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Kein Andrang beim Austritt aus der EU

Aureliusz M. Pędziwol spricht mit dem Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Polen, Botschafter Dr. Marek Prawda.

 

Herr Botschafter, einen Polexit wird es nicht geben?

 

Das steht im Augenblick nicht zur Debatte. Ich kann kein akutes Risiko für eine solche Entscheidung sehen. Eher halte ich es für möglich, dass Polen sich unter besonders nachteiligen Umständen immer weiter von den Grundlagen der Europäischen Union entfernen wird.

 

Ähnlich wie Sie habe ich seit langem den Eindruck, Warschau möchte Polen nicht aus der Europäischen Union herausführen, sondern seine Rolle in Brüssel immer weiter verringern, es dazu bringen, dass das Land innerhalb der EU nur noch eine marginale Rolle spielt. Doch vor den Wahlen zum Europaparlament präsentierte sich die polnische Regierung so entschieden proeuropäisch, dass sich diese Sicht möglicherweise geändert hat?

 

Ich denke, die Probleme bleiben dieselben. Uns steht vielleicht kein Exit bevor, doch es ist ziemlich klar, dass Polen auf dem EU-Zug ohne Fahrschein mitfahren möchte, und zwar nicht nur als blinder Passagier, sondern auch ohne die von der EU gesetzten Regeln einzuhalten.

In vielen Mitgliedstaaten der EU besteht die Schwierigkeit eher darin, wieder deutlich zu machen, wozu die EU eigentlich da ist und wie wir am vernünftigsten unsere Mitgliedschaft nutzen. Und auch ein Gefühl dafür zu vermitteln, was wir unsererseits der EU zu bieten haben, denn auf diese Art haben wir Einfluss darauf, in welche Richtung sie sich entwickeln soll.

 

Die Gefahr einer Demontage der EU ist doch abgewendet, da die populistischen und extremistischen Parteien weniger Stimmen bekommen haben als erwartet?

 

istock/cranach

Das Wahlergebnis ist insofern beruhigend, als die populistischen, antieuropäischen Parteien zwar Einfluss haben, aber doch nicht stark genug sind, um gleich den Fluss umzuleiten, auf dem wir uns befinden. Sie sind höchstens in der Lage, couragiertere Integrationsvorhaben zu blockieren. Sicher werden sie aber mehr Lärm verursachen.

Das Urteil der Wähler ist insofern eindeutig, dass Parteien im Parlament überwiegen, die sich für die europäischen Errungenschaften einsetzen. Die Reaktion auf den wachsenden Populismus ist gewissermaßen eine proeuropäische Wiederbelebung.

Unlängst sprach ich mit Fachleuten, die sich selbst als Europaskeptiker sehen. Sie fragten mich: „Weshalb freuen Sie sich so, dass die europaskeptischen Parteien nicht ganz so stark sind? Darin besteht doch gar nicht das Problem. Es besteht darin, dass die Europäische Union keine Antworten auf die Herausforderungen findet, die sich heute stellen, wie in der Wirtschaft und aufgrund des politischen Drucks von Seiten Chinas, in der Technologie und beim Klima. Dagegen haben unsere europaskeptischen Parteien Ideen, wie damit umzugehen ist.“

 

Und was haben Sie darauf geantwortet?

 

Ich meine, dass doch gerade Europa bessere und sicherere, zudem auch erprobte Methoden hat, wie auf solche Probleme zu reagieren und damit umzugehen ist. Sie dagegen wollen sie kaputtmachen.

Das ist genau das fundamentale Missverständnis, mit dem wir es heute in der Europäischen Union zu tun haben. Die internationalen Konzerne machen mit den Informationen, die sie zu unserem Thema zusammentragen, was sie wollen, und sie stellen damit eine Bedrohung für unsere Freiheit und Demokratie dar. Selbst das größte Land kann auf sich allein gestellt darauf keine Antwort finden. Dazu braucht es von der internationalen Gemeinschaft entwickelte Mechanismen. Dazu brauchen wir heute die Europäische Union.

Das ist unsere Antwort. Wir müssen begreifen, worin heutzutage der Sinn des Zusammenstehens liegt. Dessen werden wir uns immer mehr bewusst, das stimmt mich hoffnungsvoll.

