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Vom Umgang mit dem Scherbenhaufen. Deutsche Russlandpolitik auf dem Prüfstand

Für die Vorgeschichte und Geschichte der Bundesrepublik Deutschland besitzt das Ringen um ihre außenpolitische Orientierung entscheidende Bedeutung. In den frühen 1950er Jahren standen sich in dieser Frage die SPD unter Kurt Schumacher und die CDU Konrad Adenauers unversöhnlich gegenüber. Schumacher, der unter den Nazis im KZ gelitten hatte, sich aber als entschiedenen deutschen Patrioten verstand, lehnte die Westbindung ab und nannte Adenauer, der diese Bindung um jeden Preis anstrebte, den „Kanzler der Alliierten“.

Die CDU mit Adenauer setzte sich mit ihrem Kurs der Westintegration der Bundesrepublik durch, eine Orientierung, die spätestens seit dem Godesberger Programm (von 1959 – 1989) auch die SPD mittrug. In den entscheidenden Sätzen dieses Grundsatzdokuments sah sich die SPD als Reformpartei des Demokratischen Sozialismus, bekannte sich zur Landesverteidigung und stellte sich an die Seite der westlichen Bündnispartner. Wichtige sozialdemokratische Vertreter (z.B. Erich Ollenhauer und Herbert Wehner) stellten sich gegen alle Spielarten des internationalen Kommunismus und seiner praktizierten Variante in der DDR. Andere Kräfte innerhalb der Partei trugen diese Konsequenz nur widerwillig mit. Sie setzten weiter auf ein sozialistisches Gegenmodell zur kapitalistischen Marktwirtschaft und einen blockfreien Status der Bundesrepublik Deutschland. Bei ihnen verband sich Antikapitalismus mit Antiamerikanismus.

In den späten sechziger Jahren minderten sich innerhalb der CDU die Vorbehalte gegen eine vom sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt favorisierte Politik der Entspannung gegenüber der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Satellitenstaaten.

Entspannungspolitik hatte bereits in ihrer mit Richard Nixon einsetzenden US-Amerikanischen Version, immer zwei Gesichter. Sie konnte den historischen Realitäten der Blockkonfrontation Rechnung tragen und versuchen, die tödliche Bedrohung eines Atomkriegs zu verringern oder auszuschalten. Dies jedoch ohne den grundsätzlichen Gegensatz zwischen westlichen Demokratien und den von der sowjetischen Diktatur beherrschten Satellitenstaaten des Ostblocks zu verkennen. Friedenssicherung und Schritte zur Abrüstung bedeuteten dann nicht, die eigene Verteidigungsfähigkeit und die damit verbundene notwendige Abschreckung in Frage zu stellen.

Zahlreiche SPD-Anhänger der Entspannungspolitik setzten jedoch auf die Möglichkeit einer dauerhaften friedlichen Koexistenz und sogar Konvergenz der Systeme. Sie ignorierten die Erfahrungen brutal unterdrückter Aufstände im Ostblock und den eisernen imperialen Beharrungswillen der Sowjetunion – ein imperialer Anspruch, der immer das Ziel einer künftigen kommunistischen Weltherrschaft verfolgte.

Die Kluft zwischen Realismus und Illusionen durchzog alle Phasen einer solchen Entspannungspolitik. Im finnischen Helsinki begann im Jahre 1973 eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die am 1.August 1975 mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki endete, die von 35 Staaten des Westens und des Ostblocks unterzeichnet wurde. Es gab zahlreiche Folgekonferenzen, die sich bis über das Epochenjahr von 1989 hinaus erstreckten.

Die zweite Phase der westdeutschen Entspannungspolitik war ab Mitte der siebziger Jahre eng mit den Namen von Egon Bahr und Helmut Schmidt verbunden.

