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Milan Kundera: Irrtümer und Ausweichmanöver eines Schriftstellers

„Was in einer Epoche Wahrheit ist, wird zum Fehler in einer anderen.“

Voltaire

Meine Lektüre von Milan Kundera begann ich mit dem „Scherz“ [Žert, 1965]. Das war wohl 1983, als ich, damals schon Absolvent der Polonistik, versuchte, mich vor dem Militärdienst zu drücken, indem ich mein Studium verlängerte. Der junge Held des „Scherzes“, ein idealistischer Kommunist, nebenbei auch noch so etwas wie ein Dichter und Musiker, versuchte auch, seinen Wehrdienst hinauszuschieben. Ein solches Thema widerte mich an. Vor allem aber stießen mich die Realitäten des tschechoslowakischen Kommunismus ab, die ich vom polnisch-tschechischen Grenzgebiet her kannte, in dem ich aufgewachsen war; mein Großvater hatte ein Vierteljahrhundert lang in einem tschechischen Bergwerk gearbeitet, und zwar unweit von Ostrava, wo Kunderas Held seinen Wehrdienst ableistete. „Der Scherz“ schien mir ein bisschen geschwätzig, ich las ihn ein wenig aus Pflichtgefühl bis zum Ende durch, denn ich hielt mich für einen Tschechophilen. Aber in dem Buch irritierten mich die Passagen über die mährische Folklore. Kundera benutzte sie als pittoreske Szenerie für den zentralen Erzählfaden seines Romans, die Rache für die Ungerechtigkeiten, die dem Helden in den Jahren des Stalinismus angetan worden waren. Als Tschechophiler hatte ich vorher hauptsächlich Bohumil Hrabals Prosa und die Lyrik der mir damals am wichtigsten erscheinenden tschechischen Dichter gelesen, Vladimír Holans und František Halas’. Hrabal hatte mich in Bann geschlagen, als ich Ende der 1970er Jahre seine „Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene“ [Taneční hodiny pro starší a pokročilé, 1964] las. Seine naturalistische Prosa, die eigentümlich postavantgardistisch, intuitiv, im alltagssprachlichen Idiom geschrieben und gelegentlich ekstatisch war, kam mir sehr poetisch vor. Hrabal balancierte zwischen Jahrmarktrealismus und euphorischem Onirismus [aus Rumänien stammender, auf automatisiert-intuitivem Schreiben beruhender literarischer Stil; A.d.Ü.], wodurch er sich dem Surrealismus und magischem Realismus fast schon im iberoamerikanischen Geiste annäherte. Das fand ich bei Kundera nicht.

Trotzdem las ich kurz darauf das „Buch der lächerlichen Liebe“ [Směšné lásky, 1970], weil ich die mir vor allem aus tschechischen Filmen bekannte humoristische Einstellung der Tschechen zur Erotik liebte. Ich hatte den Eindruck, das Buch sei eine Mischung aus bourgeoiser und Populärliteratur, und ich hatte es kurze Zeit darauf vergessen. Später, 1985, nahm ich mir „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ [L’insoutenable légèreté de l’être, 1984] vor, weil damals viel darüber geschrieben wurde, und der Titel suggerierte eine metaphysische Thematik. Wieder wurde ich enttäuscht. Der Roman erschien mir prätentiös. 1985 war das Jahr von Kunderas Durchbruch in Polen. Die Untergrundausgabe der „Unerträglichen Leichtigkeit des Seins“ fiel zeitlich nahezu zusammen mit der Publikation des bereits weltweit berühmten Essays „Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas“ [Un occident kidnappé, 1983; auf dt. auch unter dem Titel „Die Tragödie Mitteleuropas“; A.d.Ü.], der nicht allein der polnischen Intelligenz eine neue geopolitische Orientierung in Europa wies. Dem frivolen Kundera gelang urplötzlich im katholischen Polen ein Erfolg, der den der damals führenden polnischen Autoren in den Schatten stellte. Für die liberale, etwas künstlerisch angewehte Opposition der letzten Jahre Volkspolens, die das patriotisch-martyrologische Paradigma der Romantik bereits langweilte, öffnete sich mit Kunderas Essay ein neuer Raum, eine Erweiterung des Kampffeldes, er lieferte einen Impuls für eine Neudefinition von Polens Platz in Europa und inspirierte dazu, über eine Korrektur der eigenen Identität nachzudenken. Diskussionen darüber, wo die Mitte Europas liege und was Mitteleuropa sei, beherrschten damals den polnischen proeuropäischen Diskurs vor dem Umbruch von 1989 und noch Jahre darauf, und die Debatte um Reichweite und Bedeutungsinhalt des Begriffs ist in immer neuen politischen und kulturellen Zusammenhängen bis heute nicht erloschen. Das ist ein großes Verdienst Kunderas, der damals fast von einem Tag zum anderen zum Idol der polnischen liberalen Intelligenz wurde.

