Eine halbe Million, vielleicht sogar mehr. 34 Jahre nach den ersten, halbfreien Parlamentswahlen in Polen, die anderen Ländern des Ostblocks einen Impuls gaben und beträchtlich zum Fall des Kommunismus und der Berliner Mauer beitrugen, geht der 4. Juni 2023 womöglich ebenfalls in die Geschichte ein.
War das nun eine erhebliche oder doch eher geringe Teilnehmerzahl? Denn noch vor einigen Wochen waren die Gemüter auf Seiten der Opposition einschließlich der Bürgerkoalition (KO) eher auf Moll gestimmt, und die meistgestellte Frage in den Foyers des Sejms war, ob zu dem von dem früheren Ministerpräsidenten Donald Tusk angekündigten Marsch wohl mehr oder weniger als 100.000 Menschen kommen würden. Falls diese Zahl nicht erreicht worden wäre, wäre das für Tusk eine spektakuläre Niederlage gewesen. 200.000 würde ein respektables Ergebnis sein, so wurde einen Monat vorher spekuliert. 300.000? Darauf zählten selbst die größten Optimisten kaum. Der von den Rechten und Nationalen veranstaltete „Marsch der Unabhängigkeit“ am polnischen Nationalfeiertag des 11. November zieht, je nach Jahr, 150–200.000 Teilnehmer an. Der Opposition war es selbst in den Jahren 2016 und 2017, während der Massenproteste gegen den Verfassungsbruch und die rechtsstaatliche Standards verletzenden Änderungen im Justizwesen nicht gelungen, eine ähnliche Mobilisierung zustande zu bringen.
Es ist jedoch einzuräumen, dass sich einen Monat lang wirklich viel in der polnischen Politik tat, und die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ trug selbst am meisten zum Erfolg von Donald Tusk bei. Die Verabschiedung der sogenannten Lex Tusk, auch genannt das Gesetz, „um Tusk dranzukriegen“, die vorsieht, eine Sonderkommission zur Untersuchung russischer Einflussnahme in Polen einzurichten, und die im Schnellverfahren von Präsident Andrzej Duda unterschrieben wurde, war ein Kübel Eiswasser auf die in interne Streitereien verstrickte Opposition. Von den linken Parteien bis hin zu der konservativen Bauernpartei kamen Politiker, denen noch vor gar nicht langer Zeit absolut nicht der Sinn nach einem gemeinsamen Marsch stand, zu der Erkenntnis – wir müssen hingehen.
Einziges Ziel der Lex Tusk ist unverändert, die politische Laufbahn des vormaligen Ministerpräsidenten und Präsidenten des Europäischen Rates zu beenden, insbesondere für den Fall, dass die gegenwärtige Opposition die Wahlen gewinnen sollte; doch legte das Gesetz ohne jede Übertreibung vorläufig nur die Zündschnur an das Pulverfass der öffentlichen Empörung. Die in Apathie erstarrten Anhänger der Opposition, wenig überzeugt, die PiS-Partei könne im Herbst überhaupt die Wahlen verlieren, begriffen plötzlich, dass es nicht darum geht, ob sie verlieren kann, sondern darum, ob sich nicht verlieren kann. Anders gesagt, dass sie schlechterdings verlieren muss.
Es gibt diesen polnischen Spruch, wen Gott bestrafen will, dem nimmt er den Verstand. Wenn das wahr wäre, hätte „Recht und Gerechtigkeit“ allen Grund zur Sorge, denn in geschlossener Front verhielt sich die Partei vor und nach dem Marsch, als habe sie nicht nur ihren restlichen Verstand verloren, sondern gleich auch noch ihren Selbsterhaltungstrieb.
