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Polens neuer Ministerpräsident

Welche Rolle hat Jarosław Kaczyński für Mateusz Morawiecki vorgesehen? Ist es die eines weiteren Ministerpräsidenten, der nur Statist ist? Oder eines Leszek Balcerowicz der IV. Polnischen Republik? Die des eigenen Nachfolgers? Das weiß nicht einmal Morawiecki selbst so richtig.

 

Angeblich hatte der neue Premierminister seine Nominierung nicht erwartet. Zumindest nicht jetzt. Er wurde erst ein paar Tage vor der Entscheidung des Politischen Komitees der PiS in Kaczyńskis Pläne eingeweiht. Er war auf das Amt des Ministerpräsidenten nicht vorbereitet und bekam nur ein Wochenende, um sein Exposé vorzubereiten. Er war sich auch nicht sicher, welcher Autonomiebereich ihm zugestanden werde. Es gab auch keine Zeit mehr, um die Zusammensetzung eines neuen Kabinetts zu verhandeln. Das Risiko, die Einflüsse der miteinander in Konflikt stehenden Zentren ausgleichende Architektur zu verletzen, schloss voreilige Entscheidungen aus.

 

Das Exposé des neuen Ministerpräsidenten erwies sich als verhältnismäßig konservativ. Zwar gab Morawiecki den konfrontativen Ton seiner Vorgängerin Beata Szydło auf und konzentrierte sich – was zu erwarten war – auf den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bereich, doch die allgemeinen Aufrufe zur Abkühlung des politischen Konflikts werden bisher nicht durch ein klares Programmangebot unterstützt. Eine wesentliche Korrektur der bisherigen Politik kann man höchsten vermuten. Der Premierminister überging nämlich die heikelsten Fragen. Mit keinem Wort erwähnte er die Abschaffung der unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit und die parallel zu seiner Nominierung eingeführte Kontrolle der ordentlichen Gerichte. Bescheiden fielen auch die Fragmente seiner Rede zur Außenpolitik aus – sie waren ganz am Ende seines Exposés untergebracht, lakonisch und kündigten keine neue Qualität an. Unterdessen sprach man bei der PiS inoffiziell darüber, dass der neue Regierungschef versuchen würde, die Beziehungen zu den EU-Ländern zu verbessern. Insbesondere im Kontext der Polen bevorstehenden schwierigen Verhandlungen zum neuen EU-Haushalt.

 

Die Opposition hat sofort festgestellt, dass Kaczyński nur eine Personalrochade vorgenommen habe und sich dadurch nichts ändern würde. Was nicht ausgeschlossen werden kann, obwohl eine solche Schlussfolgerung voreilig ist. Morawiecki konnte sich einfach in der jetzigen Situation, auch wenn er gewollt hätte, nicht erlauben, die bisherige PiS-Agenda radikal zu erweitern. Das hätte Misstrauen seines politischen Förderers Jarosław Kaczyński erwecken und die Autonomie des Ministerpräsidenten vor den für den Januar angekündigten Veränderungen in seinem Kabinett einschränken können.

© Artur Widak/NurPhoto

Dieses einschüchternde Gefühl der Unsicherheit ist natürlich ein konstantes Merkmal des Regierungsmodells von Jarosław Kaczyński. Es wächst aus dem tiefen Misstrauen des Parteivorsitzenden der PiS gegenüber allen formellen Hierarchien heraus, die seiner Meinung nach von Natur aus pathologischen Einflüssen von außen unterliegen. Und es hat keine größere Bedeutung, ob es hier um den staatlichen oder den Parteiapparat geht. Beide sollte man unaufhörlich einer strengen Kontrolle unterziehen, was in der Praxis darin besteht, dass die Positionen mit willenlosen Figuren ohne reale politische Basis besetzt werden. In der offiziellen Führung der PiS zu sitzen ist höchstens eine Quelle des Prestiges, bedeutet jedoch keine tatsächliche Einflussnahme. Genauso wurden in den PiS-Regierungen vor Morawiecki Funktionäre aus der zweiten Reihe zu Ministerpräsidenten (die einzige Ausnahme machte Kaczyński in den Jahren 2006-2007, als er sich persönlich an die Spitze der Regierung stellte; das Experiment erwies sich jedoch als misslungen). Die Ministernominierungen sollen dagegen in erster Reihe das innere Gleichgewicht des ganzen Systems garantieren.

