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Die polnischen Wahlen 2023

Der Einsatz war bei den Parlamentswahlen in Polen außerordentlich hoch. Am 15. Oktober 2023 stand das fünftgrößte Land der Europäischen Union vor der Wahl, seinen Austritt aus derselben zu besiegeln oder zumindest im endlosen Clinch mit ihr weiterhin vor sich hin zu vegetieren. Doch die Polen entschieden sich für eine andere Option – für die Rückkehr in die Mitte Europas, aus dem sich schließlich die allermeisten von ihnen nie wirklich verabschieden wollten.

35 Prozent für Recht und Gerechtigkeit (PiS); 30,5 Prozent für die Bürgerkoalition (KO); 14,5 Prozent für den Dritten Weg; 8,6 Prozent für die Neue Linke; sieben Prozent für die Konföderation. Fünf Parteien haben den Einzug in den Sejm geschafft, PiS hat die einfache Mehrheit gewonnen, aber so viele Mandate verloren, dass der Traum von einer dritten Amtszeit der von der Partei geführten Regierung ausgeträumt ist. Und doch träumt PiS weiter – schon in den ersten Momenten nach der Schließung der Wahllokale verbargen die Politiker der von Jarosław Kaczyński geführten Partei nicht, sei seien in der Lage, dem Dritten Weg „alles zu geben“ für eine Koalition, einer Partei, die im Wahlkampf am meisten über Versöhnung gesprochen hat. Selbst die Position des Ministerpräsidenten. „Ihr besitzt keine Ehre, ihr könnt nicht verlieren“, hören sie aus der Parteiführung. „Endlich mal gute Neuigkeiten“, so auf die ersten Nachrichten aus Polen hin Francis Fukuyama, der vor mehr als drei Jahrzehnten das Ende der Geschichte vorhersagte. Die Geschichte jedoch ist weitergegangen.

„Guten Tag im neuen Polen!“, so hieß es am Tag nach den Wahlen in dem kleinen Café im Warschauer Stadtteil Żolibórz, wenige hundert Meter entfernt vom Haus des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński, und es gab praktisch nur ein Thema: wie lange die Warteschlangen vor den Wahllokalen gewesen waren. Denn in den großen Städten mussten die Leute seit dem späten Nachmittag vor den Wahlurnen viele Stunden Schlange stehen. Der Rekord lag, so auch in der Hauptstadt, bei fünf oder sechs Stunden. Fast drei Viertel aller Wahlberechtigten gingen auch tatsächlich zur Wahl, das sind über zehn Prozent mehr als am 4. Juni 1989, an dem in den ersten, partiell freien Wahlen die Polen den Kommunismus in die Schranken wiesen.

Für demographische, soziologische und politologische Analysen ist es noch zu früh, aber einige wichtige Fragen lassen sich dennoch bereits beantworten.

Wer hat gewonnen? Die Gesellschaft. Genauer gesagt, nicht die Dutzenden, sondern die hunderten, ja tausenden und vielleicht zehntausenden kleineren und größeren Initiativen und Kampagnen zur Mobilisierung der Wähler, die sich gezielt an die jüngsten Wähler und besonders die Frauen richteten. Das war bei der vorherigen Wahl genau die Wählergruppe, die sich weigerte, am Fest der Demokratie teilzunehmen, womit sie Recht und Gerechtigkeit eine zweite Legislaturperiode und eine noch stärkere Exekutive in den Schoß fallen ließ. Die Regierung bedankte sich für die Wahlenthaltung, so gut sie es vermochte, indem sie im Herbst 2020 faktisch das Abtreibungsrecht verschärfte. Gegen die vorwiegend jungen Frauen in den Demonstrationszügen entsandte die Regierung die Polizei mit auf ganze Länge ausgefahrenen Teleskopschlagstöcken. Die Wut und Empörung der Frauen, und natürlich nicht nur dieser, waren ausgelöst von den Todesfällen von Schwangeren, bei denen Ärzte gezögert hatten, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, obwohl es medizinisch angeraten war. So war nicht überraschend, dass ein großer Teil der Werbespots, die in den letzten zwei Wochen vor den Wahlen gezeigt wurden, gerade um das Recht auf freie Wahl kreiste, das Recht auf den Erhalt von Leben und Gesundheit, das Recht auf moderne Verhütungsmittel. Auf all das, was den Frauen mehrere Jahre lang, mindestens ihrem Empfinden nach, genommen worden war. In der jüngsten Alterskohorte der Wähler gewann die demokratische Opposition drei Viertel der Stimmen.