 

Was sind die Folgen dessen, dass Christ‑ und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament die Mehrheit verloren haben?

 

Das bedeutet, dass dieser großen Koalition im Europäischen Parlament jetzt ein paar Parteien mehr angehören werden, was sogar die Chance mit sich bringt, die Ansichten der EU-Bürger besser widerzuspiegeln. Es lässt sich nicht länger behaupten, immer dieselben zwei größten Parteien würden uns in ihrer langweiligen Art und mit ihren langweiligen Politikern ihre Weltsicht aufzwingen, ohne jemals auf andere Ansichten Rücksicht zu nehmen.

Jetzt, da es drei oder vier führende Parteien gibt, wird das eben etwas anstrengender werden. Die Konstellation ist schwieriger, aber vielleicht erklärt sie uns die Welt besser. Denn diese ändert sich. Vielleicht werden die Grünen zu den intellektuellen Richtungsgebern. Nicht nur, weil ihre Positionen so wichtig wären, sondern weil sie Themen durchsetzen, die sich einfach nicht länger ignorieren lassen. Es gibt also Gründe genug, in diesen vermeintlich pessimistisch stimmenden Zeiten einen optimistischen Ton anzuschlagen.

 

Sie haben die Europaskeptiker erwähnt. Meinem Eindruck nach bezeichnen sie sich selbst lieber als Europarealisten. Die Bezeichnung „Europaskeptiker“ mögen sie nicht so sehr.

 

Alle Befürworter der europäischen Integration werden als „Europaenthusiasten“ bezeichnet damit sich jene, die dagegen sind, Realisten nennen können. Daher meine ich, wir müssen den Realismus der europäischen Antwort wiederfinden. Wer aufbauen und nicht einreißen will, muss erklären können, wozu wir die Europäische Union brauchen, wieso diese unsere Wirtschaftsunternehmen besser schützen kann und wieso wir Probleme besser lösen können, die wir gerade erst erkennen. Und das lässt sich als europäischer Realismus bezeichnen. Es gibt keinen Grund dafür, als europäischen Realisten…

 

…etwa Václav Klaus zu bezeichnen?

 

…jemanden, dessen Verdienste nur im Kaputtschlagen bestehen.

 

Herr Botschafter, was sich vor den Wahlen und eigentlich bereits seit dem Brexit abgespielt hat, ist das kein Warnsignal? Jetzt ist es nochmal gutgegangen, aber ist nicht damit zu rechnen, dass sich der Angriff auf die europäische Integration in wenigen Jahren wiederholt?

 

Natürlich dürfen wir uns jetzt nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen und uns damit zufriedengeben, zum Status quo zurückgekehrt zu sein. Die Europäische Union muss sich weiterentwickeln.

Aber wir dürfen uns auch klarmachen, dass sich die Leute nicht gerade zum EU-Austritt drängeln. Das war aber zu befürchten. Es hieß, die für ihren Pragmatismus, ihre Klugheit und ihren Realismus bekannten Briten hätten als erste begriffen, alles falle auseinander, daher sei es besser, die Sache abzuschreiben und aus der EU auszutreten.

Bei uns fand diese Reaktion zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders viel Zustimmung. Im Gespräch mit den Leuten hörte ich häufig die in triumphierenden Tonfall gemachte Äußerung, die Briten verließen als erste das untergehende Schiff. Heute dagegen ist die allgemeine Ansicht, sie verhielten sich keineswegs so schlau, weil sie mehr Ärger als Vorteile davon haben, was ihnen selbst längst klar sein dürfte. Meinungsumfragen zeigen, 54 Prozent der Briten sind inzwischen dagegen, die Europäischen Union zu verlassen.

 

Und wäre das überhaupt möglich?

 

Lassen wir einmal die Realitätsferne solcher Überlegungen außen vor. Vielmehr möchte ich feststellen, dass der Brexit und alle Lehren, die wir daraus ziehen konnten, eine Art Immunisierung gegen weitere Exits geworden sind und nicht gerade ein Vorbild, um diesen Weg einzuschlagen. Denn jetzt ist doch völlig klar, dass das keine zuendegedachte Entscheidung war.

