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Die polnische Demokratie in der Vorerntezeit

34 Prozent für Recht und Gerechtigkeit (PiS), fast vier Prozent weniger für die Bürgerkoalition (KO), ein durchschnittliches Ergebnis für den Dritten Weg, also das Bündnis aus Volkspartei und Konservativen innerhalb der aktuellen Regierungskoalition, genannt die „Koalition des 15. Oktober“, und ein sehr schwaches Ergebnis für die Neue Linke. Nach den Lokal‑ und Regionalwahlen ist in der Koalition deutliche Enttäuschung zu spüren, vielleicht sogar Frustration. Doch ist das begründet?

Am 7. April 2024 wählten die Polen ihre Vertreter zu den Wojewodschaften, Kreisen und Gemeinden. Diese Wahlen zu den Räten dreier Ebenen der Selbstverwaltung, verbunden mit den Direktwahlen der Gemeindevorsteher, Bürgermeister und Stadtpräsidenten sind ziemlich kompliziert, und noch komplizierter ist es, genaue Angaben zu den Ergebnissen zu machen. Die am häufigsten herangezogenen Resultate, nämlich die der Wojewodschaftssejmiki, gelten als diejenigen mit der stärksten politischen Aussagekraft und damit am ehesten mit dem Ausgang der Parlamentswahlen vergleichbar. Hier, so lässt sich sagen, gab es keine großen Überraschungen: Der Frühling bestätigte, was Polen schon im Herbst gewusst hatte. Die von Jarosław Kaczyński geführte Partei hält sich bestens, ist aber nicht in der Lage, eine Koalition zu bilden und hat damit keine Chance auf die Regierungsbeteiligung. Das entscheidet übrigens darüber, wer die Macht in den Sejmiki wirklich übernehmen wird: die siegreiche PiS-Partei kann nur dort die Regierung übernehmen, wo sie eine absolute Mehrheit erzielt hat. Verglichen mit den Wahlen von 2018 wird sie einige Wojewodschaften verlieren. In den Städten hat PiS nicht nur eine Niederlage erlitten, sondern geradezu einen katastrophalen Einbruch, während die Partei jedoch bei einer um etwa zwanzig Prozent niedrigeren Wahlbeteiligung auf dem flachen Land dazugewonnen hat.

Die Ergebnisse sind nicht eindeutig, was es im Grunde jeder Partei mit Ausnahme der klar abgestraften Linken erlaubt, von einem Erfolg zu sprechen. Es erschwert aber auch, eine klare Führungsposition zu bestimmen. Die in Meinungsumfragen befragten Polen verweisen eher auf den Erfolg der Bürgerkoalition, wobei sie sich am Wahlergebnis in dem Sinne orientieren, dass sie von der realen Möglichkeit zur Regierungsausübung ausgehen. An zweiter Stelle nennen sie PiS als die stärkste Partei bei den Wahlen zu den Sejmiki. Beim dritten Platz lautet die Antwort: Niemand.

Zahlreiche Kommentatoren sind der Meinung, der erste Platz von PiS sei für die KO eine Niederlage, die hätte vermieden werden können. „Hätte Donald Tusk doch nicht nur ein Wahlbündniss mit der Linken bei den Wojewodschaftswahlen abgelehnt“, lauten einige nicht ganz beim Thema bleibende Kommentare. Andere meinen dagegen, die Bürgerkoalition habe zwar eine leichte Verschiebung nach links vorgenommen, doch akzeptiere ihre Wählerschaft viele Führungskräfte der Linken nicht. Zumindest nicht in dem Maße, dass sie für eine gemeinsame Wahlliste von KO und Neuer Linken stimmen würden. Mancher Kommentator lamentiert zudem über die moralische Beschaffenheit des polnischen Wählers, der nach drei vollen Monaten von Enthüllungen über die Verschwendungssucht der Vorgängerregierung oder über die Einspannung der Nachrichtendienste für politische Zwecke immer noch für Recht und Gerechtigkeit zu stimmen willens ist.

