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Polen in neuem Gewande

Bietet die Regierungsübernahme durch die Demokratische Opposition die Chance, der Politik in Polen eine neue Qualität zu geben? Die Bürgerkoalition (KO), der Dritte Weg und die Linke haben versprochen, die von PiS vorgenommenen verfassungswidrigen Änderungen rückgängig zu machen, werden die Parteien jedoch in der Lage sein, ein modernes Staatswesen in Übereinstimmung mit den Werten der Europäischen Union einzurichten? Und wenn ja, was können sie tun, damit nicht in vier oder acht Jahren erneut die finsteren Nationalisten an die Macht gelangen?

 

Ein frischer Wind geht durch den Sejm. Die Erschwernisse für Journalisten – aufgehoben. Die Barrieren vor dem Eingang entfernt, demokratische Standards bei Pressekonferenzen – die neue Regierung ignoriert die Medien nicht, sondern beantwortet tatsächlich Fragen, die gestellt werden. Nach acht Jahren des hochmütigen und arroganten Verhaltens der Vorgängerregierung hat die Hoffnung Einzug gehalten, dass es so bleiben wird, und von einer Rückkehr in die Vergangenheit kann keine Rede sein. Zu einer Zeit, in der acht Jahre lang das Gefühl von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und politischem Anstand verflogen war. Die Vereinigte Rechte tat und sagte, was sie wollte, und sie machte den Leuten Angst, sei sie nicht an der Macht, dann werde eine andere Regierung das Land zerstören. Diese werde das Kindergeld und die Rentenerhöhungen zurücknehmen und die Europäische Union frei schalten und walten lassen. Diese Lügen konnten nur die hartgesottenen Wähler der Vereinigten Rechten überzeugen. Der in sich höchst differenzierte Rest des Landes hat in langen Warteschlangen vor den Wahlurnen gesagt: Es reicht. Die wichtigste Aufgabe besteht in nächster Zeit darin, diese Frische und Hoffnung am Leben zu erhalten. Und das Vertrauen in die Politik zu bestärken, in das Versprechen, ein Land aufzubauen, das jeden willkommen heißt, der darin lebt. Polen hat sich neue Stiefel angezogen – mehr Freude daran, ein moderner Pole zu sein und ein Ende mit den in historischer Ohnmacht wurzelnden Ressentiments zu machen. Und Schluss mit den radikalen Auslegungen dessen, was das moralisch Richtige sei.

Die Passivitätsfalle vermeiden

Anna Siewierska-Chmaj, Politologie-Professorin an der Universität Rzeszów, zu deren Forschungsgebieten die Psychologie der Politik zählt, meint, die Regierung von Donald Tusk müsse alles tun, um die politische Kultur in Polen auf ein höheres Niveau zu heben: „Diese starke Wahlbeteiligung war nicht nur ein Signal, dass die polnische Gesellschaft die Vereinigte Rechte nicht mehr an der Regierung haben will, sondern dass sie auch den von dieser repräsentierten politischen Stil nicht akzeptiert. PiS wird alles tun, um der Koalition das Regieren schwer zu machen, aber auch, den Leuten die Politik als solche überdrüssig werden zu lassen. Denn eine passive Gesellschaft wirkt sich zugunsten der Rechten aus. Wenn wir in diese Falle tappen, wird sich das Gespenst des rechten Populismus erneut über Polen erheben.“

Nach Auffassung von Siewierska-Chmaj gehen die Erwartungen weit darüber hinaus, einfach nur die von PiS vorgenommenen Änderungen wieder rückgängig zu machen. Die Gesellschaft würde auf eine bloße Rückkehr zum Status quo ante mehr als enttäuscht reagieren. Daher sei es so wichtig, die liberale Demokratie abzusichern. So sei eine sehr deutliche Trennung von legislativer, exekutiver und judikativer Gewalt vorzunehmen. Es seien Mechanismen und Verfahren einzuführen, welche die Unabhängigkeit der wichtigsten Institutionen und Organe des Staats garantieren. Es sei die EU-Direktive zu den Whistleblowern umzusetzen. Und allem Anschein entgegen sei dies noch der leichtere Teil der bevorstehenden Arbeit: „Sehr viel schwieriger und komplexer wird es sein, die Rückstände beim Aufbau einer modernen Zivilgesellschaft wettzumachen“, ergänzt Siewierska-Chmaj. „Wenn wir nicht auf Bildung im weitesten Sinne setzen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Nationalismus, Autoritarismus oder auch ganz gewöhnlicher Obskurantismus wieder an die Tür klopfen. Polen muss ein wirklich säkularer Staat werden. Solange die katholische Kirche einen derart großen Einfluss auf die Politik hat, werden wir auf der Stelle treten – einen Schritt nach vorn, zwei Schritte zurück. Die Gesellschaft hat der Politik deutlich signalisiert, dass sie echte Veränderungen will und nicht nur Augenwischerei.“

