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Vor fünfzig Jahren: Brandts Kniefall in Warschau und die neue Ostpolitik

Vor fünfzig Jahren erwies der deutsche Bundeskanzler den Opfern des Zweiten Weltkriegs beim Denkmal der Helden des Ghettos in Warschau seine Ehrerbietung. Zbigniew Rokita spricht mit Professor Krzysztof Ruchniewicz über Willy Brandts Ostpolitik.

Zbigniew Rokita: Im Oktober 1971 erreichte Bonn eine sensationelle Nachricht: Als vierter Deutscher hatte Brandt den Friedensnobelpreis erhalten. Was waren die Gründe dafür?

Krzysztof Ruchniewicz: Er bekam ihn für seine Ostpolitik. Die Bundesrepublik Deutschland hatte zuvor nur mit der Sowjetunion diplomatische Beziehungen unterhalten. Die nicht vorhandenen Beziehungen zu den Ländern zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR, so auch mit der DDR, waren eine Anomalie. Das ging auch nicht mit der US-amerikanischen Politik zusammen, denn Washington betrieb seit den ausgehenden 1960er Jahren gegenüber Moskau eine Entspannungspolitik. Die Abkehr von der Hallstein-Doktrin, die vorschrieb, mit die DDR anerkennenden Staaten keine Beziehungen zu pflegen, war Brandt zu verdanken, der Anfang der siebziger Jahre nacheinander Beziehungen mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn aufnahm.

1969 hatte die SPD erstmals nach dem Krieg die Führung einer Regierungskoalition übernommen. Brandt wurde Kanzler, nachdem die Bundesregierung zwanzig Jahre lang von einem christdemokratischen Bundeskanzler geführt worden war. Worin unterschieden sich SPD und CDU in ihrem Zugang zur Ostpolitik?

Gedenktafel am Willy-Brandt-Platz in Warschau. Quelle: Wikipedia

Die Zugänge waren diametral entgegengesetzt. In der Nachkriegszeit hatte sich Konrad Adenauer ausdrücklich für eine Außenpolitik ausgesprochen, die sich auf das Bündnis mit Westeuropa und den USA stützte. Er hielt dies für eine Voraussetzung, um nach dem Nationalsozialismus die Demokratisierung und Umerziehung der Deutschen zu bewirken. Dies ließ sich am ehesten durch eine Verbindung der Wirtschaften erreichen, daher die Initiative für die Montanunion. Die politische Integration war schwieriger: Es gab zum Beispiel einen Versuch, eine gemeinsame europäische Armee zu bilden, aber wegen der Widerstände aus Frankreich wurde nichts daraus. So trat die Bundesrepublik 1955 der NATO bei. Die USA unterstützten die Westorientierung Bonns als Teil ihre Strategie zur Eindämmung des Kommunismus; dessen Expansion lag durchaus im Bereich des Möglichen, etwa infolge der Berliner Blockade von 1948/49. Die Bundesrepublik sollte als am weitesten östlich gelegenen Land des westlichen Lagers einen Damm gegen den Kommunismus bilden.

Die Unionsparteien lehnten ein diplomatisches Tauwetter mit den kommunistischen Ländern entschieden ab; das unterschied die Außenpolitik der CDU/CSU von der SPD, die sich bis 1966 in der Opposition befand. In den fünfziger Jahren hatte die SPD einerseits die prowestliche Politik der Union unterstützt, andererseits knüpfte sie an eigene Denktraditionen aus der Zeit der Weimarer Republik an, indem sie einen Balanceakt zwischen Ost und West unternahm und die Beziehungen zu Moskau zu verbessern suchte. In den sechziger Jahren distanzierten sich die Sozialdemokraten immer stärker von einer harten Linie gegen den Ostblock und entwickelten Konzepte, wie die Beziehungen zu den Ländern auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs zu verbessern seien.

