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Die Tragödie an der Oder. Wie Polen und Deutsche aneinander vorbeireden

Die Katastrophe am Grenzfluss zwischen Polen und Deutschland machte 2022 wie unter dem Brennglas deutlich, wo es bei der beiderseitigen Koordination hapert und welche Probleme infolge des Klimawandels auf Europa zukommen. Wird es uns jedoch gelingen, eine gemeinsame Sprache zu finden, um darauf zu reagieren?

Natürliche Ressourcen sind ein gemeinsames Gut von endlicher Menge. Werden sie von zu vielen zu intensiv genutzt, erschöpfen sie sich, und es entsteht ein nicht rückgängig zu machender Schaden für die Gesamtheit. Dieses Problem ist in der ökonomischen Spieltheorie bekannt als „Tragödie des Allgemeinguts“. Die Theorie zeigt: Es mag zwar das Individuum an der Ausbeutung der Ressource gewinnen, doch die Gemeinschaft hat letztlich das Nachsehen.

Um sich der gemeinsamen deutsch-polnischen ökologischen Ressourcen in verantwortlicher Weise anzunehmen, bedarf es einer gemeinsamen Definition der möglichen Gefahren, die von ihrer Nutzung ausgehen. Ist das jedoch möglich, wenn beide Länder eine völlig unterschiedliche Sicht auf die Gefahrenpotentiale haben?

Eine falsche Dichotomie?

Beim Umgang mit Ökosystemen einschließlich ihrer Gewässer sind entgegengesetzte Positionen erwartbar von Bio‑ und Ökozentristen einerseits, die das gesamte Ökosystem im Blick haben, und den Anthropozentristen andererseits, denen es in erster Linie um den Nutzen des Systems für den Menschen geht. Beide Ansätze hängen ab von Geschichte, Entwicklungsniveau und Werten, welche die jeweilige Nation kennzeichnen. Es ist sehr schwierig, an diesen Einstellungen etwas zu ändern.

Was die Oder betrifft, so wird eine intensive Diskussion zwischen zwei Lagern geführt. Das eine plädiert dafür, die Verseuchung der Oder und ihrer Zuflüsse etwa durch die Entwicklung von antibiotikaresistenten Bakterien mit Blick auf die Priorität menschlicher Gesundheit hinzunehmen, oder auch im Kontext der Flussregulierung und des Baus von wassertechnischen Einrichtungen mit Blick auf die Priorität von Schifffahrt und Energiewirtschaft. Der Braunkohletagebau in Polen, Tschechien und Deutschland stört einerseits den Grundwasserfluss selbst noch in einer Entfernung von 200 km von der Grube, wogegen die Biozentristen protestieren, andererseits ist er erforderlich für die Energiesicherheit der Region, wofür die Anthropozentristen optieren. Bei den wasserwirtschaftlichen Ansätzen links und rechts der Oder bestehen disparate Ansätze, womit Konflikte vorprogrammiert sind. Beispielsweise verstärkt sich im polnischen Zuflussgebiet der Oder weiterhin die Belastung mit Pestiziden, ist aber immer noch nur halb so intensiv wie in Deutschland, wo die Tendenz allerdings rückläufig ist. Polen verwendet weniger Pestizide als Deutschland. Aber die polnische Landwirtschaft entwickelt sich dynamisch, daher steigt die Verwendung von Pestiziden. Die Deutschen dagegen sind dabei, deren Verwendung zurückzufahren. Zwei gegenläufige Entwicklungen, zwei unterschiedliche Entwicklungsniveaus – mehr braucht es kaum für eine harsche Kollision. Doch vielleicht ist die Dichotomie Mensch versus Ökologie ja auch ganz falsch und Auseinandersetzungen darüber völlig unnötig? So sei im Folgenden davon die Rede, wie sich beide Faktoren wechselseitig beeinflussen.

