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Augen auf

„Endlich einmal eine gute Neuigkeit“, so kommentierte Francis Fukuyama den Ausgang der Parlamentswahlen in Polen. Und auch wenn es tatsächlich Grund für Optimismus gibt, sollten wir uns doch im Klaren darüber sein, dass nach acht Jahren des Aufbaus eines autokratischen Systems durch die von Jarosław Kaczyński geführte Partei es nicht so einfach sein wird, demokratische Standards wiederherzustellen.

Böse Überraschungen

Wir konnten das eigene Land nicht mehr wiedererkennen. Ein Vierteljahrhundert lang war Polen das Musterbeispiel der demokratischen Transformation, wir konnten zufrieden damit sein und den Nutzen daraus ziehen, zur westlichen Welt zu gehören. Als die von Jarosław Kaczyński geführte Koalition 2015 an die Macht kam, schien das anfangs noch kein großes Problem zu sein; denn, wenn die neuen Leute schlecht regieren sollten, so würden sie einfach bei den nächsten Wahlen hinweggefegt werden. Doch dann erwies sich mit jedem Jahr mehr, wie naiv wir gewesen waren. Oder hätte etwa vor zehn Jahren irgendjemand in Polen geglaubt, dass die Regierung einmal tief in den Hilfsfonds für Verbrechensopfer greifen würde, um mit dem Geld ein fortgeschrittenes Computerprogramm zu kaufen und es auch einzusetzen, aber zu dem Zweck, die Opposition zu überwachen? In einem normalen Land würde dergleichen zum Rücktritt der Regierung, zu einem politischen Erdbeben führen. Ganz im Gegenteil in Polen – die Regierung gewann 2019 die Wahlen, indem sie der Opposition in die Karten schaute und sich noch über diejenigen lustig machte, die Gegenstand der Überwachung waren und Gerechtigkeit verlangten.

Oder: hätte jemand vor 2015 wohl geglaubt, dass zugunsten von regierungsnahen Organisationen abseits jeder Kontrolle durch die Gesellschaft zig Millionen Złoty ausgegeben würden? Dass eine rechtsgerichtete Regierung zu verdächtigen und völlig obskuren Bedingungen eine moderne Raffinerie verkaufen und trotz beunruhigender Feststellungen von Journalisten die Staatsanwaltschaft keinen Finger rühren würde, ein Untersuchungsverfahren einzuleiten? Dass die Regierung den Bau eines Elektrizitätskraftwerks ankündigen, mit Investitionen beginnen und dann davon Abstand nehmen würde, nachdem bereits fast eine Milliarde Złoty dafür verschwendet wurden – und niemand sich deswegen auch nur ein graues Haar wachsen lässt?

Mit der Zeit häuften sich die bösen Überraschungen. Es sei die abenteuerliche Außenpolitik der Regierung genannt, die es unmöglich machte, selbst mit bewährten Freunden zusammenzuarbeiten, und die immer deutlicher darauf abzielte, unsere Verbindungen zur Europäischen Union zu kappen. Wirklich gefährlich wurde es schließlich, als Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, bekannt für seine Männerfreundschaft mit westlichen Politikern, die sich nicht schämten, mit Putin Geschäfte zu machen, es plötzlich wegen des Getreides zu einem Konflikt mit Kiew kommen ließ und daraufhin ankündigte, Polen werde der sich im Krieg befindlichen Ukraine keine Militärhilfe mehr zukommen lassen.

In Putins Stil

Vor allem jedoch wurden wir mit einer unvorstellbaren Menge an Lügen, Hassrede und Desinformation überschüttet, welche die Regierung als Instrumente der politischen Auseinandersetzung normalisierte. Immer wenn wir dachten, schlimmer kann es wirklich nicht mehr werden, kam sie mit etwas Neuem, das völlig unfassbar war. Es ist wirklich schwer abzuschätzen, was passieren kann, wenn das Staatsfernsehen Donald Tusk mit einer Zielscheibe auf der Brust zeigt. Es bringt dieses Bild immer wieder.

Wacław Radziwinowicz, langjähriger Korrespondent der „Gazeta Wyborcza“ in Moskau, erzählt, dass er, nachdem ihn 2016 die Russen ausgewiesen hatten, den Fernseher anstellte und im ersten Moment überzeugt war, er schaue eines von Putins Regierungsprogrammen. Es wollte ihm nur nicht eingehen, wieso die Leute im Fernsehen plötzlich alle polnisch sprachen.