Auch in der Gesellschaft änderte sich einiges; es vollzog sich ein Generationenwechsel, es gab immer mehr soziale Milieus und Institutionen, die an einer Öffnung nach Osten interessiert waren. Als schließlich 1966 die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD gebildet worden war, wurde Willy Brandt Außenminister. Das bedeutete für die deutsche Außenpolitik geradezu eine Revolution, denn Brandt brachte seine neue Ostpolitik ein, mit der er den Herausforderungen begegnen wollte, denen die Union nicht gerecht wurde.

Am 7. Dezember 1970 stattete Brandt als erster Bundeskanzler Warschau einen Staatsbesuch ab und unterschrieb den Normalisierungsvertrag. Wie reagierte die westdeutsche Gesellschaft darauf, dass damit de facto die Grenze an Oder und Lausitzer Neiße anerkannt wurde? Schließlich zeigte damals das westdeutsche Fernsehen bei der Wettervorhersage immer noch Deutschland in den Grenzen von 1937.

Bis 1990 und zur Unterzeichnung des Grenzvertrags zwischen Polen und dem vereinigten Deutschland war das Verhältnis zwischen beiden Ländern durch die Grenzfrage bestimmt. Vor allem gab es unterschiedliche Auffassungen zu den Potsdamer Beschlüssen. Polen behauptete, die Grenzdelimitierung von 1945 sei endgültig gewesen, während die Bundesrepublik darauf beharrte, die Übergabe der deutschen Ostgebiete an Polen sei eine einstweilige, während die endgültige Grenzziehung erst in einem Friedenstrag vorgenommen werden könne.

Polen war jedoch bemüht, seine Westgrenze völkerrechtlich zu legitimieren, zum Beispiel durch das Görlitzer Abkommen von 1950 mit der DDR.

Ja, doch versuchte die DDR nach 1956, das Abkommen auszuhöhlen. Es gab die bekannten Gespräche Władysław Gomułkas [1956-1970 Erster Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, Anm. d. Red.] mit dem DDR-Botschafter Rudolf Rossmeisl, der ihm auf Anweisung seiner Regierung ein vertrauliches Dokument unterbreitete mit dem Passus, DDR und Polen würden die Grenze an Oder und Neiße als Grenze zwischen Polen und der DDR anerkennen und der Vertrag sei auf zehn Jahre verbindlich.

Wie reagierte Gomułka darauf?

Er war sehr verärgert, er hatte einen Wutanfall.

Warschau bemühte sich seit den sechziger Jahren in Bonn um die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze, obwohl Polen ja gar nicht an die Bundesrepublik angrenzte. Die bis 1969 regierenden Unionsparteien hatten an ihre Wähler und an die Vertriebenenverbände zu denken. Diese waren bei Wahlen ein gewichtiger Faktor. Adenauer ließ gelegentlich Versuchsballons steigen, um die Stimmung im Lande zu sondieren. Er wies zum Beispiel Außenminister Heinrich von Brentano an, in London zu verkünden, die 1945 an Polen gefallenen Gebieten seien verloren und weiter keiner Anstrengung mehr wert. Die Vertriebenen beschimpften Brentano auf der Stelle als nationalen Verräter, viele Deutsche forderten seinen Rücktritt.

Wann begannen die Deutschen, sich damit abzufinden, dass die Gebiete bei Polen bleiben würden?

Gegen Ende der sechziger Jahre, als Brandt seine neue Ostpolitik in die Bundespolitik einbrachte. Damals gelangten die Deutschen zu dem Schluss, der Verlust ihrer Ostgebiete sei eine der Folgen des Kriegs, mit denen man sich abfinden müsse, auch wenn sich diese Überzeugung nicht über Nacht durchsetzte.

Nach Brandts Warschau-Besuch führte der „Spiegel“ eine interessante Befragung durch. Darin erwies sich, dass die Gesellschaft in der Frage gespalten war: Die einen waren von dem Besuch und von der moralischen Grundierung von Brandts Politik begeistert, die anderen waren sehr kritisch.