Testfall Oder

Die Umweltkrise am Grenzfluss Oder wurde 2022 zum Testfall für die Möglichkeiten der Kooperation zwischen Polen und Deutschland. Aus Sicht des Krisenmanagements war diese Katastrophe untypisch hinsichtlich ihrer unerwarteten Ursache und der Schwierigkeiten, diese überhaupt zu ermitteln. Zur Reaktion auf bestimmte Probleme gibt es nämlich Krisenreaktionspläne, einschließlich solcher, bei denen beide Länder an der Grenze zusammenwirken müssen. Bei bekannten Gefahren wie etwa Überschwemmungen funktionieren diese Instrumente einwandfrei. Probleme stellen sich ein, wenn die Gefahr unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche überschreitet oder von einer unbekannten Ursache ausgeht. Um einen solchen Fall handelte es sich bei der Oderkrise von 2022. Wir sollten allerdings nicht übersehen, dass es sich dabei nicht um einen einmaligen Zwischenfall handelte, sondern um ein auf einen allgemeineren Trend verweisendes Ereignis, zu dem beispielsweise auch die Überspringung der Gattungsgrenze durch den Vogelgrippevirus beim Übergang auf Säugetiere gehört, wie bei den Fällen der Ansteckung von Katzen in Polen im Frühjahr 2023 oder der Legionelleninfektion im Karpatenvorland im August 2023. Auch hier handelte es sich um Krisen, die in verschiedene Disziplinen und Zuständigkeitsbereiche fielen und daher eine komplizierte, interdisziplinäre Ursachenermittlung erforderlich machten.

Leider zeigen diese Fälle, dass die Koordination der zuständigen Behörden bei Krisen, die Polen und Deutschland zusammen treffen, zu wünschen übrig lässt. Insbesondere deshalb, weil es keine effiziente Plattform für die Zusammenarbeit zwischen polnischen und deutschen Aufsichtsbehörden gibt. Ein unrühmliches Beispiel ist der Sachstand bei der Bekämpfung der Afrikanischen Schweinepest (ASF) an der deutsch-polnischen Grenze. Auch wenn die Kooperation auf lokaler Ebene gute Resultate zeitigt, fehlt es bei den Aufsichtsbehörden an entsprechender Abstimmung der Maßnahmen und der Kooperation. Im Falle der Schweinepest wurden die wirksamsten Maßnahmen von Umweltorganisationen und Jagdvereinen getroffen, die Informationen austauschten und bis heute regelmäßige Treffen veranstalten. Von den staatlichen Einrichtungen ist dagegen nichts zu hören.

Ein anderes Beispiel: Als im Frühjahr 2022 in Niederschlesien die pädiatrischen Medikamente knapp wurden, als dort viele Flüchtlinge aus der Ukraine durchzogen, leistete die deutsche Seite hauptsächlich vermittels der regionalen Apothekenkammern Sachsens und Brandenburgs Hilfe, die die fehlenden Medikamente an Hilfsorganisationen in Niederschlesien lieferten. Dies war ein Beispiel für effektive Zusammenarbeit auf lokaler Ebene, die an den jeweiligen Zentralbehörden in Deutschland und Polen vorbei stattfand.

Ähnlich verhielt es sich an der Oder, wo es eine starke Mobilisierung und aktive Maßnahmen auf lokaler Ebene gab, während auf bilateraler staatlicher Ebene Koordinationsmangel und Chaos herrschten.

Streitpunkte

Gehen wir also zeitlich etwas zurück, um den Ablauf der Oderkrise nachzuzeichnen. Die Umweltkatastrophe nahm ihren Anfang, als in den sozialen Medien am 26. und 27. Juli 2022 Meldungen über verendete Fische in der Umgebung von Jaz Lipki an der Grenze zwischen den Wojewodschaften Oppeln und Niederschlesien, einige Kilometer flussabwärts von Brzeg/Brieg laut wurden. Bereits am 27. Juli erreichten die Inspektionen für Umweltschutz und Tiermedizin Meldungen über ein massenhaftes Fischsterben. An den folgenden Tagen wurde ein ebensolches Fischsterben an Orten in der Wojewodschaft Niederschlesien, später auch der Wojewodschaft Lebus verzeichnet. Bis zum 10. August holten Angler, Umweltaktivisten, die Feuerwehr und die Staatliche Fischereiwacht aus dem Fluss mindesten neun Tonnen toter Fische. Daneben wurden tote Biber, Vögel und Muscheln gefunden. Allein am 11. August 2022 wurden mindesten zehn Tonnen Fische aus dem 200 km langen Abschnitt nördlich des Flusses Oława/Ohle in Südwestpolen gefischt. Bis um acht Uhr am 13. August wurden in der Höhe von Kattowitz bis Gryfino/Greifenhagen über 28 Tonnen verendete Fische aus der Oder geholt. Des Weiteren trafen Meldungen über Verbrennungsverletzungen von Personen ein, die Kontakt mit dem Wasser gehabt hatten. Hydrologen stuften die Lage als unmittelbare Gefahr für das Ökosystem wie für Leben und Gesundheit von Menschen ein.