Dieser Essay über den von Sowjetrussland gekidnappten Westen und die davon verursachte Tragödie der Länder Mitteleuropas umgibt Kunderas Romanwerk mit einer Aura der Erhabenheit. Polen wurde geradezu von einer Kundera-Manie ergriffen, das Land überschlug sich mit Kommentaren, inoffiziellen Konferenzen und sekundären Publikationen. Die älteren polnischen Romanciers mussten sich gegenüber Kundera abgrenzen, und die jüngeren, wohl am meisten Jerzy Pilch, wollten so wie Kundera sein, noch bevor sie überhaupt ihr Erstlingswerk geschrieben hatten. Teils unter Pilchs Einfluss, teils wiederum aus Pflichtgefühl, las ich noch Kunderas Roman „Das Leben ist anderswo“ [Život je jinde, 1969/70], der mich peinlich berührte, weil seine Behauptungen, jemand sei schlicht Dichter und die lyrische Phase im Leben eines Mannes sei die Jugend, mir kitschig vorkamen, und nichts wies darauf hin, Kundera würde sich von diesem Kitsch lösen oder dagegen angehen. Es ließe sich zwar annehmen, der Autor rechne hier in scherzhafter Weise mit seiner poetischen, lyrischen und zugleich revolutionär-stalinistischen Jugend ab und versuche sie, symbolisch, vielleicht präziser allegorisch zu erwürgen. Thema des Romans ist, wie Kundera selbst später, nach dem Fall der UdSSR, erklärte, der Lyrismus, die poetische Empfindsamkeit. „Die revolutionäre Empfindsamkeit des kommunistischen Terrors interessierte mich, weil sie ein unerwartetes Licht auf das ewige Streben des Menschen nach Empfindsamkeit warf.“ Dieser Satz, den zu verstehen ich wohl nicht imstande bin, scheint mir zutiefst vom Stalinismus geprägt zu sein. 1969, im Angesicht der Invasion der Tschechoslowakei durch sowjetische Truppen und ihres Rückfalls in den Sozrealismus, wich Kundera, damals noch Mitglied der kommunistischen Partei, elegant der Abrechnung mit der eigenen stalinistischen Vergangenheit aus. Ebenso wenig vollzog er sie später. Auf den Begriff der Empfindsamkeit stützte er, wenn auch dialektisch, seine Definition des Romans als „antilyrischer Lyrik“.