Am symbolträchtigsten war Brandts Kniefall vor dem Warschauer Ghetto-Ehrenmal. Annähernd die Hälfte der Deutschen fand das unangemessen und überzogen. Wieso waren sie ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des NS-Regimes immer noch nicht in der Lage, sich geschlossen hinter eine solche moralische Geste zu stellen?

In Bezug auf Frankreich etwa war man damit schon einverstanden; 1963 war Adenauer nicht kritisiert worden, als er in Reims mit Charles de Gaulle eine Versöhnungsmesse besuchte. Mit Polen war das anders, es gab Stimmen, der Kanzler könne überall knien, nur nicht in Warschau. Vielen Deutschen wollte das nicht in den Kopf gehen.

Brandts Geste war für die Deutschen ein Schock, für jeden in verschiedener Weise. Die einen kamen zu der Überzeugung, man müsse mit den Polen ins Gespräch kommen, die anderen, die Sozialdemokraten wollten das Land verkaufen. Sie dürfen auch nicht vergessen, dass seit dem Krieg noch nicht so viel Zeit vergangen war: Man sprach in Deutschland weder von den Konzentrationslagern noch dem Warschauer Aufstand oder der Besatzungszeit, die Holocaustforschung war noch nicht soweit fortgeschritten wie heute. Der durchschnittliche Deutsche besaß kein allzu umfassendes Wissen dazu.

Und wieso kniete der Kanzler gerade vor dem Denkmal der Helden des Ghettos nieder? Ging es ihm um ein Gedenken an die Shoah, aus der er also die Polen ausschloss, oder wollte er doch alle Opfer Nazideutschlands in Polen einbeziehen?

Und vor welchem anderen Denkmal hätte Brandt niederknien können? Hätte er vor der Syrenka [der kleinen Seejungfer, Wappenfigur der Stadt Warschau und Skulptur in der Warschauer Altstadt; A.d.Ü.] knien sollen? In Warschau gab es damals noch nicht das Denkmal des Warschauer Aufstands. Er hätte noch vor dem Grab des Unbekannten Soldaten knien können, doch hat dieser Ort nicht ganz so einen symbolischen Gehalt.

In der Tat, außerdem ist dies ein Ort des Gedenkens an die Soldaten, nicht an die Zivilbevölkerung.

Genau. Verschiedene Leute, von Mieczysław Rakowski bis zu Brandts Ehefrau Rut haben in ihren Memoiren festgehalten, Brandt habe spontan gehandelt und das nicht zuvor geplant. Außerdem machte der Platz, auf dem Brandt kniete, damals schweren Eindruck. Heute steht dort das Museum „Polin“ [zur Geschichte der Juden in Polen; A.d.Ü.], doch damals war er noch vollständig leer, es befand sich darauf nur das Denkmal der Helden des Ghettos, das 1948 aufgestellt worden war.

Brandt kniete unter der Last der Verantwortung für die Verbrechen, die Nazideutschland während des Kriegs in Polen begangen hatte. Es gibt aber keinen Beleg dafür, dass Brandt mit seiner Geste zwischen jüdischen, polnischen oder anderen Opfern unterschied, für ihn waren das polnische Staatsangehörige. Heute neigt die konservative deutsche Geschichtsschreibung zu behaupten, Brandt habe sich ausschließlich auf die Juden bezogen, wofür es aber keinen Beweis gibt.

Brandt war nicht irgendjemand, als er diese Geste vollzog. Er war in der Opposition gegen die Nazis aktiv gewesen, war aus Nazideutschland geflohen, das ihm die Staatsangehörigkeit aberkannte, war in Norwegen und Schweden politisch und journalistisch tätig. Kannte Brandt Polen bereits vor 1970?