Wer hat verloren? Recht und Gerechtigkeit. Das ist paradox, denn Jarosław Kaczyńskis Partei hat die Wahl gewonnen, und zwar das dritte Mal in Reihe. Das hatte nach 1989 bisher noch keine polnische Partei geschafft. Doch hat der Erfolg einen bitteren Beigeschmack, denn PiS hat selbst mit der noch weiter rechts stehenden Konföderation zusammen keine Chance auf eine Mehrheit im Parlament. Aber es ist noch ein weiteres zu sagen: PiS hat die Wahlen verloren, obwohl die Partei mit gezinkten Karten und betrügerisch spielte. Die Liste der Sünden in diesem Wahlkampf, die das Ergebnis verzerren konnten und wahrscheinlich auch verzerrt haben, ist lang, doch unbedingt zu erwähnen sind:

– Die extreme Parteilichkeit der öffentlichen Medien, und zwar des Fernsehens wie des Radios sowie ihrer Internetplattformen, und der Transfer von Millionenbeträgen an öffentlichen Geldern sowie Geld von Staatsunternehmen an regierungsnahe Privatmedien über die gesamten acht Jahr der PiS-Regierung hinweg. Besonders gegen Ende des Wahlkampfes wurde die Opposition, vor allem der Vorsitzende der Bürgerkoalition Donald Tusk, regelrecht enthumanisiert. Die Botschaft, die damit dem Publikum eingetrichtert wurde, konnte niemanden gleichgültig lassen.

– Die Änderungen des Wahlrechts. PiS machte vor den Wahlen das Netz der Wahlkommission in der Weise engmaschiger, dass die Wähler auf dem Land und in den Kleinstädten kurze Wege zu den Wahllokalen hatten. Im Gegensatz dazu wurde nicht allzu viel unternommen, um es den Menschen in den größten Städten ebenso bequem zu machen. Die traditionsorientierte, ländliche Wählerschaft neigt der PiS-Partei zu, die großstädtische dagegen ganz und gar nicht.

– Das Wahldatum war nicht zufällig gewählt: Auf den 16. Oktober fällt der Jahrestag der Wahl von Karol Wojtyła zum Papst, den die katholische Kirche in Polen als Tag des Papstes feiert, und zwar am nächsten, meist vorhergehenden Sonntag, der dieses Jahr auf den 15. Oktober fiel. Die polnischen Bischöfe wahren zwar formal politische Neutralität, doch versäumten sie es nicht, den Katholiken deutliche Hinweise zu geben, für wen sie zu stimmen haben. Und selbst wenn der Name der Partei nie direkt genannt wurde, ließ sich doch unzweideutig zwischen den Zeilen lesen, dass der Partei an der Regierung der Vorzug zu geben sei.

– Zu guter Letzt, das Referendum [das gleichzeitig mit den Parlamentswahlen abgehalten wurde; A.d.Ü.]: Es wurden erhebliche Mittel aus dem Staatshaushalt sowie von den staatlichen Unternehmen eingesetzt, um „vier Mal Nein“ zu propagieren, wobei die Fragen völlig absurd gestellt waren, so zur Zwangsumverteilung von Flüchtlingen [nach dem von der EU festgelegten Aufnahmeschlüssel; A.d.Ü.] oder zum Abriss der Sperranlagen an der Grenze [zu Belarus, über die größere Gruppen von Migranten nach Polen zu gelangen versuchen; A.d.Ü.]. Das diente allein dem Zweck, zusätzliche Mittel zur Finanzierung des Wahlkampfes einsetzen zu können und mehr Sendezeit zu bekommen, um gezielt die Botschaft zu vermitteln: nur PiS garantiert, dass diejenigen nicht ans Ruder kommen, die auf das Diktat aus Brüssel (und damit eigentlich aus Berlin) hören wollen. Das ist nicht meine Ausdeutung, sondern ein Zitat von Jarosław Kaczyński, der Nummer Eins der (noch) regierenden Partei.