Im August 1980 läutete Polens unabhängige Gewerkschaft Solidarność und ihr Durchbruch als politische Massenbewegung die letzte Dekade der bisherigen Nachkriegsordnung ein. Anstatt in der Wirkung dieser Ereignisse, die auf den gesamten Ostblock ausstrahlten, ein Zeichen der Zeit zu sehen und die polnischen Oppositionellen, die Akteure der Charta 77 in der CSSR, die Oppositionellen in den anderen Ländern des Ostblocks und in der Sowjetunion zu unterstützen, wurden sie von den Architekten der Entspannungspolitik vor allem als Risiko und Gefährdung des Status Quo eingestuft. Vor allem Egon Bahr sah die Wirkung der polnischen Solidarność als Belastung für den notwendigen Ausgleich mit den östlichen Machthabern. Er gestand der Sowjetunion das Recht zu, in ihrem Einflussbereich zu intervenieren und verteidigte die im Dezember 1981 erfolgte Verhängung des Kriegsrechts in Polen und die Maßnahmen der Junta um General Jaruzelski als notwendig.

Helmut Schmidt machte sich nur wenig Illusionen über das Ausmaß und den Charakter der sowjetischen Aufrüstung. Bis zum vorzeitigen Ende der sozialliberalen Regierung 1982 versuchte er, gegen den erheblichen Widerstand in seiner Partei und der deutschen Friedensbewegung die Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses durchzusetzen.

Seine Distanz zu den Akteuren der späteren friedlichen Revolution war jedoch so groß, dass er hier mit völligem Unverstand glänzte. Vertreter des linken SPD-Parteiflügels, wie Erhard Eppler, setzten noch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auf die SED als Partner, was u.a. im SPD-SED Dialogpapier vom 28. August 1987 nachzulesen ist. Das der Wandel im Osten auch revolutionär von unten kommen konnte und sollte, passte nicht in dieses Denkschema.

Von Seiten der CDU gab es Kritik – Volker Rühe ersetzte hier die Formel eines Wandels durch Annäherung durch den sarkastischen Slogan „Wandel durch Anbiederung“. Aber war die Politik der CDU anders? Bundeskanzler Helmut Kohl hielt am Fernziel der deutschen Einheit fest, fand sich aber mit der langfristigen Existenz der DDR als zweitem Deutschen Staat ab. Der wütende Antikommunist Franz Jozef Strauß pflegte vertrauliche Geschäftskontakte zu dem DDR-Unterhändler Schalck-Golodkowski und half 1983 beim Zustandekommen eines Milliardenkredits, welcher die DDR vor dem wirtschaftlichen Kollaps bewahrte. Wirtschaftseliten der Bundesrepublik machten beste Geschäfte mit dem politischen Gegner. Anders sah es auf der nichtoffiziellen Seite aus.

Oppositionelle, Friedensaktivisten und Bürgerrechtler aus Ost- und Westeuropa sahen sich als „Helsinki der Verfolgten“. Sie schufen ihre eigenen Verbindungen. Darunter ein Netzwerk für den Ost-West-Dialog. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erhielt das Netzwerk weit über den KSZE-Prozess hinaus zentrale Bedeutung für die Koordinierung oppositioneller Aktionen, gemeinsame Aufrufe und Manifeste, die Stärkung der wechselseitigen Solidarität.

Zur Eröffnung der KSZE-Folgekonferenz in Wien am 3.November 1986 legte das Netzwerk ein Memorandum unter dem Titel „Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen“ vor. Es war das Resultat zahlreicher vorangegangener Diskussionsprozesse und Abstimmungen. Zu den mehreren Hundert Erstunterzeichnern gehörten prominente Vertreter der demokratischen Opposition aus Polen, Ungarn, der CSSR und anderen Ostblockländern, darunter auch der DDR, sowie zahlreiche westeuropäische Friedens- und Bürgerrechtsaktivisten. Bekannte Unterzeichner aus den USA waren unter anderem die Sängerin Joan Baez und der Schriftsteller Allen Ginsberg.

