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Lost in Translation. Eine Entgegnung auf Tomasz Kamusellas Kritik an Michail Schischkin

„Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen, und sie wurden alle voll des heiligen Geistes und fingen an zu predigen in anderen Zungen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.“

Apostelgeschichte des Lukas 2, 3–4

 

Meine Aufgabe als Übersetzer ist es, einen Text semantisch so genau wie möglich in die Zielsprache zu übertragen. Um diesen Zweck zu erreichen, muss ich meine eigenen Anschauungen als neutraler Sprach‑ und Kulturmittler völlig zurücknehmen. Denn in unserer pluralistischen Gesellschaft besitzt ein jeder Anspruch darauf, seine Auffassungen zu Gehör zu bringen, gleichviel, wie kontrovers sie sein mögen, und dafür gibt es nur wenige gesetzlich begründete Einschränkungen. Daher vermeide ich es üblicherweise, in eigenen Texten zu einem der Gegenstände der Übersetzungen öffentlich Stellung zu beziehen, selbst auf die Gefahr hin, möglicherweise mit einer Autorenmeinung identifiziert zu werden, die ich in Wahrheit ablehne. Doch jetzt sehe ich mich veranlasst, eine Ausnahme von dieser Regel zu machen. Den Anlass dazu bietet allerdings nicht das heutige Pfingstfest, wenn auch vielleicht einen recht treffenden Zeitpunkt.

Satire, Polemik, politischer Kommentar?

Unlängst hatte ich das Privileg, Michail Schischkins „Brief an einen ukrainischen Freund“ sowie Tomasz Kamusellas Replik darauf für dieses Forum zu übersetzen. Tomasz Kamusella gehört zu der unter Akademikern aus Polen bis heute noch nicht sehr geläufigen Gattung der Interdisziplinaristen. Nach eher konventionellen Anfängen mit einem Abschluss in der Anglistik an der Schlesischen Universität Kattowitz bestritt er eine abwechslungsreiche akademische Laufbahn an verschiedenen internationalen Hochschulen und qualifizierte sich in mehreren Disziplinen, darunter Linguistik und Literaturwissenschaft ebenso wie Politik‑ und Kulturwissenschaft sowie Sozialpsychologie. Seine vielfältigen Schriften spiegeln Entwicklung und Breite seiner Interessen wider: Nach zahlreichen polnischsprachigen Veröffentlichungen zu den schlesischen Regionalidiomen und dem Verhältnis zwischen Regionalismus und Nationalismus in Polen hat sich Kamusella, seit 2011 als Historiker an der schottischen University of St Andrews, auf englischsprachige Publikationen verlegt, die insbesondere um die Themen Ethnonationalismus, Nationalstaat, Imperien sowie Sprach‑, Kultur‑ und Minderheitenpolitik kreisen. Mithin hat er nicht nur als Autor selbst einen Sprachwechsel vollzogen, wie er ihn von Michail Schischkin fordert, sondern er bringt bar jeden Zweifels die Fakten‑ und Methodenkenntnisse mit, die ihn zu einer differenzierten und abgewogenen Stellungnahme zu den in Rede stehenden Sachverhalten befähigen.

Wieso nur, so fragt sich gewiss nicht allein Ihr ergebener Übersetzer mit einiger Verwunderung, hat er dann einen Text an die Öffentlichkeit gegeben, der in seinen mäandernden Argumentationsgängen voller faktischer Ungenauigkeiten steckt, von Häme und Sarkasmus strotzt und mit zahlreichen Strohmann-Argumenten, kurzschlüssigen Behauptungen, Übertreibungen, Einseitigkeiten und zum schlechten Schluss offenkundigem Rassismus auf dem Niveau der „gelben Gefahr“ der eigenen Sache ganz gewiss keinen Gefallen tut?