Soweit die Erinnerung reicht, machte Jarosław Kaczyńskis Partei ihren Rivalen immer schon die übelsten Vorwürfe. Und leider gewann sie mit dieser Methode viele Anhänger, vor allem unter solchen Leuten, die sich irgendwie vom neuen Polen betrogen glaubten oder sich gar nostalgisch nach volkspolnischen Zeiten zurücksehnten. Kaczyński gab diesen Leuten das Gefühl, etwas wert zu sein, das patriotische Fundament zu bilden, während jene anderen Verräter waren.

Und davon gab es unzählige.

Lech Wałęsa. Ein polnischer Freiheitsheld? Gemäß Kaczyński und seinen Leuten ein kommunistischer Agent, der ständig am Tropf der volkspolnischen Regierung hing.

Der Runde Tisch. Die Verhandlungen zwischen der volkspolnischen Regierung und der Opposition, die den Weg zu demokratischen Veränderungen in Polen ebneten? Schlicht ein Verrat der Solidarność-Führung zum Zweck, den Kommunisten Privilegien und Besitzstand zu erhalten.

Die Katastrophe von Smolensk [das heißt der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine am 10. April 2010 mit Präsident Lech Kaczyński an Bord; A.d.Ü.]. Welche Katastrophe? Ein Anschlag Putins auf Jarosław Kaczyńskis Bruder und die Angehörigen der polnischen Eliten, die ihn begleiteten. Tusk musste dabei seine Finger im Spiel haben. Und wenn die Aufzeichnung der Blackbox keinen Zweifel ließ, dass es sich dennoch um ein Unglück gehandelt hatte, verursacht durch Pilotenfehler, dann war damit doch völlig klar, dass ein Verbrechen geschehen war, hinter dem die Russen steckten.

Donald Tusk. Selbstverständlich ein deutscher Agent, der seine Befehle aus Berlin erhält. Zum Lohn dafür wurde er Präsident des Europäischen Rates, eine Position, die er zwei Amtszeiten lang bekleidete. Dann kehrte er nach Polen zurück, um erneut deutsche Befehle auszuführen.

„Ganz Polen lacht über euch“, entfährt es Jarosław Kaczyński auf einer Wahlkundgebung.

„…Kommunisten und Diebe!“, führt jemand aus seiner Entourage zu Ende, und die Menge beginnt zu lachen und bricht in Beifallsstürme aus.

Ausverkauf der polnischen Interessen, Diebstahl, Verrat, das ist das Standardrepertoire an Vorwürfen, die Kaczyńskis Leute seit Jahren ihren wichtigsten Rivalen um die Ohren hauen. Kaum hatten sie 2015 die Regierung übernommen, wurden hunderte Staatsanwälte und Polizeibeamte darauf angesetzt, nach Beweisen gegen Tusk und seine Leute zu suchen. In den folgenden acht Jahren konnten sie nichts nachweisen. Die Riege um Kaczyński hindert das nicht daran, die Opposition weiterhin anzuschwärzen, und Kaczyńskis Anhänger glauben unvermindert an die Hasstiraden.

Als der Riese erwachte

Möglicherweise hinterließ den größten Eindruck auf uns, wie die Regierung auf den Marsch der Millionen Herzen reagierte, der zwei Wochen vor den für die Opposition siegreichen Parlamentswahlen stattfand. Es ist strittig, ob durch Warschaus Straßen bei der Gelegenheit nun 800.000 oder gar 1,2 Millionen Demonstranten zogen. Jedenfalls handelte es sich um die größte politische Kundgebung in der Geschichte Polens. Davon taten rekordverdächtige Zugriffe im Internet kund.

„Der Riese ist erwacht!“, stellte Donald Tusk mit freudiger Erleichterung fest.

Unterdessen war die Sprachregelung, wie sie in den von der Regierung kontrollierten Medien obligatorisch war, dass die Beteiligung war eine „Schlappe“ war, und die Zahl der Teilnehmer wurde auf 60.000 geschätzt. Diese Zahl hatte sich der Führer des Regierungslagers Jarosław Kaczyński höchstpersönlich aus dem Ärmel geschüttelt. Die Polizei behauptete anfangs, sie zähle schon lange nicht mehr die Teilnehmer von Demonstrationen, pflichtete aber schließlich bei: „Sechzigtausend.“ Selbst die kommunistische Propaganda während der Volksrepublik Polen war nicht derart unverfroren. Es roch stark nach der Realität, vor der Orwell gewarnt hatte.