Die Ursachen der Katastrophe konnten nicht sofort eindeutig geklärt werden. Während die Krise noch anhielt, gab es unterschiedliche Meldungen über die Verschmutzung von Gewässern. Die polnischen Behörden nannten auch noch knapp zwei Wochen nach den ersten Warnungen keine eindeutige Quelle. In Proben wurde Mesitylen festgestellt, aber nicht bei allen Untersuchungen. Die Deutschen schlugen Alarm, nachdem sie grenzwertüberschreitende Mengen an Quecksilber im Oderwasser gefunden hatten, was aber von weiteren Messungen nicht bestätigt wurde. Die Daten der automatischen Wassermessstation in der Region Frankfurt/Oder zeigten starke Veränderungen bei der Wasserqualität, möglicherweise ein Hinweis auf eine stärkere Versalzung des Flusswassers.

Nach heutigen Erkenntnissen wurde der Tod von etwa 360 Tonnen Fischen und niederen Organismen durch die Algenblüte einer invasiven Spezies (Goldalgen) verursacht, deren drastische Vermehrung wahrscheinlich durch den starken Salzgehalt und die hohen Wassertemperaturen der Oder im Juli/August 2022 ermöglicht wurde.

Doch als diese Ursache noch nicht bekannt war, gab es einen merkwürdigen Informationsaustausch zwischen Polen und Deutschland. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) kam an die Ergebnisse von Laboruntersuchungen von Proben, die bei Frankfurt vom Flussgrund entnommen worden waren. Mit Blick auf die schon lange währende Verschmutzung der Oder und ihrer Zuflüsse durch Industrieabwässer in den Regionen Lausitz, Schlesien, Niederschlesien, Sachsen, Brandenburg und Mähren war bekannt, dass sich Quecksilber im Oderwasser befinden konnte. Obwohl längs des ganzen Flusslaufs gar kein Quecksilber gefunden wurde, löste das Informationsleck Panik auf beiden Seiten der Grenze aus.

Als das Quecksilbergerücht an die deutschen Medien gelangte, wurde es auch von den polnischen Medien umgehend aufgegriffen, was die Beunruhigung noch weiter ansteigen ließ. Die Diskussion zwischen dem Marschall der Wojewodschaft Lebus und dem Umweltminister des Landes Brandenburg führte zu noch mehr Aufregung, doch die Richtigstellung durch deutsche Umweltinspektoren und Wissenschaftseinrichtungen, die den Nachrichten von erhöhten Quecksilberwerten widersprachen, glätteten die Wogen in den polnischen und den deutschen Medien wieder.

Ein interessanter Aspekt der Krise war, wie unterschiedlich sie jeweils wahrgenommen wurde. Die Deutschen beurteilten sie in den Kategorien der Klimakatastrophe (niedriger Wasserstand infolge der Hitzewelle), mithin als Folge menschlicher Handlungen, gewiss, wie der Tenor lautete, eine Folge der Verschmutzung des Flusses durch unverantwortliche Industrien auf polnischer Seite (Tragödie des Allgemeinguts). Auf polnischer Seite blickte man dagegen in erster Linie auf die durch die Krise verursachten Verluste in Gestalt Millionen verendeter Fische. Die Aufmerksamkeit galt mithin weniger dem Umweltproblem als vielmehr dessen ökonomischen Folgen. Daher sprachen beide Seiten keine gemeinsame Sprache, exemplifiziert durch die angeblich in Polen verursachte Quecksilberverseuchung.