 

Der wahre Kern der PiS-Macht bleibt informell. Im typischen Jargon Kaczyńskis wird er bereits seit den frühen 1990-er Jahren als „Zentrum politischer Disposition“ bezeichnet. Dessen innere Struktur ist nicht nur der öffentlichen Meinung, sondern auch den Parteifunktionären niedrigeren Ranges nicht näher bekannt. Man weiß nur so viel, dass Kaczyński von Menschen umgeben wird, mit denen er seit fast einem Vierteljahrhundert zusammenarbeitet. Und dass sich die Beziehungen innerhalb dieser Gruppe auf Loyalität und gegenseitiges Vertrauen stützen. Obwohl die tatsächliche Anfälligkeit des PiS-Vorsitzenden gegenüber den Überredungskünsten der Mitglieder diese Gruppe ebenfalls nicht näher bekannt bleibt.

 

Das am besten gehütete Geheimnis sind dagegen die wahren Ziele und langfristigen Pläne jener informellen Machtelite, gut versteckt hinter massiven Propagandaansagen. Das Kommentieren von Politik im heutigen Polen erinnert also an die ehemalige Sowjetwissenschaft; die Prognosen werden auf der Grundlage flüchtiger Prämissen, Fetzen von Meldungen, der Interpretation öffentlichen Händedrückens (oder dessen Ablehnung), rhetorischen Verschweigens und der Grimassen des Vorsitzenden geschrieben. Was selbstverständlich nur das Chaos und die allgemeine Unsicherheit steigert.

 

Nach der Machtübernahme durch die PiS wurden dem Mechanismus politischer Kontrolle Einrichtungen unterstellt, deren Unabhängigkeit von der Verfassung garantiert wird. Doch diese Garantien wurden gebrochen. Zuerst wurde das Verfassungsgericht in eine Dekoration des politischen Systems verwandelt. Nach der üblichen Methode von Kaczyński, die darin besteht, hörige Funktionäre zu delegieren. Nun wurde ein Tor geöffnet, das analoges Vorgehen in ordentlichen Gerichten ermöglicht.

 

Und es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass der letzte Austausch des Ministerpräsidenten parallel zum Beschluss der Gesetze über das Höchste Gericht und den Landesgerichtsrat durch das Parlament geschah. Angesichts der Unterzeichnung dieser Gesetze durch Präsident Duda nähert sich der Prozess der Unterordnung des politischen Willens fundamentaler Systeminstitutionen grundsätzlich seinem Ende zu (seiner Unabhängigkeit erfreut sich noch der Rechnungshof sowie der weniger bedeutende Ombudsmann für Bürgerrechte). Man sollte also die Frage stellen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Die Opposition hat automatisch erklärt, dass die Nominierung Morawieckis propagandamäßig die Politisierung der Gerichte „verdecken“ sollte. Diese These ist jedoch fragwürdig. Denn während der erste, misslungene Versuch, die Gerichtsgesetze durch das Parlament zu bringen, im Sommer Massenproteste hervorgerufen hatte, so rief seine Verlängerung im Dezember keine so großen Emotionen hervor.

 

© istock/eugenekeebler

Wenn man den ganzen monatelangen Prozess der „Rekonstruktion“ betrachtet, liegt einem die Schlussfolgerung nahe, dass Morawiecki bereits im frühen Herbst dieses Jahres dafür vorgesehen war, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen. Die erste Ankündigung von Veränderungen innerhalb der Regierung äußerte Kaczyński Anfang Juli während des Programmkongresses der PiS. Morawiecki hielt damals seine Rede, gleich nach dem Vorsitzenden, die in vielerlei Hinsicht die Thesen seines kürzlichen Exposés antizipierte. Dafür hatte man der Ministerpräsidentin Beata Szydło kein Stimmrecht gegeben. In der politischen Botschaft des Kongresses wurden jedoch zwei fundamentale Fragen übergangen. Der damals offiziell vorgestellte Regierungsplan für den Rest der Amtszeit erhielt keine Ankündigung einer schnellen – wie sich das plötzlich zwei Wochen später erweisen sollte – parlamentarischen Offensive, die gegen die unabhängige Gerichtsbarkeit gerichtet war. Auch die wahre Natur der vorhergesagten „Rekonstruktion“ wurde verfälscht. Sie sollte nur die schwächsten Minister betreffen, während die Tage der Regierung von Beata Szydło höchstwahrscheinlich schon gezählt waren. Kaczyński rechnete offenbar damit, dass es ihm im Sommer durch Überrumpelung gelingen würde, die Gerichtsgesetze durchzusetzen. Und im September sollte die Regierung Morawicki entstehen und eine neue Eröffnung verkünden. Dieser Plan wurde unerwartet durch die gesellschaftlichen Proteste und das Veto des bisher den Anweisungen der PiS hörigen Präsidenten zunichtegemacht.