Dr. Patryk Wawrzyński, Politologe an der Universität Stettin, stellt fest, bereits die ersten Tage von Szymon Hołownia als Sejmmarschall hätten gezeigt, er nehme sein Versprechen ernst, den Dialog über aggressives Parteiengezänk zu stellen. Und seine ersten symbolischen Maßnahmen zeigten, der Sejm werde nicht länger eine Abstimmungsmaschine der Regierung sein. Nach den acht Jahren des Machtmonopols von PiS sei es schon erfrischend, dass wieder gewisse Grundsätze der politischen Debatte beachtet werden. Endlich seien so alle Abgeordneten imstande zu spüren, dass sie über Möglichkeiten verfügen, ihre Wähler zu repräsentieren.

„Die Rückkehr zur Normalität ist nur der erste Schritt auf dem Weg zur Gesundung der politischen Debatte. Diese bedarf neben einer qualitätsvollen Arbeit des Parlaments des Schutzes der freien Medien sowie einer wirklichen Partizipation der Bürger an der Gesetzgebung“, erklärt Wawrzyński. „Bei der Freiheit der Medien haben wir zusehen müssen, wie die Standards zeitens der Regierung der von Jarosław Kaczyński geführten Partei dramatisch verfielen. Die demokratischen Parteien haben die schwierige Aufgabe, einen Wiederaufbau zu leisten, wobei Präsident Andrzej Dudas Loyalität gegenüber seiner Partei [PiS] und die zweifelhafte Autonomie des Verfassungsgerichtshofs sich als Hemmschuhe auswirken könnten. Höchstwahrscheinlich wird aus diesen Richtungen Widerstand kommen, so dass trotz des Wunsches nach Normalität die neue Regierung gezwungen sein wird, im ständigen Konfliktmodus und unter Bedingungen einer schwierigen Kohabitation zu funktionieren. Mit Blick auf die Entschlossenheit und die angriffslustigen Führungsqualitäten Tusks während des Wahlkampfs könnte das darauf hinauslaufen, dass bei einem Konflikt der Regierung mit dem Präsidenten sein Kommunikationsstil den Ansatz des Dritten Weges in der Koalitionspolitik beiseitedrängt. Umso mehr, als auch die Neue Linke ihre offenen Rechnungen mit dem Präsidenten und dem Verfassungsgerichtshof hat.“

Gefragt, ob die Bürgerkoalition, der Dritte Weg und die Linke lediglich die von PiS durchgeführten verfassungswidrigen Veränderungen rückgängig machen werden, oder ob sie fähig sein werden, in Anlehnung an die Werte der Europäischen Union einen modernen Staat aufzubauen, antwortet Wawrzyński: „Wenn die Frage lautete, ob sie es versuchen werden, wäre meine Antwort zweimal ja. Es ist zu erkennen, wie entschlossen die zukünftige Regierung ist, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Standards in Polen wieder herzustellen. Die KO wie auch die Linke haben in ihren Programmen die Forderung nach weiterer politischer Modernisierung und entschlossener Umsetzung europäischer Standards stark herausgestellt. Überdies hat der Dritte Weg eine größere Rolle der Bürger bei der Regierung und Verwaltung des Landes zur Grundlage seiner Forderungen gemacht, und alle Koalitionsparteien stimmen darin überein, die Lokalverwaltungen stärken und ihnen eine regierungsunabhängige Finanzierung zurückgeben zu wollen.“