Vielleicht geht meine Lesart ja in die Irre, und Kamusella hat seinen Text als eine Art polemischer Satire gemeint, die wir keineswegs wörtlich verstehen sollten? Dann jedenfalls hat er es nicht vermocht, diese seine Intention effektiv zu vermitteln. Solange aber seine wirkliche Absicht weiter im Dunkeln liegt, bleibt mir nichts übrig, als den Autor beim Wort zu nehmen. Im Folgenden möchte ich daher in der gebotenen Kürze Kamusellas Behauptungen einige meiner eigenen Überlegungen entgegensetzen.

Ein heuchlerischer Profiteur?

Michail Pawlowitsch Schischkin (geb. 1961 in Moskau), seit 1995 in der Schweiz lebender russischer Essayist und Prosaist, ist ein international arrivierter, in viele Sprachen übersetzter und mit zahlreichen Preisen ausgezeichneter Schriftsteller, der von der Literaturkritik zur Crème der russischsprachigen Gegenwartsliteratur gerechnet wird. Überdies ist er in verschiedenen deutschsprachigen Schriftstellerorganisationen aktiv; unter anderem war er 2022 Mitbegründer des PEN Berlin. Vor allem aber hat er sich seit 2012 immer wieder öffentlich als entschiedener Kritiker des Putin-Regimes geäußert, nicht zuletzt in dem auf diesem Forum veröffentlichten „Brief an einen ukrainischen Freund“. Für diese Stellungnahme zu einem bestimmten Aspekt des russischen Angriffs auf die Ukraine hat er also die klassische Textform des offenen Briefes gewählt, und es spielt dabei keine Rolle, dass mit dem „ukrainischen Freund“ vermutlich keine konkrete Person gemeint ist, auch wenn Kamusella zu verstehen gibt, bereits das als Kratzer an Schischkins Glaubwürdigkeit zu sehen.

Des Weiteren unterstellt Kamusella, dass Schischkin mit seiner Emigration in die Schweiz irgendwie aufgehört habe, ein russischer Schriftsteller zu sein, oder vielmehr, dass er seine Kompetenz oder moralische Grundlage dafür eingebüßt habe, sich irgend zu russischen Verhältnissen, Kultur und Politik zu äußern, weil er ja nunmehr als Schweizer Neubürger die vollen demokratischen Freiheiten und Rechte seiner Wahlheimat genieße. Mir wäre nicht bewusst, dass Thomas Mann mit seiner Flucht aus Nazideutschland aufgehört hätte, ein deutscher Schriftsteller zu sein, oder Aleksandr Solschenizyn nach seiner Ausbürgerung aus der UdSSR nicht länger als russischer Schriftsteller gegolten hätte. Vielmehr hat doch ganz Ost‑, Ostmittel‑ und Südosteuropa eine lange und deprimierende Tradition der aufgrund repressiver politischer Verhältnisse oder bedrückender wirtschaftlicher Umstände erzwungenen Emigration, so dass für alle Länder der Region die Exilliteratur ein nicht wegzudenkender Bestandteil der jeweiligen Nationalliteratur geworden ist. Oder sollte etwa Tomasz Kamusella selbst aufgehört haben, sich seit seiner Übersiedlung nach Großbritannien als polnischer (oder eher schlesischer?) Autor zu empfinden? Wie auch immer, es will mir nicht einleuchten, inwiefern Schischkins neue bzw. doppelte Staatsangehörigkeit Einfluss auf seinen Status als Beobachter der russischen Verhältnisse und Putin-Kritiker haben sollte. Auch dürfte es Kamusella bewusst sein, dass selbst jenseits der Grenzen der Russländischen Föderation Regimekritiker nicht ungefährlich leben und die mit Nowitschok versetzte Tasse Tee oder das offene Fenster im höheren Stockwerk Gefahren darstellen, mit denen stets zu rechnen ist. Ein hohes Maß an Zivilcourage gehört für jeden exilierten Kritiker, zumal einen prominenten wie Schischkin, in jedem Fall dazu, zumal der Ex-KGB-Mann Putin und seine Clique sich doch offenkundig in der sowjetischen Tradition der nicht territorialgebundenen Geltung der eigenen Rechtsprechung sehen, sich also berechtigt glauben, politische Gegner und abtrünnige Gefolgsleute beseitigen zu lassen, wo immer sie auch aufzuspüren seien. Übrigens erwähnt Schischkins russischsprachiger Wikipedia-Eintrag seine politischen Äußerungen und Aktivitäten mit keinem Wort, und das allein spricht Bände.