Im Zentrum des Textes stand die Schlussfolgerung, dass Sicherheit, Frieden und die Garantie der Menschen- und Bürgerrechte eine untrennbare Einheit eines gemeinsamen europäischen Hauses bilden. Am bisherigen Verlauf des KSZE-Prozesses wurde die einseitige Fixierung auf die Großmächte, auf die Ebene der Regierungen und auf die Politik von oben kritisiert. Dem wurde die Forderung nach einem Helsinki-Prozess von unten entgegengesetzt, zu dessen Verwirklichung sich alle Unterzeichner des Memorandums verpflichtet sahen. Binnen weniger Jahre bewegte sich die reale Geschichte über die kühnsten im Memorandum enthaltenen Träume hinweg, riss die bisherigen Begrenzungen und scheinbar unüberwindlichen Teilungsschranken ein.

Michail Gorbatschow scheiterte bei dem Rettungsversuch, eines zum Untergang verurteilten Systems, zu dessen Totengräber er wider Willen wurde. Sein Verdienst aber bestand darin, dass er zum friedlichen Charakter der Befreiungsrevolutionen des Jahres 1989 beitrug. Seine Grenzen zeigten sich darin, dass er über 1989/90 hinaus die Sowjetunion als Imperium und damit als Völkergefängnis zu erhalten suchte. Eine Umklammerung durch Russland, der sich wie die Ukraine, Georgien, andere Länder der Kaukasusregion, vor allem aber auch die kleineren Nationen des Baltikums mit aller Kraft zu entziehen suchten.

Die friedlichen Revolutionen der Jahre 1989/90 wurden zum Anfang einer neuen Epoche in der Geschichte Europas und der Welt. Im Streit darüber, wer ihr entscheidender Vorbereiter, Motor oder Träger war, standen sich Entspannungspolitiker in Deutschland, Vertreter westlicher Regierungen und Anhänger Gorbatschows gegenüber. Beginnend mit der Solidarność in Polen war es der Freiheitswille und die Kraft der unterdrückten Völker und Nationen im östlichen Teil Europas, die hier eine entscheidende Rolle spielten. Einem Teil von ihnen, allen voran den Balten, den Polen, Tschechen und Ungarn, aber auch den Menschen in der DDR, gelang die Ankunft, gelang der Sprung in die Gemeinschaft der Länder des freien Europas, die sich mit Demokratie, Freiheit und Wohlstand zum Vorbild entwickelt hatten. Anderen, wie den Ukrainern, die auch danach strebten, blieb er bis heute verwehrt. Ein folgenschweres Dokument, in dem sich erneut dieser Zwiespalt diese Kluft ausdrückte, war die im November 1990 verabschiedete Charta von Paris.

Ihre entscheidenden Sätze lauten:

„Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit begründen werden. Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlussakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an“.

Wie in einem Brennglas zeigten sich in diesen Sätzen alle Hoffnungen, aber auch die Illusionen vieler Anhänger der Entspannungspolitik. Sie wurden nun insoweit zu Realisten, dass sie endlich den Mut von Männern und Frauen anerkannten, die sich ihre Freiheit erkämpften. Sie blieben ihren bisherigen Illusionen aber vollends verhaftet und nährten neue, als sie die wolkigen Erklärungen der östlichen Gegenseite, in denen Gorbatschow und seine staatlichen Mitakteure von einer Friedensordnung von Lissabon bis Wladiwostok bis Lissabon fabelten, für bare Münze nahmen.

Für eine solche gesamteuropäische Friedensordnung hätte es nach dem Zerfall der Sowjetunion, die Gorbatschow unbedingt erhalten wollte, eines sich demokratisierenden Russlands bedurft, dass sich der eigenen totalitären Vergangenheit stellt und seine imperialen Gelüste ablegt.

Konnte man in der ersten Hälfte der neunziger Jahre noch auf die Versprechungen und Gesten von Boris Jelzin setzen, stellte die Folgeentwicklung mit dem ersten und zweiten Tschetschenienkrieg (1994 -1996 und 1999-2009) und dem Aufstieg des KGB-Offiziers Wladimir Putin die Abkehr von allen Ansätzen in Richtung Friedenspolitik dar. Man musste kein Hellseher sein, um den Charakter und die immer deutlicher formulierten neoimperialen Ziele Putins zu erkennen. Warnungen vor dieser Entwicklung gab es nicht nur vonseiten der mittelosteuropäischen Nachbarstaaten Russlands und den Staaten, die wie die Ukraine und Georgien ihren eigenen Weg in die Unabhängigkeit suchten. Sie wurden zu lange von zu vielen westlichen politischen Akteuren nicht ernst genommen oder ignoriert. Ebenso von wechselnden Koalitionen, welche die deutsche Bundesregierung stellten und den damit verbundenen verantwortlichen Politikern.