Der Fisch stinkt vom Kopf: Andrzej Duda, der den Wahnsinn der Lex Tusk hätte stoppen und dagegen sein Veto einlegen können, womit sehr viele politische Beobachter rechneten, entschied sich für eine halbherzige Maßnahme: er unterschrieb und wies das Gesetz an den Verfassungsgerichtshof weiter, der nach sieben Jahren vollständiger Kontrolle durch PiS von inneren Konflikten komplett gelähmt ist. Der völlig illegitime, da mit gesetzwidrig berufenen Richtern besetzte Verfassungsgerichtshof verhinderte jedoch nicht, dass das Gesetz in Kraft tritt. Der Präsident musste wissen, dass er die Europäische Union provozierte, aber das hat ihn immer schon kaltgelassen. Doch woran Andrzej Duda wirklich gelegen ist, das sind korrekte, ja mustergültige Beziehungen mit Washington; aber er zog offenbar nicht in Betracht, dass der jetzige Amtsinhaber im Weißen Haus in Fragen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausgesprochen feinfühlig ist. Die Reaktion der USA musste für den polnischen Präsidenten recht heikel sein, denn schon wenige Stunden, nachdem er seine Unterschrift unter die Lex Tusk gesetzt hatte, legte er dem Sejm seinen Entwurf zu deren Novellierung vor. Wieso hat Duda sein und Polens gerade jetzt, in Zeiten des Ukrainekriegs, so besonders zentrales Verhältnis mit dem wichtigsten Alliierten in die Waagschale geworfen? Die Antwort ist einfach: Während den Präsidenten und das Regierungslager (die Vereinigte Rechte, Recht und Gerechtigkeit und vor allem den PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński) im Moment mehr trennt als verbindet, gibt es praktisch nur noch einen Berührungspunkt zwischen dem Staatsoberhaupt und Kaczyński, eben Donald Tusk, genauer gesagt ihre gemeinsame Abneigung gegen ihn, um nicht zu sagen ihren Hass, der sie jeden Realitätssinnes beraubt.
Das Führungspersonal von PiS hat sich natürlich nicht gerade mit Ruhm bedeckt, als es direkt vor dem Marsch vom 4. Juni einen TV-Spot präsentierte, der den Leuten die Motivation zur Teilnahme nehmen, ja ihnen die Teilnahme widerwärtig machen sollte; zu diesem Zweck setzten sie Bilder aus Auschwitz ein. Die zu allem Überfluss auch noch gestohlen waren, weil die Urheber nicht ihr Einverständnis gegeben hatten, aber das ist noch das geringste Problem. Der Schuss ging nach hinten los. In den allgemeinen und übrigens berechtigten Protesten ging jedoch das Eigentliche unter. In der Annahme, die Ideengeber hatten nicht wirklich den letzten Rest ihres Realitätssinnes eingebüßt, lässt sich ihre Vorgehensweise nur auf eine Art interpretieren: schon seit langer Zeit versucht PiS, Tusk als einen Politiker abzustempeln, der sich einerseits den Deutschen, andererseits Russland anerbietig macht. Auf diesen beiden Instrumenten polnischer Ressentiments zu spielen, war bisher einigermaßen erfolgreich, somit hat wohl jemand, fragt sich, auf welcher Führungsebene, entschieden, den Einsatz zu erhöhen. Dass es sich hier nicht um bloßes Wortgeklingel handelt, zeigen öffentliche Äußerungen aus den Reihen von PiS („Tusk – ein Politiker mit Nazigesicht“). Bislang kommen sie zwar noch nicht von der ersten Garde, doch ist das alles kein Zufall, jemand muss grünes Licht dafür gegeben haben.
„Kompletter Reinfall bei den Teilnehmerzahlen,“ twitterte Joanna Lichocka, prominente Sejmabgeordnete der PiS-Partei, als die Masse einer halben Million Demonstranten unter weißroten und EU-Fahnen durch Warschau defilierte, womit Lichocka den Beweis lieferte, dass Abgeordnetenimmunität nicht vor Realitätsverlust schützt. Dieser Kommentar war kein Einzelfall und nichtmals der absurdeste. Am Tag des Marschs benahmen sich die PiS-Politiker wie ein Boxer, der unter dem Hagel der Schläge schwankt. Dieser Eindruck bliebt an den Folgetagen bestehen und wurde von dem Gestammel der Massenmedienfunktionäre, die kaum noch den Namen Journalisten verdienen, noch bestärkt, als sie von hunderttausenden Warschauern faselten, die einen Spaziergang in den Zoo gemacht hätten (der sich auf dem anderen Weichselufer befindet) oder unterwegs gewesen seien, um sich Zuckerwatte zu kaufen.