Wawrzyński des Weiteren: „Die PO [Bürgerplattform, größte Partei der KO] und das PSL [Polnische Volkspartei, Bestandteil der Koalition „Dritter Weg“] sind Parteien, die sich auf eine starke Repräsentanz in den Lokalverwaltungen stützen, daher tun sie alles, damit der verheerende Zustand der Gemeindefinanzen, wie er auf die Veränderungen durch den Polnischen New Deal [offizielle Bezeichnung: Regierungsfonds Polnische Ordnung, Programm für strategische Investitionen; von der Regierung der Vereinigten Rechten aufgestelltes Programm zur Abmilderung der Covid-Folgen; A.d.Ü.] in sicheres Fahrwasser zurückgebracht wird, in dem er nicht mehr von leeren Versprechungen aus den Ministerien abhängt.“

Doch Absichten, aufrechter Wille und Engagement reichen unter Umständen nicht aus, um solche Änderungen auch umzusetzen. Anderthalb Jahre lang [d.h. bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen; A.d.Ü.] wird es darauf ankommen, ob die neue Regierung mit Duda zusammenarbeiten kann, und es ist schwer abzuschätzen, wie weit seine Loyalität gegenüber PiS reichen wird. Seit 2015 hat er sich als Rädchen im Räderwerk Kaczyńskis bewährt, hat aber auch eine gewisse Unabhängigkeit bei Auseinandersetzungen mit dem Justizminister [Zbigniew Ziobro von der rechtsextremen Partei Souveränes Polen; A.d.Ü.] unter Beweis gestellt und Polen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sehr gut repräsentiert. Jetzt muss er sich entscheiden, ob er gemeinsam mit der neuen Regierung an dem Wiederaufbau der polnischen Demokratie und der Position Polens in der Europäischen Gemeinschaft arbeitet, oder ob er ausschließlich darauf hinarbeiten will, nach 2025 die Führung der Rechten zu übernehmen.

Ein gewichtiger Faktor ist, dass die neue Regierungskoalition gegenwärtig geringe Chancen hat, ein Präsidentenveto zu überwinden [wozu eine qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln im Sejm benötigt wird; A.d.Ü.], und noch weniger stehen ihr Werkzeuge zur Verfügung, auf Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs einzuwirken. Darin bestehen die wesentlichen Ursachen der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit der Regierung Tusk.

Wie ist eine Gemeinschaft der Zuwendung aufzubauen?

Wawrzyński setzt seine Hoffnung darauf, den Nationalismus zu beerdigen, sodass dieser vielleicht nicht mehr mit derselben Stärke aufkommen wird wie zur Zeit von PiS, dass der Rechtspopulismus in eine heikle Phase eingetreten sei. Nationalismen würden vor allem durch Angst vor der Einwanderung aus dem Nahen Osten und Afrika angetrieben. Daher sei es notwendig, diese Probleme auf EU-Ebene anzugehen. Es werde eine aufrichtige Migrations‑ und Assimilationspolitik gebraucht, die gleichermaßen die Interessen und Bedürfnisse der europäischen Gesellschaften berücksichtigt und humanitäre Hilfe sowie den Schutz des Arbeitsmarktes vor den Folgen der Überalterung der europäischen Gesellschaften gewährleistet.

„Meine Untersuchungen zu den Reaktionen der Adressaten auf bestimmte politische Narrative, darunter, wie diese unser Gehirn umformen, zeigen, dass der beste Schutz gegen den radikalen Populismus ist, Narrative zu entwickeln, die Mitgefühl anstelle von Angst fördern. Die Ängste, die rechte Populisten für ihre Zwecke instrumentalisieren, nämlich Angst vor der Immigration, vor gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, vor Technologie und Wissenschaft oder vor einer instabilen Wirtschaft, können auf zwei Weisen reguliert werden. Die Populisten machen dazu aggressive Lösungsvorschläge: durch narzisstischen Stolz und die Verteidigung der „Unsrigen“ gegen die „Anderen“ gesteigerte Wut, was physische, symbolische und emotionale Gewalt auslösen kann. Wir können das in Mitteleuropa am Beispiel von sexuellen Minderheiten und Immigranten beobachten. Die Alternative besteht in der Umwandlung negativer Furcht in positive Zuwendung. Das kann geschehen, indem wir Mitgefühl als Emotion nutzen, die uns die Kontrolle zurückgewinnen lässt, indem wir für zentrale Werte eintreten und Menschen helfen.“

Die beste Art, die Gesellschaft gegen finsteren Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zu immunisieren, sei es, eine Gemeinschaft der Zuwendung, Unterstützung und des Engagements aufzubauen, in der Helfen und sich Einbringen Befriedigung verschaffen. Diese wiederum wirke gegen das Unbehagen, das uns unsere Ängste bereiten.

Das Forschungsteam um Wawrzyński konnte nachweisen, dass Mitgefühl und Zuwendung wirksame Mittel gegen aggressiven Radikalismus sind. Das gilt auch für Personen, die bereits extremen Ansichten verfallen sind. Wir müssen uns vom Modus tribalistischer Konflikte befreien und beginnen, an zivilgesellschaftlicher Kooperation zu arbeiten, bei der das Parteibuch weniger zählt als die Interessen von Menschen, die von dem gültigen Recht betroffen sind. Bei den obwaltenden tiefen Gräben ist es in Polen sehr schwierig, eine solche Richtung einzuschlagen. Doch ist das offenkundig sehr viel leichter zu erreichen, wenn die Demokratische Opposition an der Regierung ist, als unter einer Regierung der Vereinigten Rechten.

Dr. Hubert Stys, sicherheitspolitischer Experte an der Höheren Bankenschule (WSB) Merito in Thorn, ist dagegen der Auffassung, mit einer PiS-Fraktion von fast 200 Abgeordneten sei nicht mit einer neuen Qualität der Sejmdebatten zu rechnen. Jede erdenkliche Debatte werde weiterhin Gelegenheit bieten, auf die Regierungsmehrheit einzudreschen. Zudem besitze PiS ein starkes Mandat für ihre politische Partizipation, und Kaczyńskis Methoden seien immer noch nach dem Geschmack von Millionen von Wählern: „Dagegen werden die demokratischen Parteien ganz sicher vorführen wollen, wodurch sie sich von diesen Methoden unterscheiden: In der Art zu debattieren, zu diskutieren und zu argumentieren. Wenn sie Abstimmungen gewinnen, wird ihnen das helfen. Die Leute um Hołownia werden zeigen wollen, dass es nicht nur eine neue Partei, sondern eine neue Qualität gibt – für die Diskussionskultur und die Qualität der parlamentarischen Arbeit. Das wird ihre Methode sein, weiter ihre Wähler zu überzeugen, aber auch ein Versuch, faktisch ein neues oder zumindest ein anderes Polen zu schaffen. Es bleibt eine offene Frage, wie tief diese Veränderungen reichen werden. Inwieweit die Führung der Bürgerplattform, abgesehen von Revanche, die Schachpartie mit der Kirche und den eigenen Konservativen gewinnen wird. Andere Zweifel kommen mit Blick auf die Stabilität des Anti-PiS-Bündnisses auf; die Linke könnte eines Tages getrennte Wege von dem Mitte-Rechts-Bündnis gehen wollen.“

Nach Meinung von Stys hängt es von den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen ab, ob Polens Weg weg von den autoritären Instinkten und der Aushöhlung staatlicher Institutionen erfolgreich sein wird. Ob das neue Staatsoberhaupt es vermag, konsequent weiter den Weg weg vom „Kaczysmus“ [also eine von Jarosław Kaczyński abgeleitete politische Praxis und Ideologie; A.d.Ü.] zu gehen und bei einer möglichen Rückkehr von PiS an die Macht ein Sicherheitsventil zu bilden. Die letzten Jahre haben belegt, dass die Nationalpopulisten weiterhin über hohen Wählerzuspruch verfügen und nur eine außergewöhnlich starke Wählermobilisierung ihre Abwahl zustande gebracht hat. Die Demokratie ist daher nach wie vor in Gefahr, und einzig von der Mobilisierung der Wählerschaft, von der Wahlbeteiligung hängt es ab, ob der Erfolg des Jahres 2023 von Dauer sein wird.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Karina Obara

Karina Obara

Karina Obara ist Journalistin, Schriftstellerin, Dichterin, Essayistin und Malerin. Sie studierte Politikwissenschaften an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń und europäische Journalistik am College of Europe in Warschau.

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