Dank des Brexits haben wir auch begriffen, was traditionelle Souveränität im 21. Jahrhundert eigentlich bedeutet. Nämlich soviel, dass es sie nicht gibt. Es gibt keine nationale Souveränität ohne europäische Souveränität, ohne über die Werkzeuge zu verfügen, mit den globalen Problemen fertigzuwerden. Die Welt hat sich verändert. Der Grad der wechselseitigen Abhängigkeit, den wir alle bereits erreicht haben, und diese Art Zusammenarbeit machen aus jeder bloß nationalen Lösung etwas ganz Unvollkommenes. Der Brexit zeigt, es gibt keine guten Lösungen außerhalb der Gemeinschaft.

 

Das war offenbar das Anliegen der Gründerväter. Die Länder dermaßen miteinander zu verflechten, dass Krieg zwischen ihnen nicht mehr denkbar ist.

 

Genau. Am Anfang des europäischen Projekts stand doch die zwischen Deutschland und Frankreich bestehende Gefühlslage. Die Kriegsgenerationen hatten schlussendlich genug von der sogenannten „Erbfeindschaft“, sie fanden daher eine Weise, sich derart für ökonomische Zusammenarbeit zu engagieren, dass bewaffnete Auseinandersetzungen sich schlicht nicht mehr auszahlten. So dass daran niemand mehr verdienen konnte. Und das ist eine wichtige Lehre, aus der wir jetzt erneut lernen. Wie benötigen nur ein neues Narrativ, wieso wir eigentlich zusammenstehen.

 

Herr Botschafter, wird es möglich sein, in diese Verflechtung Regionen einzubeziehen, in denen das Gespenst des Krieges noch in frischer Erinnerung ist? Ich denke an den Balkan, ich denke an die Ukraine…

 

Selbstverständlich. Die Ukrainer setzten sich auf dem Majdan für genau die Werte ein, die unsere Gemeinschaft ausmachen. Das hat unserem europäischen Projekt neuen Inhalt und neue Dramatik gegeben.

Für das, was heute passiert, ist jedoch wichtig, dass wir mit Blick auf den Brexit, den Balkan oder die Ukraine nicht vergessen, dass Polen mit dem Beitritt zur Europäischen Union einen zivilisatorischen Anker geworfen hat. Denn ob nun die Briten austreten oder nicht, ob es ihnen damit gut oder schlecht ergeht – niemand wird sie deshalb aus dem Westen ausschließen. Doch in der Lage unseres Landes, das Jahrhunderte im Durchzugsgebiet zwischen Ost und West gesessen hat, also im Nirgendwo, ist die Europäische Union schlechterdings eine historische Gelegenheit, einen Anker in einer Welt bestimmter Werte und Institutionen zu werfen, die uns eine in unserem Teil Europas unbekannte Stabilität gewähren. Bei einem Land wie Polen, das geopolitisch so exponiert ist, ist das von besonderem Wert.

 

Und der Balkan? Halten Sie es für denkbar, dass die Europäische Union sich in absehbarer Zeit auf die noch nicht zugehörigen Länder ausdehnt? Auf Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, das Kosovo und Albanien?

 

Wie anders sollten wir denn die Gesellschaft für Reformen und die Unterstützung der gemeinsamen Werte gewinnen, als durch die Ausweitung der Europäischen Union? Sie hat sich als bestes Projekt bewiesen, um die Gräben zwischen Arm und Reich zuzuschütten. Wir übersehen das häufig, aber die EU-Erweiterung war für viele Gesellschaften eine Art Konvergenzmaschine, mit der sich Lebensstandards angleichen und das technologische Niveau fördern ließen. Die Europäische Union sollte auch im eigenen Interesse solche Anreize beibehalten. Diese sollten nicht verkümmern.

 

Doch das Beispiel des Westbalkan zeigte gerade, dass wirtschaftliche Verflechtung nicht unbedingt vor einem Konflikt bewahrt. Diese Staaten bildeten doch einmal ein Ganzes, nämlich Jugoslawien. Trotzdem brachen Konflikte aus, bis das Land schließlich zerfiel.