Während des Kriegs unterhielt er Kontakte zu polnischen Sozialisten, richtete auch einen Appell an die Warschauer Aufständischen, denen er Erfolg im Kampf gegen die Nazis wünschte. Im Juni 1956 verkündete er als Regierender Bürgermeister von Berlin, dass er ebenso wie im Falle Ungarns bereit sei, polnische Flüchtlinge aufzunehmen.

Die polnischen Zeitungen brachten kein Bild vom Kniefall Brandts; dieses Bild wurde im Westen rasch viel bekannter, ja ikonisch. Volkspolen zog es vor, die Szene mit Schweigen zu übergehen: Zum einen fand der Besuch nur zwei Jahre nach den Ereignissen des März 1968 [d.h. Studentenunruhen und antisemitisch gefärbten Reaktionen des Staatsapparates; A.d.Ü.] statt, zum andern wollte man den Buhmann in Gestalt des deutschen Revanchismus und Militarismus nicht verlieren.

Lassen Sie uns mit der polnischen Staats‑ und Parteiführung beginnen; diese war überrascht, und wie er in seinen Tagebüchern bekennt, war Mieczysław Rakowski geradezu entzückt; er erkannte, dass Brandt einen anderen Typus des Deutschen vertrat und etwas Neues im Aufzug war. Doch die Propaganda gewann die Oberhand, und die einzige Publikation, die das Bild tatsächlich brachte, war die jiddische Wochenzeitung „Folks-shtime“ (פאלקסשטימע) für in Polen lebenden Juden. Auch später wurde nicht davon berichtet, was damit zusammenhing, dass eine Woche nach Brandts Besuch die blutig niedergeschlagenen Proteste an der Ostsee ausbrachen. Das führte zum Sturz Gomułkas, des Architekten der deutsch-polnischen Annäherung, und der nachfolgenden Regierungsmannschaft unter Edward Gierek lag nicht daran, die Verdienste des Vorgängers herauszustellen. Gomułka wurde dem Vergessen überantwortet und mit ihm Brandts Kniefall.

Ignorierte die polnische Presse Brandts Visite am Denkmal der Ghettohelden vollständig?

Nicht ganz, es wurde eine Fotografie veröffentlicht, aber eine manipulierte. Es gibt zwei Fotos des knieenden Brandt, eines von einem polnischen, das andere von einem deutschen Fotografen. Interessanterweise wurde in Polen hauptsächlich die Aufnahme des deutschen Fotografen gezeigt, außerhalb Polens die des polnischen.

Und wie sah das manipulierte Foto aus?

Es zeigt nur ein Brustbild des Kanzlers; es ist also nicht zu sehen, ob er kniet oder steht, während er im Vordergrund von einem polnischen Soldaten überragt wird.

Interessanterweise habe ich in Polen auch keine Publikation der Opposition gefunden, die das Bild des knieenden Brandt gezeigt hätte.

Was ist der Grund dafür?

Die SPD bezog eine ablehnende Haltung zur Solidarność, in der sie eine große Gefahr sah. Für Brandt und nach ihm für Helmut Schmidt war die Entspannung im Verhältnis zu Moskau wichtig, die Wahrung des von der UdSSR akzeptierten Status quo, doch die Solidarność löste bei den Sozialdemokraten Uneinigkeit aus und erschwerte ihnen die Ostpolitik. Als Brandt 1985 in Warschau war, ließ sich keine Begegnung mit Lech Wałęsa arrangieren, die beiden Politiker verhielten sich zueinander skeptisch. Ihren Höhepunkt fand diese Geschichte 1989, als Brandt und Wałęsa einander feierlich die Hände reichten und Brandt bekannte, die SPD habe die Solidarność falsch eingeschätzt und sie politisch falsch behandelt.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 


Krzysztof Ruchniewicz Autor DIALOG FORUMKrzysztof Ruchniewicz ist Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

 

 

 


Zbigniew RokitaZbigniew Rokita ist Reporter und spezialisiert sich auf Themen rund um Osteuropa.

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