Hat Donald Tusk einen Fehler gemacht, als er beschloss, die KO bei den Wahlen im Alleingang antreten zu lassen, und ist für jeden dritten polnischen Wähler der offene Rechtsbruch durch die PiS-Partei so ohne jede Bedeutung, dass er dieser immer noch seine Stimme gibt? Befindet sich die polnische Demokratie, die noch im Oktober vergangenen Jahres Europa mit einer bei fast 75 Prozent liegenden, rekordverdächtigen Wahlbeteiligung als mustergültig vorgehalten wurde, in der Krise oder auf dem Rückzug?

Die Saure-Gurken-Zeit. Der bereits nur noch im historischen Gedächtnis der älteren Generationen existierende Jahresabschnitt vor dem Ende des Winters, als auf dem Dorf allmählich die Lebensmittelvorräte des Vorjahrs zu Ende gingen, bevor die Wiesen wieder grün wurden und die ersten Feldfrüchte des Frühjahrs eingefahren werden konnten: ein Synonym der Not und wenn nicht des Hungers, so doch jedenfalls einer Zeit, in der sich die Leute nie richtig satt essen konnten. Es braucht nur wenig Fantasie, um zu erkennen, wie sich die demokratische Seite der polnischen Politik einschließlich ihrer Wähler in einem solchen misslichen, aber doch völlig erwartbaren Augenblick wiederfindet. Die Vorräte an Begeisterung aus den ersten Wochen nach dem 15. Oktober sind erschöpft. Zu Ende ist die goldene Zeit des „Sejmflix“, die Parlamentssitzungen werden (vielleicht zum Glück) nicht länger von hunderttausenden Anhängern der neuen Regierung angeschaut. Zu Ende ist wahrscheinlich auch die goldene Zeit von Sejmmarschall Szymon Hołownia, der noch im Januar als siegesgewisser Kandidat für die Präsidentschaftswahlen galt, während neuerdings die Umfragen zeigen, dass er nichtmals mehr sicher sein kann, für eine zweite Amtszeit wiedergewählt zu werden.

Das Strohfeuer der ersten Begeisterung über den Regierungswechsel ist schlichtweg abgebrannt, während die Gesellschaft weiter auf wirkliche Veränderungen warten muss. Daher brauchte es kaum einen Tag nach Veröffentlichung der amtlichen Endergebnisse, bis der Ministerpräsident seine Kabinettsmitglieder einbestellte, um sie zu befragen, wieso es denn bislang eigentlich noch keine Veränderungen gegeben hat. Wem nach den ersten einhundert Tagen nach dem Regierungswechsel die Medien vorwarfen, praktisch nur die Politik der Vorgängerregierung fortzusetzen, der bekam besonders den Zorn des Regierungschefs zu spüren. Denn in der Regierungskoalition des 15. Oktober gibt es Ressorts, in denen es nicht an Änderungsankündigungen mangelt. Allen voran gilt das für Justizminister Adam Bodnar, von dessen Entschlossenheit es nicht nur abhängt, dass das Land zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt, sondern auch und damit aufs engste verbunden, dass die europäischen Transferleistungen wieder regelmäßig fließen, etwa diejenigen aus dem Landeswiederaufbauprogramm. Aber es gibt auch Minister, die es mit der Umsetzung der Wahlkampfversprechungen gar nicht eilig haben oder geradezu nach einer Rechtfertigung dafür suchen, zum Beispiel in den mit der EU ausgehandelten Meilensteinen des Landeswiederaufbauprogramms, um Entscheidungen auf den Weg zu bringen, die in den letzten vier Jahren getroffen wurden, gegebenenfalls mit einigen wenigen kosmetischen Korrekturen.

Die Geduld der Wähler der demokratischen Parteien, bereits auf eine schwere Probe gestellt, ist endgültig erschöpft. Von den Parlamentswahlen bis zu den Lokalwahlen verging ein knappes halbes Jahr. Nur die politisch Interessiertesten haben noch in Erinnerung, dass in einem Drittel dieser Zeit immer noch Recht und Gerechtigkeit regierte, dank der wohlwollenden Unterstützung von Seiten des Präsidenten Andrzej Duda. Dagegen haben die langwierigen, in manchen Ministerien bis Mitte Januar ungelösten Personalfragen bei den Ressortleitungen auch nicht gerade mehr Dynamik in die Entscheidungsprozesse gebracht. Das ist keine Rechtfertigung, aber doch eine Erklärung.

