Am Anfang waren die Klänge leiser klassischer Musik. Jedenfalls hätte es so sein können. Nehmen wir Debussys Prélude zu „Nachmittag eines Fauns“. Die Sommersonne scheint in das Zimmer hinein, dem ich mich vorsichtig nähere. Durch das offene Fenster umspielt der Wind die wehenden Vorhänge. Und da ist nicht nur die Musik, sondern eine sonore Stimme, die anders zu sein scheint als die Stimmen, die ich kenne. Härter und weicher zugleich, die Worte anders akzentuierend. Etwa, als ob jemand ein Gedicht rezitiert. Aber es ist kein Gedicht, es sind normale Sätze eines Gesprächs über technische Dinge. Es könnte um Julian Przyboś gehen, den Dichter, und darüber, ob die Übersetzung des ausgewählten Poems angemessen ist und ob sie sich für den zu erstellenden Band eignet. Ich trete in den Raum im ersten Stock ein, von dem ich weiß, dass er ein Macht- und Kraftzentrum ist. Vorsichtig, weil ich ein unbedeutender Praktikant bin, der sich gleich dem Herrn und Meister vorstellen wird. Das darauffolgende Gespräch ist nur kurz und ich ziehe mich bald wieder in den kalten Keller zurück, wo ich Zeitungsartikel ordne und andere banale Dinge zu erledigen habe.
Das einstige Olbrich-Haus im Darmstädter Alexandraweg war tatsächlich eine Art geistiger Olymp alles Polnischen in Deutschland. Erst viel später, als ich einen Film über ein ganz anderes Haus mit einem ganz anderen Übervater sah, das im französischen Maisons-Lafitte stand und die Redaktion der legendären „Kultura“ beherbergte, erkannte ich die Aura jenes etwas zerzausten, nach dem Zweiten Weltkrieg nur teilweise rekonstruierten Jugendstilgebäudes auf der Mathildenhöhe in gewisser Weise wieder, eine Aura, die nur spürbar war, weil sie um eine bestimmte Person herum existierte.
Karl Dedecius, dessen Geburtstag sich am 20. Mai zum hundertsten Male jährt, war eine solche Gestalt. Ich habe seit damals, den frühen 1990er Jahren, kaum einen Menschen getroffen, der über ein ähnliches Charisma verfügte wie er. Wahrgenommen wurde ich damals natürlich nicht, sondern paradoxerweise erst viel später, als ich eine durchaus nicht komplett negative Rezension der Lebenserinnerungen von Dedecius für den „Dialog“ verfasst hatte.[2] Da, so wurde mir zugetragen, schäumte er und verkündete, der Krzoska sei ja eigentlich ein Feind, man müsse aufpassen. Zuviel der Ehre, und falsch zudem…
Dedecius war sein späterer Ruhm nicht in die Wiege gelegt worden, der ihn seit den 1960er Jahren völlig zu Recht zum allseits gefeierten Brückenbauer zwischen Deutschen und Polen werden ließ: der Übersetzer, der sich selbst als Dichter und Humanist sah, dem in seiner Heimatstadt Lodz ein Raum im Historischen Museum gewidmet ist – diese Ehre wurde sonst nur Größen wie dem Literaturnobelpreisträger Władysław Reymont, dem Pianisten Artur Rubinstein und dem Dichter Julian Tuwim zuteil –, der Pazifist und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, der auf Augenhöhe mit den Mächtigen sprach. Ruhm kommt allerdings selten ganz von selbst, er entsteht aus einer höchst volatilen Kombination aus harter Arbeit, glücklichen Umständen und geschicktem Taktieren.