Ein für Kamusella noch wichtigerer Angriffspunkt ist die Tatsache, dass Schischkin weiterhin, auch nach dem Beginn der offenen russischen Aggression gegen die Ukraine 2014, seine russischsprachigen Werke in Russland veröffentlicht. Tatsächlich sind 2017 ein Band mit Kurzprosa und 2022 ein Essayband Schischkins, allerdings seit „Pis’movnik“ (Der Briefsteller) von 2010 keiner seiner Romane mehr in Russland erschienen. Auch von seinen auf Deutsch verfassten Werken scheint bisher keines in russischer Übersetzung in Russland selbst veröffentlicht worden zu sein. Vielleicht meint Kamusella aber auch mögliche Neuauflagen älterer Werke. Da ich – genau so wenig wie Kamusella – weder Schischkins Verlagsverträge noch die Regelungen zu seinen in Russland anfallenden Tantiemen kenne, kann ich mich an dieser Stelle zu diesem Aspekt nicht in der Sache äußern. Ich kann nur darüber spekulieren, dass es Schischkin kaum um den Profit aus dem Buchverkauf in Russland gehen wird, sondern eher um den weiteren Zugang zur Leserschaft in Russland. Dieser ist aber nicht mehr gewährleistet, wenn seine russischsprachigen Werke nur noch in Exilverlagen erscheinen. Kurzum, bevor ich wie Kamusella die schwere Moralkeule schwinge, um Schischkin heuchlerischen Verhaltens zu bezichtigen, weil er immer noch Einnahmen aus Russland beziehe und mit den anfallenden Steuern den Krieg gegen die Ukraine mitfinanziere, müsste ich zunächst einmal wissen, welche Handhabe Schischkin überhaupt hat, um die weitere Veröffentlichung seiner Bücher in Russland zu unterbinden, wenn er dies beabsichtigte. Ich nehme einmal an: keine wirksame.

Ein verkappter großrussischer Imperialist?

Weitere Ausführungen Kamusellas zielen auf den eigentlichen Kern von Schischkins „Brief“ und allgemeiner auf seine schriftstellerische Tätigkeit überhaupt. Alle seit etwa 2012 gemachten und auch in dem offenen Brief wiederholten, scharf Putin-kritischen und die zunehmend faschistoiden Züge des Regimes anprangernden Äußerungen Schischkins nützen diesem schier gar nichts: Kamusella sieht den russischen Autor unversehens „im Gleichschritt mit der Kremlpropaganda“. Um zu einer derart frappierenden Schlussfolgerung zu gelangen, greift Kamusella auf seine Kenntnisse der russischen und sowjetischen Kulturgeschichte und Sprachpolitik zurück – und muss sich letztlich doch einer ebenso simplen wie durchschaubaren sprachlichen Manipulation bedienen, um Schischkin als vermeintlichen russischen Imperialisten enttarnen zu können.

Ausgangspunkt ist die Feststellung, der Ausdruck „großrussisch“ (velikorusskij) sei seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als Bezeichnung der russischen Sprache verwendet worden und habe als solcher der russifizierenden Imperialpolitik des späten Zarenreiches gedient. Damit seien parallel die Begriffe „großrussische Sprache“ (velikorusskij jazyk) und „großrussische Literatur“ (velikorusskaja literatura) üblich geworden. Kamusellas erste Manipulation besteht nun darin, unerwähnt zu lassen, dass daneben auch die Bezeichnungen „weißrussisch“ (belorusskij) und „kleinrussisch“ (malorusskij) existierten, letzteres für das Ukrainische. Während es also zutrifft, dass diese drei ostslawischen Idiome damit nur als Varianten oder Dialekte ein und derselben russischen Sprache (russkij jazyk) und Kultur in Anspruch genommen werden konnten und die ethnokulturelle Eigenständigkeit der Weißrussen (wir bevorzugen heute auf Deutsch in Anpassung an die belarusische Schreibweise „Belarusen“) und der Ukrainer von der zarischen Imperialpolitik bestritten und aktiv unterdrückt wurde, fungierten die russischen Adjektive aber doch zugleich als Ethnonyme und boten damit unfreiwillig eine Grundlage für eine sich von den „Großrussen“ abgrenzende nationalkulturelle Entwicklung.

