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Alexander Dugin und Carl Schmitt – Zur praktischen Relevanz von Antichrist-Verschwörungstheorien

Alexander Dugin ist einer der wichtigsten Propagandisten des neuen russischen Totalitarismus. Und doch wurde er im Jahr 2019 eingeladen, um 25 Jahre nach Gründung des niederländischen Nexus-Instituts mit dem liberalen französischen Starintellektuellen Bernard-Henri Lévy zu diskutieren. Der Institutschef stellte beide, den Demokraten und den Antidemokraten, als „tapfere Philosophen“ vor. Diese Anerkennung in Form des Stellens auf eine Ebene ist das große Ziel der Protagonisten der Diktatur. Offene Gesellschaften befinden sich hier oft in einem diplomatischen Dilemma. Im beschriebenen Fall war das Hofieren Dugins jedoch völlig unnötig und dem Drang nach Aufmerksamkeit geschuldet.

Dugin bekräftigte eingangs, dass er den friedlichen „Ideenaustausch“ anstrebe und nicht den „physischen Kampf“ mit seinem Kontrahenten, der hier sinnbildlich für die liberale Demokratie zu verstehen ist. Lévy hielt Dugin entgegen, letzterer beziehe sich auf Ideologen, deren Denken zum Terror des Dritten Reiches beigetragen habe, z.B. auf Carl Schmitt und Oswald Spengler. Dugin verteidigte sich mit dem Hinweis, er übernehme von Schmitt lediglich den Realismus, das geopolitische Denken, den Traditionalismus und die Modernitätskritik. Der „globalistische“ Liberalismus mit seinem Verweis auf universelle Werte sei hingegen ein „neuer Rassismus“.

Dugins Auftritt in Amsterdam zeigt: Das Totalitäre gibt sich gerne antitotalitär, um damit die Bühnen der liberalen Öffentlichkeit erst einmal zu bespielen, bevor man sie – dann auch gewaltsam – zum Einsturz bringt. Die Apologeten der Diktatur wollen gleichberechtigt mitreden, wissen um den Reiz des Spektakels und nutzen den liberaldemokratischen Glauben an die Kraft des aufgeklärten Arguments aus.

Als Realismus getarnte Militanz

Lévys These von der zwangsläufigen Militanz der Duginschen Ideologie sollte sich spätestens am 24. Februar 2022 bestätigen. Und trotzdem verweist Dugin nach außen hin weiter darauf, ein lediglich realistisches Konzept zu verfolgen. In einem auf Englisch geführten Gespräch mit dem russischen Staatssender RT im März 2023 bezieht er sich auf die Diagnose Samuel Huntingtons („Kampf der Kulturen“) und verteidigt damit sein Konzept der internationalen „Multipolarität“ und „geopolitischen Souveränität“, welches gegen die „Globalisten“ gerichtet sei. Auch andere Kampfvokabeln des internationalen Rechtsextremismus bringt der kritiklos befragte Interviewgast unter. Er, Dugin, wende sich lediglich gegen die „globale Dominanz des LGBT+ und des technologischen-technokratischen Westens“, denn diese Werte würden anderen Kulturen nicht gerecht.

In Dugins plattem Antiliberalismus werden pseudorealistische Aussagen mit aggressiven Forderungen verknüpft. Liest man Texte, die weniger für die westliche Medienlandschaft, sondern eher für die eigenen Unterstützer bestimmt sind, wird Dugin zum totalitären Bellizisten. In dem Text „Bedingungen für unseren Sieg“ vom Januar 2023 verlangt er den „Schutz traditioneller Werte in ihrer Gesamtheit und die Ausrottung nicht-traditioneller Werte“. Russland befinde sich im Krieg gegen „die satanische Natur der westlichen Zivilisation“, gegen „den Teufel“ in Form von „Liberalismus, Globalismus, Säkularismus, Posthumanismus“ und „LGBT“, so Dugin im Herbst 2022 bei der Eröffnung des „Russischen Weltvolksrats“.

Wie verträgt sich der angebliche Realismus kultureller „Multipolarität“ mit der militanten Antichrist-Verschwörungstheorie, die hier vertreten wird? Liegt im Verschwörungsglauben eine Wurzel für den Kampf gegen universelle Individualrechte? Dass dies Fragen mit praktischen Implikationen sind, deuten Lévys Ausführungen in Amsterdam zumindest an. Der Vernichtungskrieg Putins, der neben dem räumlichen Imperialismus auch ein ideologischer Kreuzzug ist, hat die Notwendigkeit der tieferen Analyse totalitärer Ideenkonstrukte leider erneut bestätigt.

