg es einschlägt […]. Die politische Verfassung muss von den Menschen gewählt werden, die dort leben.“

Diese Äußerungen von Angehörigen der Sowjetführung beschrieben die Veränderungen, welche die immer mehr in ihren Strukturen erstarrte Sowjetunion nicht aufhalten konnte und wollte. Eines der beiden globalen Imperien trat in die Phase des endgültigen Zerfalls ein, und seine Einzelteile begannen, für sich eine neue Rolle zu suchen. Ein Teil wählte den Weg nach Westen und zu dessen Institutionen, so etwa Polen. Andere, die sich näher am Zentrum des Imperiums befanden, gingen aus unterschiedlichen Gründen und unter verschiedenen Umständen einen anderen Weg, wofür in Europa Belarus und die Ukraine Beispiele waren.

Die von den rigiden Rahmenbedingungen befreiten Länder konnten ihren „eigenen Weg“ einschlagen, der jedoch nicht immer frei von neuen Beschränkungen war. Das von dem Zerfall der Sowjetunion und ihrer Kontrollmechanismen hervorgerufene Chaos führte dazu, dass die Einzelbestandteile ihre Identität von Grund auf neu zu definieren und eine neue Staatstradition aufzubauen begannen, wobei sie sich vorzugsweise im weiteren Sinne dem Westen anschlossen.

Eine neue Sinatra-Doktrin?

Die bisher der Sowjetunion untergeordneten Länder konnten aus einem prinzipiellen Grund ihren „eigenen Weg“ wählen. Denn die damalige internationale Ordnung, die auf der Koexistenz zweier konkurrierender politischer Blöcke beruhte, war im Verfall begriffen. Das Verschwinden eines dieser Blöcke hinterließ ein geopolitisches Vakuum, und die darin befindlichen Staaten gewannen einen gewissen Bewegungsspielraum.

Bereits seit einiger Zeit haben wir es mit einer erneuten, gründlichen Umgestaltung der internationalen Ordnung zu tun. Diese Veränderungen verlaufen weniger gewaltsam, und der Zerfall einer der Großmächte spielt dabei keine Rolle. Doch die Vereinigten Staaten werden relativ gesehen schwächer: Ihr politisches und ökonomisches Übergewicht gegenüber China hat sich unübersehbar verringert. Infolgedessen rivalisiert Washington heute vielerorts mit Peking um Einfluss.

Während nach dem Ende des Kalten Krieges und dem endgültigen Zerfall der Sowjetunion fast die ganze Welt de facto zu einer US-amerikanischen Einflusszone geworden war, bewirkt die relative Schwächung der USA, dass seit längerer Zeit an vielen Stellen der Erde Expansionsbewegungen eintreten. Ausreichend starke Staaten stellen die bisher gültigen Regeln in Frage, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg von Washington erzwungen worden waren und sich nach dem Sieg über die UdSSR noch verstärkt hatten. Selbst wenn sie in den letzten Jahrzehnten das gesamte westliche Regelwerk übernommen und gemeinsam mit dem Westen bestimmte Institutionen mitgestaltet haben, machen sie nunmehr keinen Hehl mehr daraus, dass dieses steife, nicht immer zu ihren nationalen Traditionen passende Korsett sie zu drücken beginnt.

Daher wählen sie nunmehr den „eigenen Weg“. Soweit dies möglich ist, wollen sie gemäß eigenen Grundsätzen an ihrer nationalen Größe bauen. Dabei schöpfen sie aus eigenen nationalen, kulturellen und zivilisatorischen Traditionen, die für kein anderes Land ein ideologisches Vorbild abgeben können, weil sie zu sehr in sich abgeschlossen sind. Diese Länder befinden sich auf der Suche nach ihren eigenen nationalen und zivilisatorischen Wurzeln. Wir sind Zeugen des Versuchs, Menschen mit gemeinsamer, oft längst vergessener Herkunft zu sammeln, wenn nicht innerhalb der Grenzen eines Staats, so unter einer Standarte. Wir beobachten Maßnahmen zu dem Zweck, die politische Realität und das gesellschaftliche Bewusstsein zu verändern, beispielsweise bei der Durchsetzung eines neuen Staatsnamens wie im Falle der Türkei [gemeint sind die Bemühungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, im Ausland den Eigennamen der Türkei Türkyie durchzusetzen; zumindest in US-amerikanischen Medien wird dieser neuerdings bereits verbreitet anstelle von Turkey gebraucht; A.d.Ü.]. Vor allem sehen wir eine größere Flexibilität einzelner Länder in Europa, Asien, Afrika oder auch Südamerika, die politische oder sogar militärische Initiative zu ergreifen.