Ich hörte also 1988 auf, Kundera zu lesen. 2005 kam ich auf ihn zurück, um seine Einstellung zur Lyrik Jan Skácels kennenzulernen, des empfindsamsten tschechischen Lyrikers des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Und ich stellte fest, dass Kundera trotz seiner erklärten Bewunderung für die Poetik seines mährischen Freundes in dem Roman „Die Unwissenheit“ [L’ignorance, 2000] diese diskret für die Zwecke seiner „antilyrischen“ Bedürfnisse manipulierte. Unlängst, nach Kunderas Tod, warf ich erneut einen Blick in seine Bücher. Seine Romane erscheinen mir immer noch gezwungen, aufdringlich dialektisch und gleichsam provokativ-launisch misogyn. Geschrieben mit merklichem, gleichsam philosophischem Vorbedacht, der auf effektvolle Konstruktionen und Abwandlungen hinausläuft, die eher intellektuell als künstlerisch sind. Doch ihre Botschaft beruht oft auf falschen oder stereotypischen Voraussetzungen. Der Plot des „Scherzes“ lässt sich heute nur noch als plump sexistisch lesen. In Kunderas Romanen ist ein opportunistischer Hang zu spüren, leicht lesbare Prosa zu schreiben, seit 1969 vor allem für den westlichen Rezipienten, die aber auch – um dem Verdacht niedriger Beweggründe aus dem Weg zu gehen – eine solche, die essayistische Passagen und gelehrte, metaliterarische Kommentare enthielt. Dass sich in Kunderas Prosa erotische mit politischen Aspekten verbanden, erschien mir obsessiv und stereotypisch und daher kitschig. Der brutale Zusammenprall dieser beiden Sphären war in der tschechischen Literatur nichts Neues. In den Jahren des Stalinismus verwandte Egon Bondy in strenger, lapidarer Weise dieselbe Methode in dem Gedichtzyklus „Totaler Realismus“ [dt. Ausgabe: In Straßenbahnen: Totaler Realismus I, 2023], auch die tschechischen Surrealisten pflegten damals eine ähnliche Sicht. Gerade sie, die im künstlerischen Untergrund aktiv waren, assoziierten den stalinistischen Terror mit Sadismus und der Libertinage der Aufklärung. Die Methode der modernen Lyrik, Collage und kontrastierende Montage, wandte Kundera auf die Prosa an, wobei er sich thematisch an die Stimmungen und Erwartungen des westlichen Rezipienten anpasste, der damals, in den ausgehenden 1960er Jahren, gerade die sexuelle Revolution und die Studentenrevolte erlebte. Der Autor des „Buchs vom Lachen und Vergessen“ [Kniha smíchu a zapomnění, 1978] bediente sich dabei der Abstraktion und Allegorisierung, was oft zu Reduktion führt, zur Verflachung des Bilds der Wirklichkeit, mithin zu Kitsch, wobei Kundera, wenn er sein eigenes Werk kommentierte, Kitsch tadelte und ablehnte. Das war sicher damit zu erklären, dass er die konventionelle Definition von Kitsch als Widerspiegelung sentimentaler Banalität zugrunde legte. Unterdessen rührt in der Postmoderne der Kitsch aus der Akzeptanz des Stereotyps, des Gemeinplatzes oder des Dogmas als Ausgangspunkt zur Erklärung der geheimnisvollen Komplexität der Welt, der politischem Druck ausgesetzten zwischenmenschlichen Beziehungen und dem Fatalismus der sogenannten Geschichte. Dem Romancier droht der Kitsch besonders dann, wenn er das dunkle Dickicht der menschlichen Welt, die in eine außermenschliche Wirklichkeit getaucht ist, in einfacher, verständlicher, leichter, zugänglicher und anziehender Weise darstellen will.