 

Auch in Europa mussten wir eine Lektion in Demut lernen, denn wir hielten es für ausgemacht, dass Handel und immer intensivere Kooperation auf verschiedenen Gebieten wie von selbst die Nachbarn uns immer ähnlicher machen und sie dazu bringen würden, dieselben Werte zu akzeptieren. Es stellte sich heraus, dass es keinen solchen Automatismus gibt. Oft haben sie eher umgekehrt uns beeinflusst als wir sie.

 

Sie denken dabei an Russland?

 

Ich denke dabei an alle Nachbarn der Europäischen Union, sei es im Osten, sei es in Nordafrika. Die Geschichten unterscheiden sich sehr, es gibt Erfolge, aber auch Rückschritte und Enttäuschungen.

Außerdem erhalten diese Nachbarn noch von anderer Seite Angebote, nicht nur von der EU. Sie haben andere Partner aus anderen Teilen der Welt, die ihnen Hilfe anbieten, ohne beispielsweise bei Institutionen und Rechtsverhältnissen Bedingungen zu stellen. Und Europa hat einsehen müssen, dass es langfristig Nachbarn haben wird, die nicht vom Beitritt zur Europäischen Union träumen.

 

Für einen Großteil der Erdbevölkerung ist die Europäische Union dennoch immer noch vielleicht nicht gerade das Paradies, aber doch das Land ihrer Träume, oder etwa nicht?

 

Davon können wir uns außerhalb der Europäischen Union vielfach überzeugen. Doch sollte man sich bewusst machen – was eine weitere Lektion für die Europäische Union ist –, dass unsere Angebote an die Partner, ob nun die Nichtmitglieder oder diejenigen von außerhalb des Kontinents, sehr differenziert sein müssen und die besondere Lage eines jeden Landes berücksichtigen. Ein einziges Muster der Bekehrung zur Demokratie und der Stellung von Bedingungen reicht nicht aus. Wir müssen jedem einzelnen Land individuelle Angebote machen und gemeinsam Wege zur Annäherung an die Europäische Union erarbeiten, ohne vorab zu entscheiden, welche Art von Zusammenarbeit wir wollen.

 

Dabei ist doch wohl Afrika die größte Herausforderung?

 

Ja. Vielleicht haben gerade die Erfahrungen mit Nordafrika Europa dazu gebracht, noch einmal zu überdenken, was wir Nachbarschaftspolitik oder Erweiterungskonzepte nennen. Ich denke, Europa hat gelernt, auch etwas bescheidenere Ziele wertzuschätzen, etwa Stabilisierung und Sicherheit, und sich damit abgefunden, dass sich nicht alles im Handumdrehen haben lässt.

 

Und was ist mit Russland?

 

Das ist ein Thema…

 

…für ein eigenes Interview, schon klar.

 

…schwierig, damit jetzt noch anzufangen.

Ich denke, die Europäische Union hat im letzten Jahrzehnt verstanden, dass das Russlandproblem nicht nur diejenigen Länder betrifft, die direkt an Russland angrenzen und besondere historische Erfahrungen haben. Sondern dass es sich um eine Gefahr für die Sicherheitsarchitektur auf dem ganzen Kontinent handelt. Wir sollten es als Erfolg ansehen, dass Europa in der Einschätzung des russischen Problems einen gewissen Grad an Übereinstimmung erreicht hat. Es zeigte sich mit aller Schärfe bei der Invasion der Krim, bei der Einmischung Russlands in die Wahlen vieler Länder, und in der offenen Erklärung Moskaus, es sei nicht an einer starken EU interessiert. Um die eigene Sicherheit nicht zu gefährden, muss die EU im eigenen Interesse versuchen, Einigkeit zu erreichen und Russland eine geschlossene Position zeigen.

 

Dr. Marek Prawda (geb. 1956), Ökonom, Soziologe und Diplomat, seit 2016 Direktor der Vertretung der Europäischen Kommission in Polen. 2001–2005 polnischer Botschafter in Schweden, 2006–2012 Botschafter in Deutschland, 2012–2016 ständiger Vertreter Polens bei der Europäischen Union.

2016 erhielt er den DIALOG-Preis des Bundesverbandes der Deutsch-Polnischen Gesellschaften.

 

 

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

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