Als wir noch nicht wussten, womit wir es wirklich zu tun hatten, beteiligten sich 2015 15,6 Millionen Polen an den Wahlen. Die Wahlbeteiligung lag bei nicht ganz 51 Prozent. Um die Mehrheit im Sejm zu übernehmen, reichten Kaczyński und seinen Leuten 5,711 Millionen Stimmen, was gerade einmal 37,58 Prozent der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen waren. Unter dem Label der Vereinigten Rechten präsentierten sie sich als die einzigen Verteidiger der Demokratie und der polnischen Interessen, was sie übrigens immer noch tun. Acht Jahre lang konnten sie ganz komfortabel regieren, weil seit Mai 2015 Andrzej Duda Präsident ist, ehemaliger Mitarbeiter und gelehriger Schüler Lech Kaczyńskis. Zudem vergewisserten sie sich der Unterstützung durch die polnische katholische Kirche, die immer größere Probleme hatte, sich in einer pluralistischen Gesellschaft zurechtzufinden. So wurde die Verteidigung der polnischen Tradition gegen den moralisch verfaulten Westen zur gemeinsamen Parole.

Bei den Parlamentswahlen von 2019 gewannen sie auch, und zwar mit einer größeren Mehrheit. Es stimmten 18,7 Millionen polnische Wahlberechtigte ab, davon stimmten nicht weniger als acht Millionen für PiS. Kaczyńskis Partei hatte ihre altbekannten Methoden noch um großzügige Geldgaben an Eltern mit Kindern und an Rentner ergänzt. Beide Gruppen verschreckte man mit der Behauptung, sie würden die Gratifikationen wieder verlieren, falls die Opposition erneut an die Regierung käme.

Es schien, als seien Kaczyński und seine Riege nicht zu schlagen.

Doch am 15. Oktober 2023 erreichte die Wahlbeteiligung mit 22 Millionen einen neuen Rekord. Kaczyńskis Lager behauptete seine starke Position, doch trotz aller Anstrengung und des Einsatzes von Staatsressourcen konnte es sie nicht ausbauen. Demgegenüber übertraf das gemeinsame Ergebnis der drei Gruppierungen der demokratischen Opposition mit insgesamt 11,6 Millionen Stimmen die kühnsten Erwartungen. Das sind beinahe vier Millionen mehr, als Kaczyńskis Leute einsammeln konnten.

Dieser Erfolg wäre ausgeblieben, wenn sich die Anhänger der Opposition nicht in ungeahnter Weise hätten mobilisieren lassen; das brachte die Wahlbeteiligung auf die Rekordhöhe von 74,38 Prozent. Dieses Resultat war maßgeblich Frauen und jungen Wählern im Alter von 18 bis 35 Jahren zu verdanken. Junge Polen fühlen sich in ihrer überwältigenden Mehrheit dem Westen verbunden, engagieren sich aber generell nur ungern politisch – bei den Wahlen vor vier Jahren waren sie fortgeblieben. Diesmal jedoch kamen sie, sie wollten nicht weiter passiv dabei zusehen, wie Polen vom Weg abkommt, den es nach dem Fall des Kommunismus eingeschlagen hatte. Dieser Sieg ist übrigens auch ein persönlicher Erfolg Donald Tusks, der ungeachtet der ihm entgegenschlagenden ungeheuerlichen Hasswelle regelmäßig an Begegnungen mit Wählern im ganzen Land teilnahm. Er fuhr insbesondere in die Klein‑ und Mittelstädte, dorthin, wo Kaczyński seine Bastionen hatte. Tusk vollbrachte eine kolossale Leistung, mit der er die Wähler überzeugte, dass das Vertrauen in ihn gerechtfertigt sei.

Dort ist das Ende der Warteschlange

Ohne dritte Amtszeit kann Kaczyński die Diktatur nicht einführen, von der er nach dem Vorbild Viktor Orbáns träumte. Zur Stabilisierung seines Machtsystems fehlte noch, die freien Medien zu unterwerfen, die Unabhängigkeit der Lokalverwaltungen aufzuheben und die Überreste der richterlichen Unabhängigkeit zu zerstören.

