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Hellmut von Gerlach – der vergessene Fürsprecher der deutsch-polnischen Verständigung

In den ersten Jahren nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit durch Polen 1918 schrieben sich nicht viele Deutsche positiv in die deutsch-polnischen Beziehungen ein. Eine Ausnahme war jedoch zweifellos der Kunstmäzen, Diplomat und Pazifist Harry Graf Kessler. Dieses Jahr wurden Teile seiner Tagebücher auf Polnisch herausgegeben, und in verschiedenen Städten Polens eine Ausstellung über ihn gezeigt. Ergänzend kam die Premiere des Dokumentarfilms von Sabine Carbon und Felix Oehler „Der Marschall und der Mann von Welt: Harry Graf Kessler und Józef Piłsudski“ hinzu. Schade, dass dabei nicht noch eine weitere Gestalt ins Licht getreten ist. Es geht um den Politiker, Publizisten und Pazifisten Hellmut von Gerlach. Man könnte sogar den Eindruck bekommen, dass er in den letzten Jahrzehnten bewusst übergangen, sogar vergessen wurde. Ob zu Recht? Lag eine der Ursachen vielleicht darin, dass er in der DDR als Schirmherr der Verständigung mit dem kommunistischen Polen instrumentalisiert wurde? Ich möchte hier die wichtigsten Fakten aus seiner Biografie anführen und werde dann meine besondere Aufmerksamkeit auf sein Verhältnis zu Polen und den deutsch-polnischen Beziehungen richten.

 

Herkunft und Studium

Hellmut von Gerlach wurde 1866 im schlesischen Moenchmotschelnitz (heute Moczydlnica Klasztorna) im Landkreis Wohlau geboren. Er war Sohn des Gutsbesitzers Max von Gerlach (1832-1909) und dessen Ehefrau Welly, geborene Peyer (1832-1899). Die Familie war nicht vermögend, ihren Adelstitel besaß sie erst seit kurzem. Hellmuts Großvater väterlicherseits war der Polizeipräsident von Berlin, Karl von Gerlach (1792-1863). Sein Elternhaus erzog ihn entsprechend den traditionellen, vom preußischen Adel kultivierten Tugenden.

„Der Mensch muss sich beherrschen”, lehrte ihn sein Vater. „Das war das Wort, das ich am häufigsten von ihm gehört habe. Es wurde Leitmotiv meines Lebens.“

Von Gerlach studierte Rechtswissenschaften in Genf, Straßburg, Leipzig und Berlin. Er gab jedoch seine vielversprechende Beamtenkarriere auf, was einen Konflikt in der Familie hervorrief. Noch während seines Studiums verdiente er sich Geld als Journalist hinzu.

 

Die Anfänge seiner politischen Tätigkeit

Nachdem er 1893 seinen Eltern mitgeteilt hatte, dass er aus dem Staatsdienst austreten würde, begann er mit seiner journalistischen Arbeit. Er wurde Redakteur der konservativen Wochenzeitung „Das Volk“ und engagierte sich auch politisch. In dieser Zeit schrieb er antisemitische Texte, was er später bereute. In den 1890-er Jahren vertrat er einen konservativen Staatssozialismus. Seine damaligen Ansichten bezüglich einer politischen Partei formulierte er in dem Satz:

 

„Die Partei sollte christlich, monarchistisch, agrarisch, militärisch und sozial sein.“

 

Er war ständiger Gast in den Salons der Berliner Eliten. Nachdem er 1896 die Redaktion von „Das Volk“ verlassen hatte, engagierte er sich in die Arbeit für den liberalen Nationalsozialen Verein von Friedrich Neumann. Er war dort als Herausgeber und Journalist tätig und gab die in Marburg erscheinende „Hessische Landeszeitung“ heraus. 1903 wurde er für diesen Wahlkreis in den Reichstag gewählt. Im Parlament beschäftigte er sich mit Außenpolitik, kritisierte die Machtmissbräuche der preußischen Monarchie und ihres Militarismus. Zum ersten Mal beschäftigte er sich nun auch detaillierter mit polnischen Fragen, ihn interessierte die Politik des deutschen Staates gegenüber der polnischen Minderheit. Er kritisierte die preußische Gesetzgebung, vor allem wegen ihrer Verstöße gegen das Gesetz sowie des Beschließens von Gesetzen, die gegen die polnische Minderheit gerichtet waren.

 

Zugleich war es auch eine Kritik seiner eigenen Familie. Sein Bruder Walter hatte nämlich Marie von Tiedemann geheiratet. Deren Verwandte, Heinrich und Christoph Tiedemann, waren aktive Mitglieder des Deutschen Ostmarkenvereins, der berüchtigten HaKaTa. 1908 kritisierte von Gerlach die sog. Sprachenparagraphen des neuen Reichsvereinsgesetzes (sog. Maulkorbgesetz), die die Benutzung einer anderen Sprache als der deutschen bei öffentlichen Versammlungen außerhalb von Gebieten verboten, in denen die polnische Bevölkerung eine deutliche Mehrheit darstellte.

 

Diese Kritik wurde zur Ursache für seinen Bruch mit den Nationalliberalen, seinen Austritt aus der Partei und seinen Verzicht, die Zeitung weiterhin herauszugeben. 1908 wurde von Gerlach Mitbegründer der Partei Demokratische Vereinigung. Zu den polnischen Fragen kehrte er 1918 zurück.