Über dreißig Jahre nach dem Epochenbruch von 1989, über zwanzig Jahre nach dem Machtantritt Wladimir Putins und seiner KGB-Vertrauten (Silowiki), scheint der Blick auf die deutsche Russlandpolitik eindeutig. Ein Blick der von verschiedenen Seiten erfolgt.

Der ehemalige Botschafter Rolf Nikel, der als Diplomat lange Zeit die außenpolitischen Verantwortlichen dieser Politik begleitete, schreibt in seinem neuesten Buch (Feinde. Fremde. Freunde. Polen und die Deutschen) davon, dass Deutschland vor einem der größten außenpolitischen Scherbenhaufen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland stehe. Es seien Abhängigkeiten unterschätzt worden und es habe zu optimistische Annahmen über den Charakter des russischen Systems und seine aggressive Außenpolitik gegeben.

Botschafter Nikel ist zu erfahren und besonnen, um hier vorschnelle Urteile und Schuldzuweisungen abzugeben. Er fordert eine gründliche Aufklärung von Entscheidungsprozessen und den genaueren Blick auf die beteiligten Personen daran. Bei der Vielzahl von Warnungen und internen Hinweisen, die von verschiedenen Botschaften ausgingen, den warnenden Papieren, welche in den Beratergremien kursierten, in das Parlament, die Ministerien und das Bundeskanzleramt gelangten, könne man sich nicht mit schnellen, folgenlosen Entschuldigungen zufriedengeben.

Man dürfe auch nicht bei einzelnen Personen stehenbleiben, denn es ginge um ein systemisches Versagen. Es werde jetzt sehr schnell von unvorhersehbaren Entwicklungen, von Täuschung und Selbsttäuschung gesprochen. Die Aussage, „Putin“ habe alle getäuscht, sei unglaubwürdig. Erfahrene Politiker neigen weder zu Naivität noch übertriebener Selbsttäuschung. Zudem gab es in deutschen Medien in den vergangenen zwanzig Jahren keinen Mangel an fundierter, kritischer Berichterstattung zur deutschen Russland- und Energiepolitik.

Gerhard Schröder, der seinem späteren Männerfreund Wladimir Putin das Etikett eines „lupenreinen Demokraten ausstellte“ und nach seiner aktiven Kanzlerschaft in die Dienste des Gazprom-Konzerns trat, neigt bis heute nicht dazu, die von ihm verantwortete Politik in Frage zu stellen. Zu seiner Person und Politik sind inzwischen zahlreiche Publikationen erschienen.

Eine der wichtigsten davon ist das Buch von Reinhard Bingener und Markus Wehner, dass den vielsagenden Titel „Die Moskau-Connection“ trägt und sich über weite Passagen wie ein Krimi liest. Die beiden Journalisten der FAZ widmen sich darin nicht nur der Person des deutschen Putin- Vertrauten, sondern legen ein langgewachsenes Netz deutscher und nicht nur deutscher politischer und wirtschaftlicher Interessenlagen frei. Schröder steuerte hier vom Vordersitz und nach seiner aktiven Kanzlerschaft vom Rücksitz aus:

„Zu seinem Netz zählten nicht nur deutsche Sozialdemokraten, sondern auch Manager, Unternehmer, ausländische Politiker, sowie Personen mit dubioser Vergangenheit. Die Spanne reicht von Gipfeltreffen großer Staatenlenker bis zu diskreten Zusammenkünften, von den zweistelligen Milliardensummen, die im europäischen Gasgeschäft bewegt werden, bis zu Geldströmen mit einigen Nullen weniger, die aber trotzdem bedeutsam sind. Es geht um wichtige Ämter, politische Ideale, schöne Bilder, hochtrabende Titel und schönfärberische Bücher.“ (Seite 8)

Bingener und Wehner wissen wahrscheinlich um die Gefahr, dass ihnen als Vertreter eines „konservativen Leitmediums“ mit Sicherheit einseitige Kritik der deutschen Sozialdemokratie vorgehalten werden könnte und lassen die „Ära Merkel“, das politische Handeln der Kanzlerin, ihre Versäumnisse und Ausblendungen, nicht aus.