Vollends konfus werden Kamusellas Ausführungen mit der Behauptung, die alte zarische Propaganda sei mit dem Ausbruch des „Großen Vaterländischen Krieges“ (1941–1945) entstaubt und nunmehr, auf die Literatur bezogen, in der abgewandelten Form „große russische Literatur“ (velikaja russkaja literatura) in Umlauf gebracht worden. Dies ist, mit Verlaub, sowohl der Sache nach als auch linguistisch völliger Nonsens. Denn das adjektivische Kompositum velikorusskij bedeutet keineswegs dasselbe wie die adjektivische Reihung velikij russkij. Während ersteres sich als Ethnonym wertungsneutral auf die (Groß‑) Russen, ihre Sprache und Kultur bezieht, ist letztere, beispielsweise in dem Ausdruck velikij russkij jazyk, ein wertender Ausdruck von besonderer Achtung oder Wertschätzung („die große russische Sprache“ im Sinne von „die großartige russische Sprache“). Auch in deutscher Übersetzung wird der Unterschied zwischen „großrussischer Literatur“ und „großer russischer Literatur“ augenblicklich deutlich. Dasselbe gilt für alle slawischen Sprachen, die sich einer analogen Morphologie bedienen (beispielsweise im Polnischen wielkorosyjska literatura versus wielka rosyjska literatura). Allein, Kamusella hat seinen Text nicht auf Polnisch verfasst, sondern auf Englisch, und nur im Englischen fällt seine Manipulation nicht gleich auf, weil beide Ausdrücke als great Russian literature wiedergegeben werden. Was Kamusellas Manipulation dennoch sofort verrät, ist, dass er die Übersetzung von velikorusskij als Ethnonym der englischen Rechtschreibung gemäß großschreiben muss: Great Russian literature (großrussische Literatur) im Unterschied zu great Russian literature (große russische Literatur). Meiner Überzeugung nach liest Kamusella in Schischkins Sprachgebrauch eine apologetische oder gar propagandistische Absicht hinein, die dieser gar nicht verfolgt; vielmehr spricht Schischkin verständlicherweise als Schriftsteller in eigener Sache.

Noch absurder wird es schließlich, die Übernahme der Rede von der „großen russischen Literatur“ (bzw. „Sprache“) im Westen als dauerhaften Erfolg der stalinistischen Propaganda auszugeben, so als wäre vor 1941–1945 in westlichen Ländern niemand je zuvor auf den Gedanken gekommen, von der russischen Literatur oder Sprache als einer „großen“ im Sinne von „großartigen“ zu sprechen. Im Übrigen ist es falsch – und als eine weitere Manipulation Kamusellas anzusehen –, dass der Ausdruck „große russische Literatur“ einzig und allein in Bezug auf die russische Literatur vorkomme; denn selbstverständlich haben auch alle anderen Nationalliteraturen im In‑ und Ausland ihre Bewunderer gefunden und damit entsprechende Wendungen hervorgebracht. Kamusella hätte dies leicht eruieren können. Ich habe es einmal für ihn nachgeholt und einige Beispiele gegoogelt: la grande littérature francaise: 8.880 Treffer; great English literature: 146.000 Treffer; große deutsche Literatur: 19.100 sowie großartige deutsche Literatur: 796 Treffer; la grande letteratura italiana: 14.100 Treffer; la gran literatura española: 12.500 Treffer; übrigens für wielka literatura polska erstaunlicherweise nur 1.650 Treffer; für велика українська література nur 1.610 Treffer. Im Vergleich: великая русская литература: 94.100 Treffer, womit das Russische in diesem Sample stark repräsentiert ist, aber dennoch nicht völlig aus der Reihe fällt (alle Ergebnisse vom 29. Mai 2023). Ich bin überzeugt, dass sich dieser zugegeben völlig unwissenschaftlich ermittelte Befund durch eine methodisch abgesicherte, textlinguistische Auswertung beispielsweise von um 1880 bis 1930 geschriebenen Texten wissenschaftlich stützen ließe.