In diesem Kontext ist ein näherer Blick auf Dugins Quellen aufschlussreich. Bislang kaum beachtet wird, dass sich bei Dugins Bezugspunkt, nämlich Carl Schmitt, ein ganz ähnliches Muster findet wie bei Dugin: ein Zusammenspiel von Verschwörungsglauben auf der einen und Antiliberalismus bzw. Antiuniversalismus auf der anderen Seite. Auch Schmitt war ein Anhänger der Antichrist-Verschwörungstheorie. Der religiöse Fundamentalismus erklärt wichtige Grundmotive seines Ideologieapparats, die, wieder analog zu Dugin, durch einen Scheinrealismus verdeckt werden.

Schmitts religiöses Verschwörungsdenken

Carl Schmitt wird zurecht als „Kronjurist des Dritten Reiches“ angesehen. Seine Schriften lassen keinen Zweifel an der diktaturbejahenden Haltung. Gleichzeitig bescheinigt man ihm jedoch analytische Fähigkeiten, etwa wenn es um seine Kritik des Liberalismus und des modernen Parlamentarismus geht. Schmitts Politikbegriff, der von der potentiell zum Krieg führenden Unterscheidung zwischen Freund und Feind ausgeht, und sein damit verknüpftes Eintreten für eine multipolare Welt ohne universelle Normen werden nicht selten als Grundlage für eine realistische Außenpolitikanalyse goutiert. Neben Dugin bedienen sich auch linke Theoretikerinnen (Chantal Mouffe), fundamentalreligiöse Dezisionisten (Adrian Vermeule) oder Diagnostiker des ständigen Ausnahmezustands (Giorgio Agamben) bei Schmitt.

Um Schmitts Intention zu verstehen, ist ein Blick in die selten rezipierte Frühschrift „Theodor Däublers ‚Nordlicht‘“ (1916) aufschlussreich. Darin warnt Schmitt vor der „Macht des Bösen“. Der „Antichrist“ täusche den Menschen, indem er „Christus nachzuahmen weiß und sich ihm so ähnlich macht, daß er allen die Seele ablistet.“ Schmitt wendet sich gegen ein säkulares Verständnis von Gerechtigkeit. Im Buch „Begriff des Politischen“ (1932) setzt sich diese Grundhaltung fort. Schmitt warnt vor dem „universale[n] Friede[n]“. Er sieht in irdischen Heilserwartungen, wie Raphael Gross in seinem Buch „Carl Schmitt und die Juden“ (2000) völlig zutreffend konstatiert, „das verlogenste Versprechen der antichristlichen Neutralisierer“. Nicht zufällig verbindet Schmitt im „Begriff des Politischen“ das Streben nach umfassendem weltlichen Glück mit den Begriffen „phantastisch und satanisch“.

Außerdem stellt Schmitt im selben Buch die für alle Verschwörungsideologen grundlegende Frage des Cui Bono (wem nützt es?). Im Angesicht des liberalen Programms von universellen Menschenrechten und Überwindung der internationalen Freund-Feind-Konstellation müsse gefragt werden, „welchen Menschen die furchtbare Macht (…) zufallen wird.“ Schmitt vermutet dahinter das Programm einer geheimen Elite. Dieses liege verdeckt hinter einem „Nebel der Namen und Worte, mit denen die psycho-technische Maschinerie der Massensuggestion arbeitet.“ All diese kryptischen Aussagen, die an den Inhalt heutiger Verschwörungstheorien über den vermeintlichen „Transhumanismus“ oder die angeblichen Pläne einer rund um Klaus Schwab oder George Soros operierenden „Eliteklasse“ erinnern, laufen bei Schmitt auf die folgende These hinaus: Eine Entpolitisierung im Sinne einer Abschaffung der Freund-Feind-Unterscheidung und einer Orientierung an universellen Werten ist für ihn (auch) Kennzeichen einer geheimen Agenda des Antichristen, der die sündhaften Menschen täusche, um seine gottlosen Ziele mit der Hilfe von Verbündeten umzusetzen.

Schmitts Politikbegriff und sein Bild einer zwangsläufig konflikthaften internationalen Feindkonstellation gründen auf der Ablehnung eines Universalismus jenseits göttlichen Gebots. Deshalb darf es für ihn, wie er im „Begriff des Politischen“ schreibt, keine verbindliche weltliche Orientierung am „unterschiedslosen Optimismus eines durchgängigen Menschenbegriffes“ geben. Dadurch würde das „theologische Grunddogma von der Sündhaftigkeit der Welt und der Menschen“ negiert, was aus seiner Perspektive das Interesse des Antichristen bedient.