Gab es einen Knockout? Nein. Weder der Marsch vom 4. Juni noch der bisherige Verlauf des Wahlkampfes liefern eine Vorentscheidung, dass PiS mit Sicherheit verlieren werde oder die Opposition zum Erfolg verurteilt sei. Es steht aber außer Frage, dass der Sieg der Kaczyński-Partei nicht sicher ist und die Opposition gewinnen kann. Doch die Bedingungen sind hart: die führenden Köpfe der Opposition dürfen sich keine wesentlichen, oder eigentlich überhaupt keine Fehler erlauben, während Jarosław Kaczyński tief in die Kiste der größten Wahlkampffehler greifen muss, die ein Parteichef nur begehen kann. Und munter weitere Fehler begehen muss.
Denn es ist kaum zu übersehen, dass bereits viele Fehler gemacht wurden. Die PiS-Partei hoffte, die im Mai verkündete Neuauflage ihres sozialpolitischen Standardprogramms 500+, also die monatliche Quote für jedes Kind, und die Anhebung der Quote ab Januar 2024, welche die Eltern erhalten, von 500 auf 800 Złoty, werde die Opposition in die Knie zwingen. Das ist jedoch nicht eingetreten, wobei keineswegs den Ausschlag gab, dass die Bürgerkoalition den Ball zurückgespielt und vorgeschlagen hat, die Quote unverzögert zu erhöhen. Als sich PiS 2015 um die Macht bewarb, waren 500 Złoty immerhin 28 Prozent des Mindestlohns. 2024 wird der Mindestlohn höchstwahrscheinlich 4200 Złoty betragen. Die Leistung für ein Kind wird demnach bei etwas über 18 Prozent dieses Betrags liegen. Um den Prozentsatz der Leistung am Mindesteinkommen zu erhalten, wäre eine Erhöhung auf 1200 Złoty nötig, was natürlich nicht möglich ist. Die zusätzlichen 300 Złoty gleichen nichtmals den Preisanstieg aus, insbesondere gemessen am Korb für Artikel des täglichen Bedarfs.
Ein offenkundiger Fehler ist es, mit der Europäischen Union weder in Sachen Rechtsstaatlichkeit noch bei den gegen Polen verhängten Strafzahlungen eine Einigung erzielen zu können, also auch nicht bei den Leistungen aus dem Landesaufbauplan. Die Regierung braucht einerseits dringend die EU-Transfers, andererseits tut sie alles, den Geldhahn völlig zuzudrehen, und die Verabschiedung der Lex Tusk ist nicht nur eine Kirsche, sondern eine Wassermelone auf der Torte der Streitfälle zwischen Warschau und Brüssel.
Natürlich erzielt PiS immer noch hohe Umfragewerte; teilweise liegt sie in Führung, teilweise liegt die Bürgerkoalition um ein Weniges vorn. Die Frage stellt sich, warum? Drei Jahre einer sehr hohen Inflation; enorm gestiegene, nicht von Lohnerhöhungen ausgeglichene Lebenshaltungskosten, weil die Löhne viel langsamer steigen als die Preise; peinliche und sehr beunruhigende Zwischenfälle in Sachen Landesverteidigung wie das „Verlieren“ einer russischen Rakete, die monatelang nach der Verletzung des polnischen Luftraums mitten im Land in den Wäldern zufällig entdeckt wurde; Nepotismus und Affären im Grenzbereich zwischen Politik und Wirtschaft, darunter die Besetzung von Stellen in staatseigenen Betrieben mit eigenen Leuten, meist Familienmitgliedern von Politikern des Regierungslagers; – die Litanei von Sachverhalten und Vorgängen, die sich eigentlich negativ in den Meinungsumfragen widerspiegeln sollten, ließe sich noch sehr lang fortsetzen. Wieso verliert PiS nicht an Zustimmung?
Natürlich verfügt die Partei über den harten Kern ihrer Wählerbasis. Dieser lag immer schon bei etwa dreißig Prozent der Wähler – und es ist nicht darauf zu hoffen, dass PiS in den kommenden Wahlen schlechter fahren wird, aber das Problem der Opposition liegt wohl nicht, wenn sie Wahlen gewinnen will, beim Ergebnis von PiS, sondern beim eigenen. Aus dieser Sicht gab der 4. Juni den Weg zum Erfolg vor. Geschlossenheit ist angesagt, kein Einzelgängertum. Eine klare Botschaft anstelle von endlosen Zerwürfnissen über programmatische Unterschiede. Ein starker Kopf an der Spitze anstelle von etlichen verstreuten Entscheidungszentren.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann