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Polens Problem mit dem dritten Weg

Bei allen Wahlen seit 2005 haben sich in Polen Wahlbündnisse formiert, die sich als dritte Möglichkeit gegenüber der bestehenden Alternative Bürgerplattform (PO) versus „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) vorstellten. Vor einigen Jahren war das Janusz Palikot, dann die Partei Nowoczesna (Die Moderne, N), jetzt sind es Szymon Hołownias Polska 2050 und die Polnische Volkspartei (das PSL). Besitzen die beiden letztgenannten eine Chance, die PiS-Regierung zu beenden, oder spalten sie nur die Stimmen der Opposition?

Das Verlangen nach dem „Dritten Weg“ als Gegengewicht zu den beiden führenden polnischen Parteien ist bei politischen Beobachtern und Praktikern schon seit langem stark ausgeprägt. Erstere rufen in den Medien nach einer Revision der polnischen Politik seit 1989, wobei sie betonen, wie sehr sie des innerpolnischen Kriegs überdrüssig seien und die Sichtweise derjenigen anzuerkennen, die Verlierer der Transformation der 1990er Jahre waren. Die politischen Praktiker arbeiten von den Graswurzeln her in Stiftungen und gemeinnützigen Organisationen, um auf der Ebene der Lokalverwaltungen das Land zu verändern, die Frauen zu mobilisieren oder mehr zivilgesellschaftliche Gesinnung zu wecken. Die einen wie die anderen sind sich sicher, es gebe Veränderungen, doch seien sie langsam und ließen einige Regionen des Landes außen vor.

Am mühseligsten gestaltet sich die Änderung im Osten und in den kleinen Ortschaften. Fraglos haben es die meisten Polen satt, wenn ihnen der Staat vorschreiben will, wie sie zu leben haben oder welche Entscheidungen sie über ihre eigenen Körper treffen können. Auf diesem Gebiet sind insbesondere die Frauen Motor der Veränderung, aber es fällt ihnen schwer, für ihre Anliegen die Massen so zu begeistern, dass sie willens sind, sich für Wahlen zu engagieren, und die allein mit ihrem Protest und Widerstand PiS von der Macht zu drängen könnten. Todesfälle von jungen Frauen, denen wegen des verschärften Abtreibungsgesetzes nicht erlaubt wurde, bei einer lebensgefährlichen Komplikation eine Schwangerschaft abzubrechen, lösen zwar Entrüstungsstürme in den Medien aus, doch ist schwer zu sagen, ob sich an den Wahlen im Herbst mehr Frauen beteiligen werden als bei früheren Urnengängen, selbst wenn viele Frauen bekunden, der Spaß sei nun vorbei und sie hätten genug davon, auf diese Weise behandelt zu werden.

Kritiker der Heuchelei

„Es ist ein Skandal und wirft Polen ins Mittelalter zurück, wenn in den Krankenhäusern junge Frauen sterben, weil Ärzte Angst haben, ihre Schwangerschaft bei Gefahr für die werdende Mutter abzubrechen“, sagt Julia Kicińska, die Journalistik und Sozialkommunikation an der Nikolaus- Kopernikus-Universität Thorn studiert hat. Sie möchte selbst Kinder haben, fürchtet aber, Opfer der von der PiS-Regierung hergestellten Rechtslage werden zu können. „Ich werde gewiss gegen die Partei stimmen, aber ich weiß nicht, für wen ich stimmen soll, denn ich sehe keinen dritten Weg, dem ich vertrauen könnte. Also stimme ich eher für das geringere Übel. Ganz wie meine Kolleginnen. Hołownia steht der Kirche zu nahe, als dass er die Probleme der Frauen lösen könnte.“

Meinungsumfragen zeigen, dass das größte Problem politische Abstinenz sein könnte, obwohl zur Zeit der Gründung von Szymon Hołownias Polska 2050 (im Jahr 2020) es so schien, als ob das verbreitete politische Desinteresse beendet sein könnte. Hołownia war besonders in den sozialen Medien omnipräsent, mit deren Hilfe er jeden Tag Anhänger gewann, weil er mit seiner Botschaft der radikalen Veränderung überzeugte. Er erzielte aus dem Nichts eine ungeheure Reichweite, wobei er seine Erfahrung beim Fernsehen einsetzen konnte, er genoss die Unterstützung von Kollegen beim Fernsehkanal TVN und bei verschiedenen Radiosendern, die ihn gern als Gast in ihren politischen Sendungen sahen. Er war überzeugt, den der PiS-Regierung überdrüssigen Wählern ein besseres sozialpolitisches Programm anzubieten zu haben. Er erinnerte daran, dass PiS zweimal die Wahlen gewonnen hatte, indem die Partei die Menge der unzufriedenen Transformationsverlierer mobilisierte, nicht etwa, weil die Mehrheit der Polen der Vision eines monolithischen, EU-kritischen und kirchentreuen Landes zugestimmt hätten. Wie Hołownia herausstellt, will er Tradition und eine menschennahe Kirche, aber doch alles in rationalen Grenzen und ohne die verbreitete Heuchelei.

Jetzt gibt es einen Wähleranteil von ungefähr zehn Prozent, der bereit wäre, seine Stimme einer aus dem Zusammenschluss von Polska 2050 und dem PSL hervorgegangenen Partei zu geben; es handelt sich dabei um Menschen, die zwar einerseits traditionsbewusst und christlich-religiös sind, doch andererseits die radikale Regierungsweise von PiS, die falsche Moralität dieser Partei und ihre Streitereien mit der EU kritisieren. Sie sehen die früheren PO-Regierungen ebenso kritisch, weil diese sich nicht um die soziale Absicherung der Familien kümmerten, und sie wollen nicht, wie Hołownia es ausdrückt, in den Auseinandersetzungen zwischen zwei Parteien eingezwängt sein.

In der Auffassung des PSL-Vorsitzenden Władysław Kosiniak-Kamysz ist der „Dritte Weg“ die Wahl eines größeren Wohls, nicht des geringeren Übels, denn Polen bedürfe einer Wiedergeburt und Erneuerung. Wie sollen diese aussehen? Vor allem seien die Ausgaben für Bildung auf sechs Prozent des Bruttoinlandprodukts zu erhöhen. Der „Dritte Weg“ werde den Polen nicht nehmen, was ihnen PiS schon gegeben habe, sondern das auf durch Bildung auf europäischem Niveau unabhängig vom Wohnort für jedes Kind verstärken, versichert Hołownia. Allein, viele Eltern sehen nicht das Bildungsniveau als das Problem, sondern die Überfrachtung der Schulcurricula und das Fehlen gezielter Unterstützung bei psychischen Problemen der Kinder, die von einer immer stärker belastenden Realität überfordert sind.

Weitere Gründe zur Klage liefern das völlig unzureichende Gesundheitswesen und die Unfähigkeit der Politik, vernünftige Lösungen für die Probleme von Staat und Gesellschaft anzubieten, anstatt darauf fixiert zu sein, einträgliche Posten in staatseigenen Betrieben zu verteilen. Wenn die Polen gewisse Bedenken haben, Hołownias Leute und seine Koalitionäre aus dem PSL zu wählen, hat das mit ihrer Erfahrung zu tun, dass jede neue Regierung erst einmal für sich selbst Sorge trägt und erst an zweiter Stelle für Land und Leute. Auch bestehen Zweifel, ob der „Dritte Weg“ mit dem charismatischen Hołownia und Kosiniak-Kamysz in der Lage sein werde, mit den übrigen Oppositionsparteien zusammenzuarbeiten. Vorerst gibt es dafür kein Anzeichen, denn trotz der offenkundigen Beschädigung der demokratischen Institutionen lässt Hołownia nicht hoffen, er werde sich mit Donald Tusk oder der Führung der Linken verständigen können, um gemeinsam die Vereinigte Rechte zu schlagen. Kaum zehn Prozent für den „Dritten Weg“ zeigen in den Umfragen, dass die Polen in Bezug auf diese Koalition mehr Zweifel haben als Glauben an eine reale Veränderung ihres Landes, sollte sie an die Regierung gelangen.

Jarosław Wojtas, Politologe an der WSB [vormals Höhere Bankschule] Merito-Universität Thorn, ist der Meinung, die seit achtzehn Jahren andauernde Rivalität zweier konservativer Parteien, die beide einem einzigen, aus der Gewerkschaft Solidarność hervorgegangenen Umfeld entstammen, habe eine äußerst polarisierte, antagonistische und großteils dysfunktionale Struktur der Machtkonkurrenz und ein nicht repräsentatives Parteiensystem geschaffen: „Es ließe sich die Behauptung wagen, dass anstelle der Artikulation von Interessen, der Auswahl, Bewerbung und Einleitung von Aktivitäten zum allgemeinen Wohl sich die Hauptakteure des Konflikts ein Rennen darum liefern, wer die politische Stimmung im Lande am meisten anheizt. Das ist natürlich eine höchst subjektive Meinung, doch lässt sich den realen Folgen dieser Situation kaum entkommen: dem gering ausgeprägten allgemeinen Vertrauen in der Gesellschaft, der wachsenden Aggressivität in der Öffentlichkeit wie der Erosion der Demokratie. Es ist ganz natürlich, dass neue Akteure aufkommen, die um die Macht rivalisieren, das ist der Versuch, dem Duopol zu entkommen. Sie profitieren vom Neuigkeitseffekt und bieten die Möglichkeit zu zeigen, welcher Überdruss an den Akteuren besteht, die die Politik zu monopolisieren versuchen. Die größte Oppositionspartei verfolgt das Ziel, eine Hegemonie über diese Akteure zu errichten, doch sich diese einzuverleiben, könnte diejenigen Wähler abschrecken, die zwar die Regierung der Vereinigten Rechten kritisieren, zugleich aber auch kritisch gegenüber der Politik der Bürgerplattform sind.“

Größtmögliche Mobilisierung

Nach Auffassung von Jarosław Wojtas sollte das aktuelle Ziel der Opposition die größtmögliche Wählermobilisierung sein, nicht Einigkeit um jeden Preis, denn die Wahlen rücken mit Riesenschritten näher, und bei diesen werde es ganz auf die Wahlbeteiligung ankommen. Aus Sicht der Opposition sei daher ein vielfältiges Angebot der politischen Programme eine Stärke. „Unabhängig vom Wahlgesetz ist eine einheitliche Wahlliste der Opposition heute nur zum Vorteil der Vereinigten Rechten. Im nächsten Sejm werden wahrscheinlich Abgeordnete von mindestens fünf Wahllisten sitzen, von der Linken bis zur Konfederacja [Konföderation], und noch ist offen, wer die Regierungsmehrheit bilden wird. Die archaische, zu wenig proportionale Wahlordnung mit zu hohen Prozentklauseln und einem ungerechten Stimmenzählsystem benachteiligt die kleineren Parteien und macht es schwieriger, dem Duopol zu entkommen, aber es gibt immer noch eine ziemlich große Gruppe von Nichtwählern, die den gordischen Knoten durchschlagen könnten, wenn sie sich nur zu den Wahlurnen begäben.“