Hätte die Opposition es besser machen können? Donald Tusk warf nicht nur seine ganze Autorität in die Waagschale, sondern buchstäblich sich in eigener Person, und versuchte viele Monate lang, die Vorsitzenden der demokratischen Parteien dazu zu bewegen, auf einer gemeinsamen Wahlliste anzutreten. Dabei stieß er auf Widerstände. Als einzige gemeinsame Unternehmung gelang der erste Marsch vom 4. Juni 2023, bei dem die Opposition und über eine halbe Million Menschen einen vielstündigen Umzug durch Warschau hielten. Nur zwei Wochen vor den Wahlen gelang nichtmals mehr das; der Dritte Weg, eine Koalition aus der Polnischen Volkspartei (PSL) und Polska 2050, die eine konservativere Partei als die KO ist, verweigerten ihre Teilnahme am Marsch der Millionen Herzen. Doch die Million marschierte auf Warschaus Straßen, und die Wahlprognosen schwankten für den Dritten Weg um die acht Prozent, die Schwelle, die sie als Wahlbündnis erreichen musste.

Noch eine Woche vor den Wahlen war nicht klar, ob es der Dritte Weg überhaupt in den Sejm schaffen würde. Dann kam der Tag der „Scheindebatte“ im öffentlichen Fernsehen, ein weiteres Beispiel für die ungehemmte Manipulation, welche die Regierung und die ihr botmäßigen öffentlichen Medien betrieben. Anstelle sachlicher Fragen wurden gezielt formulierte Behauptungen vorgetragen, die sich gegen den Vorsitzenden der Bürgerkoalition richteten. Statt allen Debattenteilnehmern gleiche Rechte einzuräumen, bekam der die PiS-Partei vertretende Ministerpräsident Mateusz Morawiecki ein Redeforum.

Tusk gewann die Debatte nicht, weil er sie nicht gewinnen konnte. Doch auch Morawiecki gab ein schlechtes Bild ab, schlechter als Tusk. Unbestrittener Sieger war Szymon Hołownia, einer der führenden Politiker des Dritten Weges, früher Zeitungs‑ und Fernsehjournalist mit einer reichen, beinahe zwanzigjährigen Erfahrung im Showbusiness (2008 bis 2019 war er Ko-Moderator der Sendung „Ich habe Talent!“). Hołownia dekonstruierte die suggestiven Fragen, präsentierte blitzgescheit das Programm seiner Wahlkoalition und konnte viel Spielraum nutzen. In die Wahlkampfgeschichte wird sein „packt eure Katzenklos ein!“ eingehen, gerichtet an die „fetten Kater“, nämlich die von PiS mit Pfründen in den Staatsunternehmen und ‑institutionen versorgten Leute. Es lässt sich behaupten, Hołownia habe mit seinem Auftritt einige Punkte für den Dritten Weg gemacht und bewiesen, dass er wirklich Talent hat.

Letztlich hatten doch diejenigen Recht, die auf eine Wahlstrategie mit drei Listen gesetzt hatten. Denn auch dadurch ließen sich so viele Wähler mobilisieren. Das Wahlergebnis für die Bürgerkoalition ist eines, aber mehr als acht Prozent für die Neue Linke und vor allem deutlich mehr als 14 Prozent für den Dritten Weg – hätte es nur eine gemeinsame Liste gegeben, die notwendigerweise eine geringere programmatische Vielfalt aufgewiesen hätte, weil schon zur Bildung eines Wahlbündnisses Kompromisse hätten gemacht werden müssen, wäre das Resultat nicht einfach darauf hinausgelaufen, die drei Wahlergebnisse aufzuaddieren. Die drei Listen liefern der demokratischen Opposition eine sichere Mehrheit im Sejm, wenn auch keine qualifizierte Mehrheit. Von einer Mehrheit, die ein Veto des Präsidenten überstimmen könnte, kann keine Rede sein, ganz zu schweigen von einer verfassungsändernden Mehrheit.