Kurz nach seinen ersten, spektakulären Erfolgen im Ausland erlebte Kundera einen Schock, als er feststellen musste, dass die Übersetzungen seiner Romane den Originalen nicht getreu waren. Damals wurde die Kontrolle über seine Werke, besonders wenn sie übersetzt wurden, zu einer vorrangigen Aufgabe in seiner schriftstellerischen Arbeit. Von Anfang an wahrte er übrigens eine strenge Kontrolle über seine literarischen Gestalten, denen einer eine sehr präzise Rolle in der Konstruktion des Narrativs zuwies (der Glaube an die Macht der Kontrolle ist ein wesentliches Charakteristikum der tschechischen Mentalität). Folge war, dass Kunderas Helden immer papierener wurden, seine Gestalten erinnerten von Roman zu Roman immer stärker an Figuren in raffinierten Wortspielen, und die notorische Sexualisierung ihrer Beziehungen sollte eine sinnliche biologische Realität vermitteln. In der Absicht, die Kontrolle zu behalten und die richtige Rezeption seiner Romane vorzuschreiben, schuf Kundera einen Thesaurus von Begriffen und Schlüsselwörtern, die zum Verständnis und zur Interpretation seines Werkes unerlässlich sind. In „Die Kunst des Romans“ [L’Art du roman, 1986], einem 1986 auf Französisch geschriebenen Essay, nannte er dieses kuriose Wörterbuch „Dreiundsechzig Wörter“. Jetzt lese ich diesen Text mit einem Empfinden von Peinlichkeit. Der Mangel an Gefühl für Proportion und Selbstdistanz ist frappierend. Die zahlreichen Selbstzitate und Kommentare zu den eigenen Autofiktionen lassen sich leicht als Symptome von Narzissmus erkennen. Aufdringliche Selbstthematisierung verbindet sich hier mit einer besserwisserischen Neigung, belehren zu wollen. Kundera beginnt das Lexikon der Schlüsselwörter mit dem Terminus „Aphorismus“, den er als „poetische Form der Definition“ definiert. Der aphoristische Charakter seines Stils verstärkt sich also von Roman zu Roman. Seinen Höhepunkt erreicht er in „Die Unsterblichkeit“ (Nesmrtelnost, 1990), wo sich blitzgescheite Aphorismen beinahe auf jeder Seite finden. Aus dem Hang zum Aphorismus rührt das Bedürfnis der Definition, nicht so sehr der Übernahme der Definitionen aus dem Wörterbuch, als eher ihrer Neuerschaffung. „Der Roman“, so konstatiert Kundera, „ist häufig eine Jagd auf mehrere entgleitende Definitionen“. Das ist unbedingt ein wichtiger Hinweis. „Unwissenheit“, „Langsamkeit“, „Identität“, „Unwissen“ – diese Titel klingen wie Lemmata einer Enzyklopädie. Einer Riesenenzyklopädie, übrigens mehr aus dem Barock als der Aufklärung. Als ob er unerwarteterweise auf die Tradition zurückgegriffen hätte, die er doch ablehnte, auf das pansophische, religiöse Schrifttum des Johann Amos Comenius, des mährischen Landsmannes, protestantischen Theologen und Pädagogen, der sich schon im 17. Jahrhundert über den Enzyklopädismus lustig machte und den spielerischen Aspekt des Lehrens und Lernens betonte. Es ließe sich sagen, indem Kundera Ordnung in die Wörter brachte, baute er erneut eine symbolische Ordnung der Existenz im Sinne von Jacques Lacan auf.

Hinter Kunderas literarischen Irrwegen verbergen sich typisch mitteleuropäische Komplexe, Spannungen, Prätentionen, aber auch Missverständnisse, die der Schriftsteller mühselig aufzuklären versuchte, nur dass er sie selbst doch selbst provoziert hatte. Die Dynamik seiner Wandlungen und intellektuellen Abenteuer, seine Traumata, Brüche und verborgenen Rückfälle, Animositäten und Ausweichmanöver, das Hin und Her seiner Ambivalenzen und auch seine Irrtümer führen zu einem Paradoxon, das typisch für die europäische Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist. 1985 sagte Joseph Brodsky, Kundera irre sich hinsichtlich Dostojewskij. Und obwohl ich Brodsky völlig zustimme, nehme ich an, Kundera irrte sich auch in vielen anderen Dingen. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass das herauskommt. Und dann wird der Glanz von Kunderas überschätzter Schriftstellerei sich beträchtlich eintrüben.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Zbigniew Machej

Zbigniew Machej

Zbigniew Machej ist Lyriker, Übersetzer, Essayist, Journalist, Kulturmanager und Diplomat.

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