Vor allem unter jungen Wählern (und insbesondere Wählerinnen) ist das Verständnis an sein Ende gelangt. Die Koalition des 15. Oktober scheint nicht zu verstehen, und dies gilt insbesondere für den Dritten Weg, also das aus Polnischer Volkspartei und Polska 2050 gebildete Bündnis, dass sie die Chance, Sejmmarschallsämter und Ministerposten zu besetzen oder einen Großteil der parlamentarischen Ausschüsse zu leiten, den tausenden, zehntausenden, vielleicht hunderttausenden jungen Leuten verdankt, die entweder erstmals in ihrem Leben wählen durften oder zuvor nicht an den Wahlen teilgenommen hatten, weil sie keinen Sinn darin sahen. Im Herbst standen auch sie in den langen Schlangen vor den Wahllokalen, und manche von ihnen ausschließlich deshalb, weil die Politik noch nie zuvor den Versuch gemacht hatte, ihnen und anderen derart einschneidende Entscheidungen zu ihrem Intimleben zu oktroyieren. Ja, Recht und Gerechtigkeit hatte, wenn auch verspätet, begriffen, dass es ein Kardinalfehler war, die Verschärfung des Abtreibungsrechts zu beschließen, sei dies in Form der während der ersten Legislaturperiode geplanten Gesetzesänderungen, sei es in Form des Urteils von Julia Przyłębska, der Vorsitzenden des von PiS völlig umgebauten Verfassungsgerichts, ein Fehler, für den die Partei mit dem Verlust der Regierungsmehrheit bezahlen würde. Die Parteien der neuen Koalition versprachen den Bürgern, das Abtreibungsrecht zu mildern: die Bürgerkoalition und die Linke, den Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche zu legalisieren, der Dritte Weg, zum „Abtreibungskompromiss“ zurückzukehren, der seit 1997 bis zum Urteil des Neo-Verfassungsgerichts galt, nämlich die Abtreibung in Fällen, in denen die Schwangerschaft die Folge einer Straftat ist, Leben oder Gesundheit der Mutter bedroht ist oder eine schwere Schädigung des Embryos oder Fötus festgestellt wurde, wieder legal zu machen. Die letztere Bedingung wurde vom Neo-Verfassungsgericht als unvereinbar mit der Verfassung eingestuft.

Die Abtreibung spaltet die Gesellschaft, doch eine einfache Mehrheit von etwa vierzig Prozent will die Legalisierung. Der polnische Sejm ist sehr viel konservativer als die Gesellschaft, das Sagen jedoch haben die Politiker, und das ist eine Tatsache, keine Meinung. Als der Sejm Anfang April, gleich nach den Lokalwahlen, über vier parlamentarische Gesetzesentwürfe zur Abtreibung beriet, zeigten die viele Stunden anhaltende Debatte und vor allem die Abstimmung, wie tief nicht nur bei den oppositionellen Abgeordneten die Vorstellung verwurzelt ist, sich als Moralwächter von Polinnen (und Polen) gerieren zu müssen. Schließlich wurden alle Entwürfe, davon zwei der Linken und je einer der Bürgerkoalition und des Dritten Wegs, an einen eigens dazu eingerichteten Sonderausschuss weitergeleitet. Aber dessen Zusammensetzung und die Stimmverteilung lassen erwarten, dass vorerst keine Chancen auf mehr bestehen, als zu dem bereits unpopulären Abtreibungskompromiss zurückzukehren. Es ist wohl eine der wichtigsten Aufgaben der Chefs der Koalition des 15. Oktober, einen neuen Kompromiss zu erarbeiten, der sich an einen der Entwürfe der Linken anlehnen könnte, die Abtreibung zu entkriminalisieren und nicht länger zu bestrafen. Sie bleibt weiter verboten, doch nicht nur die Frau (wie dies heute zutrifft), sondern auch die an dem Eingriff beteiligten Personen würden nicht weiter strafrechtlich verfolgt.