Wir können uns sicher mit Kamusella darauf einigen, dass eine jede Sprache und ihre Literatur, ganz unabhängig von der Zahl ihrer Sprecher, als „groß“ anzusprechen ist, auch wenn seine Vergleiche zwischen verschiedenen Nationalliteraturen in der Absicht, die russische Literatur etwa gegenüber der englischen oder deutschen abzuwerten, wiederum völlig irreführend sind, weil nämlich alle drei Sprachen etwa gleichzeitig im 18. Jahrhundert ihre Literatursprachen überhaupt erst entwickelten (allein das Französische war in Europa allen anderen neuzeitlichen Sprachen um etwa drei Generationen voraus). Eine mögliche Definition von „Größe“ einer Literatur ist, wenn diese zur „Weltliteratur“ im Sinne Goethes beiträgt, nämlich Werke hervorgebracht hat, die über die jeweilige Nationalkultur hinaus umfassend rezipiert worden sind. Das trifft fraglos auf die russische Literatur zu, und das ist eine kulturgeschichtliche Tatsache, die völlig unabhängig von der Frage gilt, wie wir uns in der heutigen Situation zur russischen Sprache und der in dieser Sprache verfassten Literatur stellen wollen oder sollen. Dabei bin ich kein Freund von Boykottaufrufen. Denn wie sollte es der Ukraine wohl helfen, wenn wir alle plötzlich nicht mehr Dostojewskij läsen? Wir sollten ihn umgekehrt jetzt erst recht lesen, nur vielleicht mit anderen und kritischen Augen, dann würden wir vielleicht auch die Figur des gelegentlich bei den russischen Realisten des 19. Jahrhunderts auftretenden „Kleinrussen“ besser zu deuten verstehen.

Sprachwechsel, Sprachpolitik, Imperialsprache – was tun?

Es gilt unterschiedslos für alle heutigen sogenannten Weltsprachen, diesen Status durch den Aufbau von Kolonialimperien erlangt zu haben. In den Nachfolgestaaten der früheren Kolonialreiche sind diese Sprachen zumeist als Amts‑, wenn nicht Staatssprachen, zumindest aber als Lingua franca der oft sprachlich sehr kleinteiligen und heterogenen indigenen Völker in Gebrauch geblieben. Anders als Kamusella suggeriert, sind die meisten dieser Staaten eben keine „Nationalstaaten“, sondern mehr oder minder zufällige Produkte der willkürlichen Grenzdelimitationen, wie sie die Kolonialmächte miteinander vereinbart hatten und die sich weder an Sprach‑ noch an ethnokulturellen Grenzen orientierten. Die Beziehungen der in die staatliche Unabhängigkeit entlassenen Kolonien zu den ehemaligen Metropolen sind komplex und nicht etwa stets von einer sprachlich-kulturell begründeten Dominanz geprägt, wie sie Kamusella für die Beispiele Spanien und Frankreich behauptet. Es ließe sich vielmehr umgekehrt die These formulieren, dass die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht noch das am wenigsten problematische und in vielen Fällen sogar vorteilhafteste Erbe der Kolonialzeit ist: Das vielsprachige Indien wäre beispielsweise als Staat ohne die englische Sprache weitgehend dysfunktional.