 

Das waren die Quellen des Herbstchaos. Kaczyński musste einerseits mit dem Präsidenten die Form der korrigierten Gesetze diskutieren, andererseits so tun, als ob es eine „Rekonstruktion“ geben würde, die, einmal angekündigt, ihr eigenes Leben in den Medien zu führen begann und Streit in die internen Beziehungen im Regierungslager brachte. Anstatt die Spekulationen durch schnelle Personalentscheidungen zu beenden, musste der PiS-Vorsitzende wochenlange Spekulationen ertragen, die die Vielfalt der asymmetrischen Konflikte im Hinterland seiner Partei entblößten. Erst der Gerichtskompromiss mit dem Präsidenten im Dezember ermöglichte Kaczyński eine Veränderung der Kräfteverteilung in der Regierung.

 

Wenn es also einen engen Zusammenhang zwischen dem Austausch des Premierministers und der Verabschiedung der Gerichtsgesetze gibt, dann haben wir es mit etwas mehr als einem einfachen Imageeingriff zu tun. Es sieht so aus, als ob es zu einer wesentlichen Änderung des Regierungsparadigmas kommen würde. Von diesem Standpunkt aus gesehen war die Regierung von Beata Szydło nur ein Vorposten der ans Ziel führenden Veränderung, die höchstens ihre Eingangsparameter bestimmte. Einerseits dazu einberufen, schnell die großzügigen sozialen Versprechen aus dem Wahlkampf zu realisieren, andererseits die Absicherungen des politischen Systems brutal zu zerstören, die die Omnipotenz des „Zentrums der politischen Disposition“ einschränkten. Somit nahm die Regierung jegliches damit verbundene Risiko auf sich: den gesellschaftlichen Widerstand im Lande sowie den Druck, der seitens der Institutionen der Europäischen Union und der Regierungen der Mitgliedsstaaten gemacht wurde. Um dann zum Schluss das ganze Odium der räuberischen Mission auf sich zu nehmen.

 

Beata Szydło war also der Blue Collar des „guten Wechsels“. Eine Arbeiterin am politischen Fließband, die Anweisungen ausführt und keine überflüssigen Fragen stellte. Mateusz Morawiecki wurde dagegen die Rolle des White Collar zugeschrieben – des kreativen Managers, der die rechtswidrige Beute legalisiert und sie in einem langfristigen Modernisierungsprojekt verwurzelt, und vom stattgefundenen Raub nicht direkt belastet ist. Als stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung Szydło hielt er sich meist von den schwierigen Fragen auf Abstand und baute sein persönliches Image eines Wirtschaftsvisionärs auf – nun sollte er mit einem neuen Angebot der Mittelklasse und der Geschäftswelt sowie den europäischen Partnern entgegenkommen. Er sollte die politische Agenda erweitern, versuchen, das ruinierte Vertrauen wiederaufzubauen und die neue Ordnung in den Augen der Zentrumwähler glaubhaft machen, indem er sie, nach dem Vorbild von Ungarn unter der Fidesz-Regierung, praktisch alternativlos machte.

 

Es gab nur ein Problem. Die Volksklassen, von denen immer noch die gesellschaftliche Legitimierung der PiS-Regierung abhängt, hatten sich inzwischen mit der Ministerpräsidentin identifiziert. Sie verliehen ihr eine strategische Autonomie, was Jarosław Kaczyński eher nicht vorgesehen hatte. Szydło sollte nur das Risiko der ersten Etappe amortisieren, unterdessen wurde sie zur Ikone des „Durchschnittspolen“, an den die Propaganda des Regierungslagers ihre Botschaft richtete. Misstrauisch bei den Wählern der Intelligenz aufgenommen, wurde sie zur Personifizierung des „Landesdurchschnitts“, der in der Provinz lebt, traditionelle Identitäten pflegt, religiös, misstrauisch gegenüber der Globalisierung und entsetzt über die Drohung des Zustroms von Flüchtlingen ist. Die jeglicher rationellen Begründung beraubte plötzliche Entlassung von Beata Szydło rief eine Welle von Widerstand und Entrüstung bei den rechten Wählern hervor, die in den Internetforen zum Ausdruck kam. Zum ersten Mal in der Geschichte der PiS wurde die unangetastete Autorität von Jarosław Kaczyński in Frage gestellt.