Eine Szene war für diese Wahlen symbolisch. Jarosław Kaczyński ging in seinem Warschauer Wahllokal in eine Menschenmenge hinein, die geduldig auf ihre Stimmabgabe wartete. Er stellte sich jedoch nicht am Ende an, sondern drängte in Begleitung seiner hochgewachsenen Leibwächter sofort zum Tisch der Wahlkommission. Eine junge Frau stellte sich Kaczyński in den Weg und sagte, sie sei nicht damit einverstanden, dass er seine Stimme abgeben könne, ohne sich anzustellen. Ein Mann in einer rosafarbenen Bluse wies mit dem Daumen nach hinten, um zu zeigen, wo das Ende der Warteschlange war. Kaczyński fügte sich, sichtbar konsterniert. Der ganze Vorgang wurde von Fernsehkameras und Dutzenden Mobiltelefonen der Wähler aufgezeichnet, die zur Abstimmung gekommen waren.

Was weiter? Es ist durchaus nicht sicher, ob sich der Führer des Regierungslagers mit der Niederlage abfinden wird. Dieser 74-jährige hat weder Familie noch Privatleben, seine größte und eigentlich einzige Leidenschaft war immer schon, sich auf den Gipfeln der Macht zu bewegen.

„Ich wollte schon regieren, als ich erst zwölf Jahre alt war. Ich hatte vor, Ministerpräsident zu werden, als ich 34 war, und mit 91 Jahren aus der Regierung auszuscheiden. Das wäre im Jahr 2040. Bis dahin ist noch schrecklich viel Zeit“, hatte Jarosław Kaczyński einmal in einem Interview vor gut zehn Jahren gesagt.

Er weiß genau – gibt er jetzt die Macht aus der Hand, wird er sie wahrscheinlich nicht mehr zurückgewinnen, und sei es nur mit Blick auf sein Alter. Er ist umgeben von Mitarbeitern, die sich zurecht fürchten, dass die Opposition sie in Kürze wegen ihrer Amtsmissbräuche zur Verantwortung ziehen wird. Auch Jarosław Kaczyński selbst muss damit rechnen. Wenn er also keinen anderen Ausweg haben sollte, wird er die Macht abgeben, aber so spät wie überhaupt möglich, und er wird alles unternehmen, der neuen Koalition das Regieren so schwierig wie möglich zu machen.

In den polnischen Medien sind bereits erste Meldungen über einen angeblich geplanten Ausnahmezustand aufgetaucht, samt Dislozierung der Armee in den Straßen, um die rechte Regierung an der Macht zu erhalten. Glücklicherweise sind die internationalen Bedingungen für einen solchen Staatsstreich ungünstig – insbesondere der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, auf deren Seite Polen zu einem wichtigen Frontstaat geworden ist. Kaczyńskis Lager liebt es, seine Missachtung der demokratischen Werte der Europäischen Union zu bekunden, doch muss es die Stimme der Vereinigten Staaten in Rechnung stellen. Das Weiße Haus gratulierte über eine Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrats der USA der polnischen Nation zu der Wahlbeteiligung in Rekordhöhe, was „eine starke Widerspiegelung des demokratischen Willens“ sei, und erklärte, es freue sich „auf die Zusammenarbeit mit der nächsten Regierung Polens, um die Stärkung der engen Beziehungen zwischen unseren Nationen fortzusetzen“.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Roman Daszczyński

Roman Daszczyński

Journalist, Reporter und Kommentator, seit vielen Jahren bei der "Gazeta Wyborcza". Dreimaliger Gewinner des prestigeträchtigen landesweiten Grand-Press-Preises. Seit 2015 Chefredakteur des Portals gdansk.pl, des offiziellen Portals der Stadt Danzig.

Ein Gedanke zu „Augen auf“

  1. Es dürfte ein gutes Zeichen sein, wenn Donald Tusk die Geschicke wieder in die Hand nimmt, nicht nur für sein Land Polen, sondern darüber hinaus. Auch in der Europäischen Union hat er eine gute Figur gemacht.
    Festzustellen ist, dass Polen einen Nationalstolz haben und auch öffentlich zeigen. Für mich ansprechend!
    Bei Jaroslaw Kaczinski hakte es in der deutsch-polnischen Verständigung, doch hat sie sich auch ohne ihn ausgeweitet und ist gut gediehen, u. a. auf der Grundlage der beharrlichen und umsichtigen Arbeit der Deutsch-Polnischen und Polnisch-Deutschen Gesellschaften. Ausbaufähig ist dieses Bestreben dennoch.

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