Mit den USA teilt Russland die historische Entwicklung, eine über eine kontinentale Landmasse hinweg expandierende Imperialmacht gewesen zu sein und daher weitgehend auf überseeische Kolonien verzichtet zu haben. Der kontinentalen Expansion folgte in beiden Fällen eine Binnenkolonisierung, die in großen Teilen gewaltsam verlief und mit der Vertreibung oder Auslöschung der indigenen Bevölkerungen einherging, in den USA übrigens noch sehr viel mehr als im dünn besiedelten asiatischen Teil Russlands. So sehr diese Expansion im Rückblick unser Gefühl von Moral und historischer Gerechtigkeit verletzen mag, so hat sie doch demographische und politische Realitäten geschaffen, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen. Das entschuldigt natürlich keinesfalls, wenn aktuell eine neoimperiale Russifizierung betrieben wird, wie sie Kamusella anspricht. Die Durchsetzung der Ansprüche aller Minoritäten auf sprachliche und kulturelle Autonomie wäre die Mindestbedingung, die einer Form historischer Gerechtigkeit nahekommen könnte. Die Abspaltung neuer Nationalstaaten aus der Russländischen Föderation halte ich dagegen, wie vor mir auf diesem Forum bereits Nedim Useinow, für unwahrscheinlich, ja utopisch, weil keine der ethnokulturellen Minoritäten Russlands sich erkennbar auf dem Weg zu einer ausgeprägten Nationalbewegung, geschweige denn Nationalstaatsbildung befindet. Viel wahrscheinlicher wäre eine Entwicklung, an deren Ende Russland zumindest vorübergehend in eine Anzahl von durch Warlords und andere Gewaltherrscher terrorisierte Regionen zerfiele. Aber sollten wir uns ernsthaft wünschen, dass an die Stelle einer freilich erratischen Atommacht plötzlich ein halbes Dutzend halbanarchischer Herrschaftsgebiete mit Nuklearwaffen treten?

Doch zurück zu unserem eigentlichen Thema. Selbst in vielen der Nachfolgestaaten der sich aus der UdSSR verabschiedenden Sowjetrepubliken fungiert das Russische bis heute als Lingua franca in der Kommunikation mit Ausländern und der jeweiligen russischen Minderheit (die in einigen Fällen keine ist). Die Ukraine mit ihrem Anteil von etwa dreißig Prozent russischsprachiger Bevölkerung stellt insofern einen Sonderfall dar, als sie ein prinzipiell zweisprachiges Land ist, in Europa am ehesten vergleichbar mit Belgien. Eine aggressiv ukrainisierende Sprach‑ und Kulturpolitik würde meiner Überzeugung nach Putin und seinen Gesinnungsgenossen nicht nur exakt diejenigen Argumente liefern, die einen der Vorwände für die russische Aggression bildeten; wichtiger noch, sie würde auf mittlere und lange Sicht auch dem kulturellen und nationalen Selbstverständnis einer demokratischen Ukraine widersprechen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die ukrainische Zweisprachigkeit unter bestimmten historischen Voraussetzungen entstanden ist, die dazu geführt haben, dass die meisten ukrainischsprachigen Ukrainer zugleich aktive Sprecher des Russischen sind, während von den russischsprachigen Ukrainern nur wenige aktive Sprecher des Ukrainischen sind, was gleichwohl die Kommunikation in Alltag und Beruf kaum beeinträchtigt. Diese Einseitigkeit könnte sich auf lange Sicht aufheben, denn nach jüngsten Informationen scheint klar, dass die Bereitschaft der Russischsprachigen seit Beginn des Angriffskriegs stark gewachsen ist, sich das Ukrainische aktiv anzueignen. Kulturpolitisch könnte daraus die Schlussfolgerung gezogen werden, idealerweise nicht die Ukrainisierung der Russischsprachigen anzustreben, sondern ihre Gewinnung für die vollkommene Zweisprachigkeit, wie sie bisher schon für viele, wenn nicht die meisten Ukrainischsprachigen eine Selbstverständlichkeit ist. Wie auch immer, wird das nichts daran ändern, dass das Russische weiter als Lingua franca für die Binnen‑ wie die Außenkommunikation der Ukraine von Bedeutung bleiben wird. Genau in diesem Sinne äußert sich meines Erachtens Schischkin, und nicht etwa, um eine ihm selbst gar nicht bewusste kremlnahe Imperialpropaganda zu betreiben.