Bei den Demokraten herrscht Leere im Speicher, woher also die Energie für die weitere Arbeit beziehen? Aus der Hoffnung, dass nach der Saure-Gurken-Zeit, nach den grauen, hungrigen Wochen bessere Zeiten kommen würden, und wenn man nur eine genügend große Anstrengung unternehme, werde die Ernte reich ausfallen oder zumindest zufriedenstellend. Am Horizont zeichnen sich bereits die Zahlen für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr ab. Zwar sind zuvor in diesem Sommer noch die Wahlen zum Europäischen Parlament, aber diese sind für die polnische Politik nicht so wichtig, ihr Ergebnis hängt von vielen Variablen wie der Wahlbeteiligung, der Auswahl der Kandidaten und dem jeweiligen Wahlkampf ab, und sie fallen entschieden weniger ins Gewicht als andere Wahlen.

Politische Beobachter und Kommentatoren überlegen unterdessen, welche Strategie Donald Tusk eigentlich verfolgt. Oder volkstümlich gesagt, welches Spiel er spielt. Anscheinend spielt das unbestrittene Haupt der demokratischen Koalition innenpolitisch eine Runde Simultanschach auf mehreren Brettern. Ein Spiel mit Präsident Andrzej Duda, eines mit Recht und Gerechtigkeit, eines mit seinen eigenen Koalitionären… Vielleicht hat Tusk erstmals seit vielen, vielen Jahren, eigentlich seit er politisch tätig ist, es nicht nur mit Rivalen aus seiner eigenen Partei zu tun, und das nicht nur, weil er diejenigen, welche die Herausforderung anzunehmen wagten, schon vor vielen Jahren geschlagen hat. Was er an Zügen auf allen Schachbrettern macht, das dient alles schon den Wahlen von 2025. Was werden seine Züge für Konsequenzen haben, auch wenn kaum bereits bekannt sein kann, ob sie auch in mehr als einem Jahr noch werden Wirkung zeigen können? Offensichtlich zeigen die Schwächung Szymon Hołownias und der spektakuläre Sieg Rafał Trzaskowskis bei der Warschauer Stadtpräsidentenwahl, wieviel passieren kann. (Trzaskowski musste als Amtsinhaber nicht nur gegen den PiS-Kandidaten antreten, sondern auch gegen eine Linken-Politikerin, die mehr als zwölf Prozent gewann, und trotzdem siegte er bereits im ersten Wahlgang mit Abstand.)

Wovon in den Couloirs des Parlaments viel die Rede ist – auch Donald Tusk könnte es passieren. Im nächsten Jahr sind es zwanzig Jahre her, seit Tusk bei den Präsidentschaftswahlen unterlag, die Lech Kaczyński gewann. Damals spalteten die Wahlen Polen zwischen PiS und Bürgerplattform (PO) in zwei Hälften. Die Parteien, die einander so nahestanden, dass sich die Bildung einer Regierungskoalition geradezu aufdrängte, trennte ein politischer Marianengraben, der sich Jahr für Jahr und mit jeder Legislaturperiode noch weiter vertiefte. Dieses Duopol wurde nicht durchbrochen, mehr noch, dem Anschein nach besteht keine Chance, es zu schwächen. Nach seiner Niederlage hat Tusk viele Jahre die Bedeutung der Präsidentschaftswahlen heruntergespielt. Von ihm stammt das sarkastische Bonmot, die Pflichten des Staatsoberhaupts bestünden einzig darin, auf den Kronleuchter im Präsidentenpalais aufzupassen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Der Vorsitzende der Bürgerkoalition hat das innenpolitische Hinterzimmer schon lange verlassen und blickt auf viele Dinge von internationaler Warte, auch auf das Präsidentenpalais. Wie er selbst in einem aufsehenerregenden Interview für mehrere europäische Nachrichtenorgane feststellte, sei die Nachkriegszeit in Europa zu Ende und wir befänden uns jetzt in der Vorkriegszeit. Das ist ein Schachbrett, an das keiner der demokratischen Politiker heranzutreten gezwungen sein möchte.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Małgorzata Solecka

Małgorzata Solecka

Małgorzata Solecka, Journalistin beim Internetportal Medycyna Praktyczna (Praktische Medizin) und der Monatszeitschrift„Służba Zdrowia“ (Gesundheitsdienst), 1998 bis 2007 Journalistin und Redakteurin bei der Tageszeitung „Rzeczpospolita“, arbeitete auch für „Życie“ (Leben), die Polnische Presseagentur (PAP) und die Wochenzeitschrift „Newsweek Polska“.

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