Die neue Sinatra-Doktrin funktioniert eigenständig, spontan und unkontrollierbar. Niemand hat sie verkündet noch oktroyiert. Die Wahl des „eigenen Wegs“ hat Gründe in der Innenpolitik und Tradition der einzelnen Staaten, aber diese größere Flexibilität wird gewiss durch die relative Schwächung des Welthegemons begünstigt. Die verringerte Kontrolle durch den bisherigen „Weltpolizisten“ bringt allerdings größere Ungewissheit und die Überzeugung mit sich, die internationale Politik befinde sich derzeit in einer Übergangsphase. In einigen Weltregionen gibt das kleineren Ländern einen Spielraum, der über ihr eigentliches politisches oder wirtschaftliches Potential hinausgeht.

Die ostentative Wahl des „eigenen Wegs“ durch so unterschiedliche Länder wie die Türkei, Großbritannien, Polen, Indien und Ungarn ist ein Trend, der seit einiger Zeit Einfluss auf ihre unmittelbare Umgebung hat, auf die geltenden Normen und die Stabilität der Institutionen, denen sie angehören. Es handelt sich um Länder, die eine innere Notwendigkeit für Veränderung empfinden und spüren, dass die äußere Welt schließlich dafür die Erlaubnis gibt, oder doch zumindest vor all dem die Augen verschließt.

Was die neue Sinatra-Doktrin nicht ist und was nun weiter wird

Es ist zum Schluss noch etwas hinzuzufügen, damit keine Unklarheit entsteht: Die heutigen Umstände unterscheiden sich prinzipiell von der Zeit, in der die Sowjetunion zerfiel. Die relative Schwächung des US-amerikanischen Hegemons und die Gewinnung größeren Spielraums durch viele Länder bei der Gestaltung ihrer Zukunft ist nicht dasselbe, wie die Erlangung der Freiheit durch die von der UdSSR unterdrückten Länder. Für die Verbündeten und Partner war die US-amerikanische Hegemonie nach dem Ende des Kalten Kriegs relativ milde. Die sowjetische Hegemonie dagegen stürzte die Verbündeten und Partner in Armut und schuf Bedingungen, die zu ihrem Ende beitrugen.

Die neue Sinatra-Doktrin ist etwas ganz anderes als die inneren Systeme der beiden Hegemonen. Dabei geht es nur um die Ungewissheit und das Chaos, die infolge des Auseinanderfallens der UdSSR bzw. der relativen Schwächung der USA entstanden, also von Hegemonialmächten, die in ihrer jeweiligen Einflusszone ihre Prinzipien durchsetzten.

An dieser Stelle geht es nicht an, genauer zu beschreiben, wie es zu der relativen Schwächung der USA gekommen ist, noch wie sich die einzelnen Länder in deren Gefolge verändern. In diesem kurzen Text können nicht alle Länder detailliert behandelt werden, die davon profitieren, was wir vorläufig die „neue Sinatra-Doktrin“ genannt haben, noch uns in ihre Motive zu vertiefen, international mutiger, spontaner und vielleicht auch atavistischer aufzutreten.

Es würde jedoch einen genaueren Blick darauf lohnen, wie die Auflösung der internationalen Ordnung größeren Spielraum für kleinere Staaten schafft, darauf, wieso die einen das für sich auszunutzen vermögen, andere aber nicht, und darauf, welche Bedingungen innerhalb eines Landes bestehen müssen, damit es nunmehr „seinen Weg“ geht, oft entgegen früheren Entscheidungen.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała, Redakteur beim polnischen onlineportal onet.pl, Absolvent der Warschauer Universität und der University of Birmingham. Seine Interessengebiete sind die Politik der Großmächte und die Theorie der internationalen Beziehungen.

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