Doch wir reden hier von Sprache als pragmatischem Kommunikationsmittel. Sprache als Instrument eines Schriftstellers ist nochmal ein ganz anderes Tier, und es geht wahrhaft ins Satirische über, wenn Kamusella von Schischkin den Sprachwechsel fordert, so als könnte man die eine Sprache ablegen und in eine neue hineinschlüpfen wie in einen neuen Mantel; eher könnte er von Schischkin verlangen, sich selbst zu kastrieren. Nicht zufällig beschränkt sich Schischkin beim Gebrauch des Deutschen bislang auf die Essayistik, während er seine Romane und Kurzprosa weiterhin auf Russisch verfasst. Die enge Verwandtschaft zweier Sprachen ist auch nicht unbedingt hilfreich, wie jeder Deutsche vielleicht einmal festgestellt haben mag, der versucht hat, Niederländisch zu lernen. Anders als der Erwerb einer Zweitsprache zum Zwecke des wissenschaftlichen oder journalistischen Publizierens hat das belletristische Schreiben eine ganz eigene Qualität. Der Sprachwechsel ist in der Literaturgeschichte folglich nur wenigen gelungen: Der von Kamusella erwähnte Vladimir Nabokov konnte vom Russischen ins Englische wechseln, weil er zweisprachig aufgewachsen war. In anderen Fällen gelang der Sprachwechsel nur bedingt: Nachdem Milan Kundera vom Tschechischen zum Französischen übergegangen war, blieben seine auf Französisch geschriebenen Romanen steril oder wurden zumindest von der Literaturkritik so rezipiert. Selbst der russisch schreibende Ukrainer Nikolaj Gogol bedarf eines zweisprachigen Thesaurus im Anhang seiner Werke, damit Russen seine vielen Ukrainismen problemlos verstehen. Ein russisch-ukrainischer Sprachwechsel liefe in jedem Fall Gefahr, bei einer von Makaronismen geprägten Mischform stehenzubleiben, wie sie im Übrigen für alle zwischen den slawischen Sprachgrenzen bestehenden Idiome charakteristisch sind, was Kamusella als Spezialist für die schlesischen Idiome selbstverständlich bestens weiß. Vielleicht braucht es eben einen genialen Polen wie Józef Korzeniowski, der sich immerhin als noch sehr junger Mann der britischen Handelsmarine anschloss und später unter dem Namen Joseph Conrad zu einem der brillantesten Stilisten der englischen Literatur wurde. Doch Pfingstwunder geschehen heutzutage halt nur noch in den seltensten Fällen.

Überdies glaube ich nicht, dass die ukrainische Kultur und Literatur auf die Schützenhilfe eines konvertierten russischen Autors angewiesen ist, um zu bestehen und in die Welt hinausgetragen zu werden, denn das Land besitzt zahlreiche, talentierte Eigengewächse. Was das Land aber auf jeden Fall gebrauchen kann, ist jeder sich anbietende Verbündete, darunter besonders einen weithin bekannten russischen Autor, der auf Seiten der Demokratie steht und vielleicht eine Chance hat, diejenigen seiner Landsleute zu erreichen, die noch weit von der Demokratie entfernt sind. Tomasz Kamusella tut niemandem einen Gefallen, wenn er unter dem Vorwand einer mehr als fragwürdigen akademischen Konstruktion einem solchen wertvollen Verbündeten die kalte Schulter zeigt.

Andreas R. Hofmann

Andreas R. Hofmann

Andreas R. Hofmann ist freiberuflicher Historiker, Übersetzer und Redakteur.

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