Dedecius war zum einen ein Meister des sinnhaften Übertragens. Er schuf das Gedicht auf eine gewisse Weise neu, indem er seine Substanz erfasste und der deutschen Sprache anpasste. Vermutlich hatte er beizeiten erkannt, dass seinen eigenen Gedichten das gewisse Etwas fehlte. Wenn er dieses aber bereits vorfand, lief er oft zu großer Form auf. Er hat selbst immer damit kokettiert, er sei zu faul, um Prosa zu übersetzen. Das dürfte aber nicht der entscheidende Punkt gewesen sein. Vielmehr hätte er bei Fließtexten kaum seinen reichhaltigen Wortschatz, seine Präzision und sein Rhythmusgefühl anwenden können. Und so ist es kein Zufall, dass manches Gedicht durch seine Übertragung im Deutschen besser klingt als im Polnischen.
Dedecius war aber nicht nur der Schöngeist, sondern auch ein Könner und Kenner des Verhandelns, Antichambrierens und Taktierens, ein hartnäckiger Handlungsreisender in Sachen polnischer Literatur. Das Deutsche Polen-Institut war trotz aller Mitwirkenden vor allem sein Kind, ständig musste er Verlage überzeugen, Bücher herzustellen, und staatliche Stellen überreden, finanzielle Mittel zu bewilligen.
Und am Ende war er auch immer mehr ein Schöpfer des eigenen Mythos, der sich an seinen zahlreichen Kontakten in der weiten Welt erfreute. Er, dem es nicht vergönnt war, das ersehnte Studium anzutreten, der zeit seines Lebens Minderwertigkeitskomplexe gegenüber Akademikern besaß, erhielt verschiedene Ehrendoktorwürden und die Ehrenprofessur des Landes Baden-Württemberg verliehen.
Ihm wirklich nahe zu kommen, dürfte kaum jemandem gelungen sein. Er war ein Angehöriger der Generation der „Kolumbusse“ nach Roman Bratnys Erfolgsroman aus volkspolnischer Zeit.[3] Seine lebensentscheidende Prägung erfolgte im Zweiten Weltkrieg. Nicht allzu viele Männer seines Jahrgangs überlebten diesen, frei von ihm wurden sie nie mehr. Wenn sie Soldaten waren, egal ob in Polen, Deutschland oder anderswo, hatten sie ihre Kameraden sterben sehen, waren selbst oft verwundet worden und in lange Gefangenschaft geraten. Sie kamen in fremde Länder, als Eroberer oder auf der Flucht, kehrten danach nicht selten nicht mehr in ihre Heimat zurück und mussten sich ein komplett neues Leben aufbauen, in dem sie kaum über ihre Traumata sprechen konnten. Die Kampfbereitschaft der jungen Polen, wie sie sich am deutlichsten im Warschauer Aufstand manifestierte, galt nicht wenigen als lächerlich und tragisch zugleich, wie es Jarosław Iwaszkiewicz Ende der 1950er Jahre formulierte. Auch viele einstige Wehrmachtsangehörige schwiegen, nicht selten Täter und Opfer zugleich. Auch Karl Dedecius schwieg über den Krieg mehr als er sprach. Meist reichte es, wenn die Worte „Stalingrad“ und „Gulag“ fielen. Viel mehr wollte die deutsche Nachkriegsgesellschaft nicht hören. Dedecius überlebte und fand im Lager sogar zur russischen Literatur, insbesondere zur Lyrik Lermontows. Das war sein Weg. Unmittelbar über seine damaligen Gefühle zu sprechen, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Erst in seinen Erinnerungen ließ er einige Blicke hinter den Vorhang zu.
Anders als man aufgrund der späten Reisen und Ehrungen, u.a. der Ehrenbürgerwürde, erwarten könnte, war die Beziehung von Dedecius zu seiner Heimatstadt Lodz keine ganz einfache. Zwar war er hier aufgewachsen, hatte ein polnisches Gymnasium besucht (u.a. weil den Eltern das deutsche zu teuer war) und hatte zahlreiche Freunde unter allen Nationalitäten gehabt. Er hatte sich als Jugendlicher an Gedichten in polnischer, deutscher und lateinischer Sprache versucht – seine Faszination für letztere wird jedem deutlich, der sich genauer mit seinen späteren öffentlichen Auftritten beschäftigt – und er hatte am gesellschaftlichen Leben der Stadt vor 1939 aktiv teilgenommen. Und dennoch gab es Schatten.