Was könnte jetzt noch schiefgehen? Die Regierungsbildung aus drei demokratischen Parteien, in Wahrheit aber aus vieren, weil der Dritte Weg bereits eine Koalition ist, deren beide Mitglieder sehr auf ihrem je eigenen Profil beharren, wird eine Herausforderung sein, doch wird das noch leichtes Spiel sein im Vergleich zu den zukünftigen Herausforderungen, die anschließend auf die Regierung warten. Recht und Gerechtigkeit hat den Haushalt, oder im weiteren Sinne, die öffentlichen Finanzen, bis zum Äußersten strapaziert. Es fehlt nicht an warnenden Stimmen von Wirtschaftsexperten, die Grenzen des Vertretbaren seien bereits überschritten. Präsident Andrzej Duda, dessen zweite Amtszeit erst 2025 endet, wird, so ist anzunehmen, auf die Wahrung der Interessen seiner PiS-Partei und der unter ihrer Regierung vollzogenen Rechtsbeugungen, so unter anderem im Bereich Justizwesen, achten; ebenso und ganz besonders das von PiS bereits am Anfang der ersten Legislaturperiode installierte Verfassungsgericht. Öffentliche Medien und Staatsanwaltschaften befinden sich in den Händen von PiS. Die Sanierung des Landes wird Jahre in Anspruch nehmen, selbst dann, wenn Duda mit Augenmerk auf eine spätere Laufbahn in internationalen Institutionen die Anwendung seines Vetorechts auf ein Minimum beschränken sollte.

Daneben werden sich zwischen den Koalitionspartnern selbst Unterschiede auftun. Das offenkundigste Beispiel ist die Änderung der Rechtsbestimmungen zur Abtreibung. Die Linke und die Bürgerkoalition wollen die Legalisierung bis mindestens zur 12. Schwangerschaftswoche. Der Dritte Weg sprach im Wahlkampf von der Rückkehr zum „Abtreibungskompromiss“, das heißt zu den vor November 2020 gültigen Bestimmungen und dem Urteil des Verfassungsgerichts sowie von der Ausschreibung einer Volksbefragung zur Liberalisierung des Abtreibungsrechts; dabei ist bekannt, dass ein Großteil der Abgeordneten des Dritten Weges nicht geneigt sein wird, für die Legalisierung der Abtreibung zu stimmen. Noch dazu ist der Schutz des ungeborenen Lebens in Polen aus der Verfassung abgeleitet, was die Verfassungsrichter bereits lange vor der Übernahme des höchsten Gerichts durch PiS bestätigten. Selbst wenn es gelänge, ein Gesetz zu verabschieden, was keineswegs sicher ist, wird das Veto des Präsidenten praktisch unvermeidlich sein, ebenso die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit den Bestimmungen der Verfassung. Dabei waren doch das Thema Abtreibung und das Recht auf körperliche Selbstbestimmung der Frauen Zündstoff, der PiS von der Macht zu entfernen half. Wie werden die politischen Realitäten mit den Erwartungen der Wähler zu vereinbaren sein?

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Małgorzata Solecka

Małgorzata Solecka

Małgorzata Solecka, Journalistin beim Internetportal Medycyna Praktyczna (Praktische Medizin) und der Monatszeitschrift„Służba Zdrowia“ (Gesundheitsdienst), 1998 bis 2007 Journalistin und Redakteurin bei der Tageszeitung „Rzeczpospolita“, arbeitete auch für „Życie“ (Leben), die Polnische Presseagentur (PAP) und die Wochenzeitschrift „Newsweek Polska“.

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