 

Es ist jedoch schwierig vorherzusagen, welche Konsequenzen das nach sich ziehen wird. Aus den eigenen Quellen des Verfassers dieses Textes folgt, dass die PiS einige Tage vor dem Austausch der Ministerpräsidentin bei einem Meinungsumfrageinstitut eine vergleichende Untersuchung der Beliebtheit von Szydło, Morawiecki und Kaczyński als idealen Kandidaten für den Posten des Ministerpräsidenten in Auftrag gegeben hatte. Und es erwies sich, dass unter den rechten Wählern die beiden ersten sich einer ähnlichen, hohen Beliebtheit erfreuten. Deutlich niedriger beurteilte man dafür Kaczyński. Aber bei der Gesamtheit der Wähler war Morawiecki bereits konkurrenzlos und gab als einziger Hoffnung, dass seine Unterstützung wachsen würde. Was die internen Stimmungen mit Sicherheit beruhigt hat.

 

Vieles deutet also darauf hin, dass die Nominierung Morawieckis zum Premierminister in Kaczyńskis Plan die Endetappe seines Kreuzzugs gegen die Dritte Polnische Republik ist. Nach der mit Gewalt erfolgten Verletzung der systempolitischen Regeln der Republik kommt nun die Zeit, in der das Modernisierungserbe, das mit den liberalen Reformen von Leszek Balcerowicz assoziiert wird, verlassen wird. Die punktuellen sozialen Transfers der Regierung Szydło waren nur der Vorbote des Wechsels. Morawiecki wird sich jetzt bemühen, die Wirtschaft auf ganz neue Gleise umzustellen: das Staatseigentum zu konsolidieren, das polnische Kapital aufzubauen, die Abhängigkeit von ausländischen Investitionen zu verringern. Ohne eine zumindest teilweise Gewinnung der alten Eliten für eine Zusammenarbeit kann jedoch keine Rede davon sein. Daher die Gemeinschaftssuspension, die Morawieckis Exposé zusammenschweißt – er rief dazu auf, den politischen Krieg zu beenden und sich dem großen Projekt anzuschließen. Nur würde die Annahme dieser Einladung – was der Ministerpräsident natürlich nicht mehr sagte – voraussetzen, sich mit der autokratischen politischen Ordnung und einer dauerhaften Domination der PiS abzufinden. Im Angebot gibt es also Zuckerbrot, dahinter verbirgt sich aber eine dicke Peitsche.

 

Polen hatte jedoch schon immer ein Problem mit großen Plänen. Es besteht darin, dass diese selten in Erfüllung gehen. Auch in Kaczyńskis Szenario ist ein fundamentaler Widerspruch enthalten. So ist nämlich Morawieckis Angebot inklusiv, doch die politische Methode von Kaczyński bleibt weiterhin ausgrenzend. Der eine soll Vertrauen wiedergewinnen, der dauerhafte Handlungsmotor des Anderen ist dagegen Misstrauen.

 

Morawiecki wird das Chaos ordnen, das wiederum Kaczynski unbedingt braucht, um zu führen. Und ein Kompromiss wird kaum möglich sein, da die Abhängigkeit zwischen ihnen einseitig ist. Es ist der PiS-Vorsitzende, der der Schirmherr des Ministerpräsidenten ist. Und der Ministerpräsident ist ein Klient des Vorsitzenden.

 

Somit sollten die vielen Prognosen nicht ganz ernst genommen werden, dass Jarosław Kaczyński bei dieser Gelegenheit seinen Nachfolger gesalbt habe. Das Schlagen Morawieckis zum künftigen Anführer der polnischen Rechten scheint verfrüht. Sogar wenn der Vorsitzende vielleicht heute ein solches Szenario plant. Denn endgültige Szenarien liegen nicht in der Natur dieses Politikers. Sicherer ist es, der Intuition von Hannah Arendt zu folgen, dass Diktatoren sich leicht in ihre Favoriten verlieben, jedoch nicht für feste Beziehungen geeignet seien. Und das Testament kommt gewöhnlich in die Hände des Auserwählten, der das Glück hatte, ausgerechnet im wichtigsten Moment zur Hand zu sein.

 

Aus dem Polnischen von Agnieszka Grzybkowska

 

Rafał Kalukin

Rafał Kalukin

Rafał Kalukin ist politischer Kommentator der polnischen Wochenzeitschrift "Polityka".

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