Öffentlich war das kein Thema, aber in einem Gespräch, das er 1999 mit Gustaw Romanowski führte, erwähnte er die Schwierigkeiten doch; unter der Bedingung, dass die Informationen zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht werden sollten.[4] Sie betrafen vor allem die Umstände des Todes seines Vaters nach der Befreiung (und Besetzung) durch die Rote Armee im Januar 1945. Gustav Dedecius, der jahrzehntelang bei der Lodzer Sittenpolizei tätig gewesen war, entschied sich gegen eine Flucht aus der Stadt, wurde von einem (wohl namentlich bekannten) Nachbarn, der ihn ausraubte, getötet und in einem Massengrab verscharrt. So waren die kürzeren Aufenthalte in Łódź in den 1960er und 1970er Jahren auch keine sentimental journey an die Stationen seiner Kindheit und Jugend, auch suchte Karl Dedecius kaum Kontakt mit dortigen Schriftstellern, die er offenbar größtenteils für zu unbedeutend hielt.
Vielleicht werden kritische Biographen in den nächsten Jahren noch einige Mythen um die Person des Meisters erschüttern. War er in seiner Jugend wirklich der polonophile Dandy, an dem der Siegeszug des Nationalsozialismus, der auch weite Teile der deutschen Minderheit seiner Heimatstadt zu Begeisterungsstürmen hinriss, spurlos vorüberging? Nahm er aus den schweren Jahren in Kriegsgefangenschaft sozialistische Sympathien mit, die ihn in die SBZ/DDR führten? Arbeitete er wirklich als quasi gesponserter Übersetzer für den Allianz-Konzern? War er als Direktor des Polen-Instituts tatsächlich die selbstlos-altruistische Lichtgestalt, also eine Art Franz Beckenbauer der Polonisten? All diese Fragen haben eine gewisse Bedeutung, aber egal wie die Antworten ausfallen werden, werden sie an seinem Rang als Übersetzer und Kulturvermittler, als homo litteratus – denn ein Intellektueller wollte er nie sein, Politik war ihm im Grunde immer suspekt –, kaum etwas ändern. Und wenn jemand Zweifel daran haben sollte, dann möge er ihm selbst zuhören, wie er schon am Ende seines Lebens angelangt, in Chrys Hamers Dokumentarfilm „Ein Fährmann zwischen den Welten“ von 2011 Kazimierz Przerwa-Tetmajers Gedicht „Z dawnej przeszłości“ auf Deutsch rezitiert: „Warst du ein Traum? Ein Stern, der kaum entzündet im Nebel blass mir auftaucht und verschwindet…“.[5]
[1] Paraphrase von zwei Zeilen aus Friedrich Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlands“, in: Jan Lechoń, Poesie [1952], zitiert nach Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Poesie. Band 1, hrsg. und übertragen von Karl Dedecius, Zürich 1996, S. 287.
[2] Markus Krzoska, Karl Dedecius – Ein Europäer aus Lodz, in: Dialog (2006), Nr. 74-75, S. 95-97.
[3] Roman Bratny, Kolumbowie rocznik 20. 3 Bände; Warszawa 1957; Ulrich Steltner, Der polnische „Kolumbus“ als Kollektivum, in: Columbus zwischen zwei Welten: Historische und literarische Wertungen aus fünf Jahrhunderten, hrsg. v. Titus Heydenreich, Frankfurt am Main 1992, S. 811-826.
[4] Gustaw Romanowski, Karl Dedecius (1921-2016) wspominał… Emisariusz lepszej Łodzi, in: Kronika miasta Łodzi (2016), Nr. 1 (73), S. 185-191.
[5] https://www.youtube.com/watch?v=YQfPXzxFbNQ (15.04.2021).
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