Sie beschreiben Angela Merkel als erste deutsche Regierungschefin, die eine besondere Nähe zu Russland hatte. Als Physikstudentin nahm sie an einem Jugendaustausch in Moskau und Leningrad teil und lernte dort 1974 ihren ersten Mann Ulrich Merkel kennen. „Die russische Literatur von Tolstoi und Dostojewski kennt Merkel, eine Weile steht Katharina die Große, die russische Zarin aus Deutschland, als Porträtstich auf ihrem Schreibtisch im Kanzleramt“. Und weiter: „Trotz des emotionalen Verhältnisses zu Russland sind Schwärmereien über die russische Seele von ihr nicht bekannt. Das liegt an ihrer Biographie.“ (S.142/143)

In einem eigenen Abschnitt, welcher der „Moskau-Liebe der Union“ gewidmet ist, gehen Bingener und Wehner einigen dieser Fragen und Hintergründe nach. Sie sehen viele Wirtschaftspolitiker der CDU, die im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft waren und sich für enge Beziehungen mit Moskau stark machten. Ein Teil der Außen- und Sicherheitspolitiker der CDU wie Ruprecht Polenz und Norbert Röttgen sahen und sehen das Putin-Regime viel kritischer. Wichtiger als die Stimmen der Parlamentarier wird für Merkel aber das Urteil ihrer engsten außenpolitischen Berater gewesen sein. Christoph Heusgen, ein erfahrener Diplomat und aktueller Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, drängte sie zu einem härteren Kurs gegenüber Russland. Als Widerpart hatte er Erich Vad, Merkels militärpolitischen Berater, unter Insidern „Merkels General“ genannt. Der stand hinter der ablehnenden Haltung der deutschen Kanzlerin, als es auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 um die mögliche Zusage an Georgien und die Ukraine ging, in absehbarer Zeit in die Nato-aufgenommen zu werden. General Vad, der dann Unternehmensberater wurde, war es auch, der nach dem Ausbruch des Terrorkrieges am 24.Februar 2022 mit Selbstgewissheit verkündete, dass die Ukraine keine Woche durchhalten würde, ja durchhalten könne. Andere deutsche Militärs und hochrangige Politiker sahen das ähnlich.

In Bukarest setzte sich Merkel 2008 im Schulterschluss mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy gegen den amerikanischen Präsidenten George W. Bush durch. Dieser wollte die Ukraine und Georgien in das Vorbereitungsprogramm, den Membership Action Plan aufnehmen, was ein erster konkreter Schritt zur Nato-Mitgliedschaft gewesen wäre. Vermutlich war es diese Zurückhaltung des Westens, die Putin in seiner immer aggressiveren Außenpolitik entscheidend bestärkte.

Reinhard Bingener und Markus Wehner greifen in ihrem Buch weit in die Geschichte der SPD zurück, um sich nicht nur auf die Zeit Gerhard Schröders als Kanzler zu fokussieren. In einem Eingangskapitel wird der SPD-Bezirk Hannover, ob seiner Größe und seines Einflusses auch als „Erzdiözese“ der Partei bezeichnet, in den Mittelpunkt gerückt. Dort schuf Kurt Schumacher in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Keimzelle der Parteiarbeit in den westlichen Besatzungszonen, dort hatte die SPD auch ihre erste Bundeszentrale. Dort beginnt Jahrzehnte später der Aufstieg des linken Jungsozialisten Gerhard Schröder zum niedersächsischen Ministerpräsidenten, dort werden die ersten Maschen des Netzes geknüpft, dass ihn tragen soll, personell, wie strukturell. Ein Netz, dass ihn über die nächsten Jahrzehnte trägt und die Zeit seiner Kanzlerschaft überdauern soll. Dort, in Hannover, traut man „unserem Gerhard“ noch nach 2022 zu, seinen Freund Putin mit einem Zaubermittel auf den Friedenspfad zurückzuführen.