In diesem Zusammenhang verwendet Schmitt ab 1942 systematisch den biblischen Begriff des „Katechon“ in seinen Publikationen. In Anlehnung an Paulus‘ zweiten Brief an die Thessalonicher ist damit „das Aufhaltende“ gemeint, welches die Ankunft des satanischen und verführerisch lügenden „Widersachers“ hinauszögert. In dem Aufsatz „Die letzte globale Linie“ aus dem Jahr 1943 wendet sich Schmitt „[g]egen die Ansprüche einer universalen, planetarischen Weltkontrolle und Weltherrschaft“ durch einen neuen „einzigen ‚Herrn der Welt‘“, der konkret aus den USA stamme. Schmitts bekanntes Konzept der konkurrierenden „Großräume“ fungiert in dieser religiös-verschwörungstheoretisch angeleiteten Denkhaltung als, wie er im selben Aufsatz schreibt, einzig mögliche „Gegenfront“.

Spätere Texte bestätigen das Motiv. Im Buch „Nomos der Erde“ (1950) und in dem Aufsatz „Die Einheit der Welt“ (1951), von dem es mehrere Fassungen gibt, kommt deutlich zum Ausdruck, dass Schmitt jeden nichtchristlich fundierten Universalismus als „Macht des Bösen“ und als Werk des „Antichrist“ ansieht. Die Multipolarität von Großräumen verhindert somit die „Einheit“ von „Satans Reich“. Folgerichtig verteidigte Schmitt in seiner Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (1939/1941) die „Tat des Führers“ als notwendigen Kampf gegen „ein allgemeines Welt- und Menschheitsrecht“. Schmitt war ein rechtskatholischer, verschwörungstheoretisch angeleiteter Nazi mit Endzeitpsychosen.

Dugin, Orbán und der personifizierte „Antichrist“

Analog zum Antichrist-Verschwörungsglauben von Carl Schmitt legitimiert auch Dugin die Verbrechen seines Führers mit dem angeblichen Kampf für Multipolarität, völkische Selbstbestimmung, den eigenen Großraum und gegen universelle Rechte, deren Vertretern im Westen antichristliche Einheitsgelüste und verdeckte Bündnisse mit satanischen Kräften unterstellt werden. In Anlehnung an Schmitts Antichrist-Verschwörungstheorie heißt die Internet-Plattform Dugins „Katehon“. Dort schreibt Dugin am 30.01.2023 über die liberale westliche Politik als „Teufel, der die Menschheit auf den breiten Pfad der Verdammnis führt“. In seinen Schriften bietet er ein buntes Potpourri aus Antichrist-Verschwörungstheorie und scheinrealistischem Aufruf zum militanten Kampf für eine multipolare Weltordnung.  In „Die Vierte Politische Theorie“ (2013) bezeichnet Dugin die Globalisierung als „Reich des Antichrist“. 2021 schreibt er ein Buch über „Das große Erwachen gegen den Great Reset“, in dem er die Attacke auf den Westen fordert („Wir müssen angreifen!“).

Die Verbindung von fundamentalreligiösem Verschwörungsglauben und Militanz sollte also eigentlich offensichtlich sein. Trotzdem wird allzu gerne ignoriert, dass sich auch Machthaber innerhalb der EU eine vergleichbare Rhetorik zu eigen machen. So dient beispielsweise George Soros als personifiziertes, auch bildlich als Teufel dargestelltes Feindbild auf Dugins Propagandakanal. Viktor Orbán verbreitet bekanntermaßen ganz ähnliche Erzählungen. Auf der rechtsradikalen CPAC-Konferenz in Dallas rief Orbán im August 2022 dazu auf, in den „Kulturkrieg“ gegen den „Woke Globalist Goliath“ zu ziehen. Soros hätte eine „Armee“ unter sich, zum Beispiel „die halbe Bürokratie in Brüssel“. Aber „Christus“ könne jeden „Feind“ besiegen. „So let’s go out and do it!“, ruft Orbán seinen Anhängern abschließend entgegen.

Bei der nächsten Anti-LGBT-Hetze gegen gleiche Individualrechte sollte man sich vergegenwärtigen, welches Programm dem zugrunde liegt. Bernard-Henri Lévy hat den prototalitären Verschwörungstheoretiker Alexander Dugin auf eine Ebene gelassen. Das war ein Fehler.

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Markus Linden

Markus Linden

außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier, zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Theorie und Empirie der Demokratie, Parteien- und Parteiensysteme, die Neue Rechte und Rechtspopulismus.

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