Lehren für die Zukunft

Offenbar verlangt das 2022 aufgetretene Kommunikations‑ und Koordinationsproblem bestimmte Korrekturen in den deutsch-polnischen Beziehungen. Während bei den NGOs der Informationsaustausch zügig vonstattengeht, gibt es bei den Regierungseinrichtungen noch viel zu tun. Das ging aus den Berichten der Europäischen Kommission und der polnischen Höchsten Kontrollkammer (NIK) hervor. Beide stellten heraus, dass der Informationsfluss zwischen den Regierungen, den Aufsichtsämtern und der Gesellschaft sichergestellt sein muss; dass Lösungen für die Gewässerüberwachung gefunden werden müssen; schließlich, dass mit Blick auf die Kommunikation eine Unterstützung des Krisenmanagements eingerichtet werden muss.

Doch wieder fehlt es hier an einer gemeinsamen Sprache, nämlich an einer der Institutionen, was die Kooperation der Aufsichtsbehörden angeht, denn diese sind in Polen zentralistisch organisiert, also direkt der Regierung unterstellt, weil sie bestimmen, wie die Regionen auf Gefahren zu reagieren haben. Als Beispiel sei genannt, wie an der Grenze die Schweinepest bekämpft wird. Dort haben unter deutschen Inspektoren gemachte Umfragen erwiesen, dass es auf polnischer Seite Widerstände gegen eine Zusammenarbeit gibt. Dies stimmt zum Teil, weil die Regionalinspektoren oft keine Entscheidung ohne Einverständnis ihrer Zentralbehörden treffen können, im Gegensatz zu ihren deutschen Amtskollegen, die über größere Handlungsspielräume verfügen.

Weitere Beispiele anhand von Daten: Polen sieht zur Bekämpfung der Schweinepest im Budget für 2024 etwa zwanzig Millionen Euro vor, während in Deutschland allein das Land Brandenburg dafür 100 Millionen Euro in seinem Haushalt einplant. Ähnlich wird die Oder auf deutscher Seite in Realzeit an einigen Stellen mit teuren Sensorsystemen auf bestimmte physikalisch-chemische Faktoren hin überwacht, während sich auf polnischer Seite ein solches System in einfacherer Form gerade erst noch in der Einrichtungsphase befindet: an die Stelle teurer Laboranalysen sollen hier preiswertere Auswertungen von Satellitenaufnahmen mittels künstlicher Intelligenz treten.

Viel Wasser wird noch die Oder hinunterfließen, bevor die Niveaus des Engagements und der Handlungsmöglichkeiten zur Sicherung des Gemeingutes angeglichen sein werden. Es fehlen eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Prioritäten und Handlungspläne, es fehlt eine klare Vorstellung, wie weiter vorzugehen ist. Das Problem wird von dem immer noch erheblichen Wirtschaftsgefälle zwischen den beiden Ländern noch weiter vertieft. Die Tragödie des Allgemeinguts verschärft sich, und zwar nicht nur bei den Gewässern, sondern dem Umweltschutz überhaupt. Gemeinsame Verständigung und Maßnahmenkoordination können jedoch Polen und Deutschland bei der Umsetzung einer ausgewogenen Umweltpolitik, wie sie in Zeiten des Klimawandels erforderlich ist, einander näherkommen lassen.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann


Der Text entstand dank finanzieller Unterstützung der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit im Rahmen des Projekts „Polens Perspektive“. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit dem polnischen ThinkZine Nowa Konfederacja realisiert.

Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit

Andrzej Jarynowski, Stanisław Maksymowicz

Andrzej Jarynowski, Stanisław Maksymowicz

Andrzej Jarynowski, ist Spezialist für Epidemiologie, Mitarbeiter des Instituts für Biometrie und Veterinärepidemiologie an der Freien Universität Berlin und von Aidmed in Danzig. Berater auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten für die Nachrichtenagentur Bloomberg und die Washington Post. / Stanisław Maksymowicz, Gesundheitsexperte, Assistenzprofessor am Collegium Medicum UWM in Olsztyn, Doktor der Soziologie, Mitglied der Polnischen Gesellschaft für Soziologie

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