Um den Kontext und die Gegenseite der Moskau-Connection zu erhellen, werfen die Autoren einen Blick auf die Entspannungspolitik als Mythos der Sozialdemokratie, aber auch auf die Entwicklung des Herrschaftssystems Putins, mit dem Schröder konfrontiert war. Die Geschichte der deutschen Gasversorgung und die Entwicklung der gaswirtschaftlichen Beziehungen mit Russland fehlen in diesem Gesamtbild nicht.

Auf ihrem Weg in die Gegenwart und die aktuellen Kontroversen um das Versagen der deutschen Ostpolitik und die richtigen Lehren für das künftige politische Verhalten setzen sich die Autoren auch mit der Person von Olaf Scholz auseinander.

Seinem Weg in der SPD und als Erster Bürgermeister von Hamburg widmet sich ein Buch zweier erfahrener investigativer Journalisten, das als Lektüre neben die Moskau-Connection gelegt werden kann. Oliver Schröm und Oliver Hollenstein dokumentierten in jahrelanger intensiver, immer wieder behinderter und angefeindeter Recherchearbeit, das Zusammenkommen und Wirken eines Zirkels engster Vertrauter von Scholz in seiner Zeit als Hamburger Regierungschef. Spannend genug ist der Weg des militanten Juso-Vorsitzenden der achtziger Jahre in die SPD-Spitze und an die Seite der Hamburger Finanzwelt. Seine engsten, sorgsam ausgewählten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – von Schröm und Hollenstein, Person für Person minutiös porträtiert – trugen ihn über die Gefährdungen Hamburger Skandale und begleiteten ihn bis an die Schaltstellen im Bundeskanzleramt. Dem Leser tritt eine ganze „Hamburg -Connection“ vor Augen und lässt die Hilflosigkeit von Ermittlungsbehörden und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen erahnen, die den Gedächtnislücken und fehlenden Akten, hinterher zu kommen suchen, wenn es um Hamburger Wirtschaftsverbrechen geht. Scheinbar abseits der großen Fragen deutscher Ostpolitik, streitet hier Scholz jede Verstrickung und Mitverantwortung ab. Er hat das Glück, sich die größten Peinlichkeiten seines Parteifreundes und späteren Außenministers Steinmeier erspart zu haben. Der ging mit seinem russischen Gegenüber, Außenminister Sergej Lawrow, im wahrsten Sinne des Wortes immer wieder auf Tuchfühlung. Die beiden duzten sich und überboten sich wechselseitig mit Komplimenten und Vertrauensbekundungen.

Die offenen Fragen nach dem Versagen zurückliegender deutscher Ostpolitik erfordern den Zugang zu bisher verschlossenen Akten, das Schließen von Erinnerungslücken, das parlamentarische und gerichtliche Befragen bisher schweigender Beteiligter und Zeugen. Hier sind sich Historiker, Publizisten und auch Politiker, die daran arbeiten, einig. Ob der Weg dahin über eine Enquetekommission, weitere Untersuchungsausschüsse führt oder ob es andere Möglichkeiten braucht, wird kontrovers diskutiert.

Für die anstehenden Entscheidungen der deutschen Politik in der gegenwärtigen dramatischen Situation, ihre Offenheit und Verlässlichkeit, werden ausstehende Antworten auf die offenen Fragen der Geschichte von Bedeutung sein.

 

Literatur:

Rolf Nikel
Feinde Fremde Freunde – Polen und die Deutschen,
Langen Müller Verlag, München 2023

Reinhard Bingener, Markus Wehner
Die Moskau Connection – Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit
C H Beck Verlag, München 2023

Oliver Schröm, Oliver Hollenstein
Die Akte Scholz – Der Kanzler. Das Geld und die Macht
CH. Links Verlag, Berlin 2022

 

 

Schlagwörter:
Wolfgang Templin

Wolfgang Templin

Philosoph und Publizist, ehemaliger DDR-Bürgerrechtler.

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