Professor Lech Witkowski, Philosoph, Pädagoge und Geisteshistoriker an der Pommerschen Akademie in Stolp, meint, in Polen habe die Suche nach dem „Dritten Weg“ ihre eigene Geschichte und Dramaturgie, könne aber auch einen wirklichen Durchbruch behindern. „Polen ist an den Rand einer Form von Polarisierung gelangt, vor der wir nicht die Augen verschließen dürfen. Sie bedeutet paradoxerweise, dass, wenn sich wenigstens ein Drittel der Gesellschaft nicht an der Demokratie beteiligt, die anderen zwei Drittel geradezu einen Kampf auf Leben und Tod führen. Diese künstlich inszenierte, extreme Alternative darf von den kleineren Parteien nicht auf die leichte Schulter genommen werden, wenn sie für sich eine Stelle im demokratischen Spektrum finden wollen, weil die Demokratie selbst in ihren Prinzipien gefährdet ist. Das betrifft die Funktionsweise des Verfassungssystems, die Verteidigung oder die Beschädigung der Institutionen, die politischen Praktiken wie die Sprache und die Methoden, mit denen der Staat und seine Institutionen monopolisiert werden. Es hat seinen guten Sinn, sich zu vergegenwärtigen, dass es noch kleinere politische Parteien gibt, weil die Methoden, mit der Wählerstimmen in Abgeordnetenmandate umgerechnet werden, die Gefahr mit sich bringen, dass die Stimmen eines Teils der Wähler bei der Verteilung der Parlamentssitze nicht berücksichtigt werden. Die Prozentklauseln und die Arithmetik sind erbarmungslos. Zudem droht uns unter der PiS-Regierung nicht allein Wahlfälschung, sondern auch Manipulation durch Missbrauch der monopolisierten öffentlichen Medien wie des Staatsfernsehens, des Rundfunks und der Lokalpresse.“

Nach Witkowskis Auffassung wissen wir zu wenig davon, woran sich Wähler tatsächlich orientieren, die offen dafür sind, ihr Stimme Parteien wie dem PSL, Polska 2050 oder der Konfederacja zu geben. Meinungsumfragen in Polen sind leider oberflächlich und registrieren spontane Schwingungen, dringen aber nicht tiefer ein in moralische Verfassung, Kultur und Bildung, zumindest nicht vor Wahlen. „Die Vorsitzenden dieser Parteien machen leider die Lage noch schlimmer, indem sie unbekümmert mit einer unzulässig verallgemeinerten Rationalität des ,Dritten Weges‘ umgehen,“ meint Witkowski. „Wenn der Kampf um die durch Usurpation schwer bedrohte Demokratie an Schärfe zunimmt, vermögen es sogar die Demokraten, zur Einheit aufzurufen, zur Schließung der Reihen. Bei fortgeschrittener Zerstörung des Staates, wie aktuell in Polen, wo die Regierung einen Coup gegen die europäischen Grundlagen des Staates durchführt, indem sie die Frustration der Menschen ausnützt und sie manipuliert, wird die Zersplitterung der Parteienlandschaft zum Verbündeten der PiS-Partei. Diese Partei aus der Regierung zu entfernen, liegt im Interesse des polnischen Staats. Aber die Strategie des ,Dritten Weges‘ ist illusorisch, denn sie führt nur dazu, die Stimmen zu zersplittern.“

Vorerst zeigen die jüngsten Meinungsumfragen, dass die Vereinigte Rechte die Wahlen mit relativer Mehrheit gewinnen kann, aber nicht wird regieren können. Die Regierungsbildung wird dann dem „Dritten Weg“, der PO und der Linken zufallen. Das bedeutet, dass die Parteivorsitzenden erneut unter Beweis stellen müssen, ob sie kooperieren können. Und ob sie die richtigen Schlüsse daraus gezogen haben, was mit dem Land unter der PiS-Regierung passiert ist, als die Opposition sich gegenseitig an die Gurgel ging.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Karina Obara

Karina Obara

Karina Obara ist Journalistin, Schriftstellerin, Dichterin, Essayistin und Malerin. Sie studierte Politikwissenschaften an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń und europäische Journalistik am College of Europe in Warschau.

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