 

Pazifist und Befürworter der Verständigung mit Polen

Nach 1910 engagierte sich Gerlach in der pazifistischen Bewegung. 1914 gründete er die Organisation „Bund Neues Vaterland“. Als sie zwei Jahre später verboten wurde, war er in anderen pazifistischen Organisationen aktiv. Nach dem Sturz des Kaiserreiches engagierte er sich in der offiziellen Politik. An der Wende der Jahre 1918/19 war er Staatssekretär im preußischen Innenministerium. Man vertraute ihm die polnischen Fragen an. In der Nacht vom 19.-20. November 1918  machte er sich auf den Weg nach Posen, um an Ort und Stelle die Probleme der Stadt und der Region nach der Entstehung des polnischen Staates kennenzulernen und um sich um weitere Lebensmittellieferungen nach Deutschland zu kümmern. Die Provinz Posen wurde damals als Hauptlieferant für Kartoffeln, Getreide und Zucker betrachtet. Diese Mission beschrieb er in seinen Erinnerungen, die 1937, nach seinem Tod in Zürich veröffentlicht wurden. In Posen hielt er sich nur einen Tag auf, führte aber viele Gespräche. Beim Treffen mit dem Obersten Volksrat, dessen Vorsitz der spätere Bischof Stanisław Adamski innehatte, betonte er, er wolle nicht über territoriale Fragen sprechen. Diese sollten von der künftigen Friedenskonferenz entschieden werden. Er versuchte die Polen davon zu überzeugen, dass bis dahin keine Entscheidungen bezüglich administrativer Veränderungen getroffen werden sollten, darüber hinaus sollten die Lebensmittellieferungen beibehalten werden. Adamski erklärte sich damit einverstanden, diese Vorschläge zu erwägen. Er verlangte eine Abschaffung aller gegen die Polen gerichteten Ausnahmegesetze, vor allem im Schulwesen. Er hob hervor, dass keine Militärabteilungen in die Provinz entsandt werden sollten, falls die Verpflichtung der Lebensmittellieferungen eingehalten werden sollte. Nach seiner Rückkehr nach Berlin schrieb von Gerlach einen Bericht. Seine Beurteilung der Situation wurde nur teilweise übernommen. Das Verteidigungsministerium drang darauf, Soldaten loszuschicken. Sie sollten den Abzug der deutschen Soldaten aus dem Osten absichern (wo etwa eine halbe Million von ihnen stationierte). Die Spannungen wuchsen. Schließlich brach am 27. Dezember 1918 der Aufstand in Großpolen aus, infolge dessen sich Posen und die ganze Provinz innerhalb der Grenzen des polnischen Staates wiederfand.

 

Das Vorgehen und die Haltung von Gerlachs wurden in Deutschland scharf kritisiert. Man bezeichnete ihn als Landesverräter. In Februar 1920 entging er knapp einem Mordanschlag. In den weiteren Monaten erhielt er Drohbriefe. Auch sein Leben war bedroht.

 

Gerlachs Frau Hedwig schrieb:

„Von allen Seiten wird meinem Mann geraten, Berlin zu verlassen. Graf Harry Kessler brachte uns gestern die Äußerung eines Militärs aus Spandau: „der nächste dran ist Gerlach“. Hoffentlich kommt mein Mann noch glücklich in Sicherheit… Wir sehen alle sehr schwarz in die Zukunft.“

 

Exil

In der Zeit der Weimarer Republik war von Gerlach weiterhin in der pazifistischen Bewegung engagiert. Er gehörte der Deutschen Friedensgesellschaft an und hatte die Funktion des stellvertretenden Vorsitzenden der Deutschen Liga für Menschenrechte inne, ab 1926 war er ihr Vorsitzender. Bis 1930 war er Chefredakteur der viel gelesenen Zeitung „Welt am Montag“, eine Zeit lang redigierte er auch die „Weltbühne“ (nach der Verhaftung ihres Chefredakteurs Carl von Ossietzky). Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bedeutete für ihn eine erneute Bedrohung. Trotz seines hohen Alters entschied er sich für das Exil. In März 1933 verließ von Gerlach Deutschland, ging zuerst nach Österreich und dann nach Frankreich. Dort starb er 1935.

 

Noch im Jahre 1919, als sich der Konflikt zwischen Polen und Deutschland verschärfte, schrieb er in der Broschüre „Der Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik“ ein Programm dafür, wie man  in den Beziehungen mit dem östlichen Nachbarn vorgehen sollte.

 

„(…) Verständigung! Sonst kommt man nie aus der Verhetzung der Völker heraus. Darum gilt für mich in Bezug auf die Polenpolitik dasselbe wie für die Politik überhaupt. Schluss mit der Gewaltpolitik! Auf Jahrzehnte und Jahrhunderte hinaus werden wir uns mit den Polen, unseren Nachbarn, einrichten müssen, wir sind aufeinander angewiesen,  der Handelsverkehr muss gepflegt und entwickelt werden mit aller Kraft, ein friedliches Zusammenleben muss ermöglicht werden. Da darf man nicht zu Werke gehen mit dem Gedanken: bei der nächsten Gelegenheit Revanche genommen, losgepaukt, zugesehen, wer der Stärkere sein wird! Nein, Verständigung!“

 

Der Aufruf von Gerlachs bleibt auch noch einhundert Jahre nach seiner Entstehung aktuell.

Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz

Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

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