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Die turbulenten Beziehungen zwischen China und Polen

Trotz des scheinbaren Tiefschlafes während der Pandemie ist die Weltordnung in eine Ära der Turbulenzen geraten. Der Westen, allen voran die USA, befindet sich auf dem Rückzug, wofür Afghanistan und der Triumpf der Taliban symbolhaft stehen. Die sogenannten östlichen Märkte scheinen auf der Weltbühne immer stärker die Initiative zu ergreifen. Vor allem China spielt hierbei eine zentrale Rolle und ist inzwischen die größte Wirtschaftsmacht der Welt im Sinne der Kaufkraft. Aber auch hinsichtlich des nominalen BIP will es diesen Status schnell erreichen.

Zuerst ist infolge der Krise 2008 der neoliberale „Washington-Konsens“ zusammengebrochen, der ausschließlich auf den Markt und den Privatsektor gesetzt hat und nicht auf den Staat und den öffentlichen Sektor. Nach der Corona-Pandemie hingegen und nach der Regierung Donald Trumps in den USA sind die Fundamente der liberalen Weltordnung, der value-based order, ins Wanken geraten. In der Politik haben wir es statt mit einer liberalen Demokratie immer häufiger mit nicht-liberalen Systemen zu tun und in der Wirtschaft begegnen wir statt der freien Markwirtschaft zunehmend etatistischen Systemen. Die neue Front, die vor unseren Augen entsteht, besteht in einem scharfen Konflikt zwischen Demokratie und Autokratie.

China – ein schwieriger Partner

Überraschend, aber auch bezeichnend ist, dass diese Trennlinien die Merkmale einer axiologischen Krise tragen. Es ist ein Zusammenstoß verschiedener Wertesysteme festzustellen, auch zwischen EU-Mitgliedsstaaten . So befinden sich Ungarn seit 2010 und Polen seit 2015 in den Händen von Kräften, die sich als „nicht-liberal“ bezeichnen (was ihre politischen Gegner einfach „autokratisch“ nennen). Bezeichnend ist, dass sowohl Budapest als auch Warschau Donald Trump sehr herzlich und lange empfangen haben, mit der Regierung von Joe Biden aber Probleme haben, da diese nicht nur andere Interessen, sondern auch andere Wertvorstellungen vertritt.

Ministerpräsident Viktor Orbán hat schon vor einiger Zeit seine Strategie Keleti nyitás [Öffnung nach Osten] verkündet, kraft derer er sich Russland und China genähert hat, aber auch den Machthabern in Kasachstan und Aserbaidschan, ganz zu schweigen von der Türkei. Die Regierung in Warschau hat sich für eine solche strategische Kehrtwende nicht entschieden, aber seit Trumps Abwahl, mit der sie sich lange nicht abfinden wollte, tuschelt sie immer lauter von „strategischer Unabhängigkeit“. Bei jeder Gelegenheit hebt sie, ähnlich wie ihr Freund und Vorbild aus Budapest, die Bedeutung eines souveränen Staates hervor, der selbstständig bei sich Ordnung schafft, ohne den Eingriff vom allzu vorlauten und übermäßig liberalen Brüssel.

Das ist der Kontext, in dem der unerwartete Besuch des polnischen Außenministers Zbigniew Rau in Peking Ende Mai dieses Jahres verstanden werden muss. Er war dort zusammen mit den Außenministern Ungarns und Serbiens, der beiden (neben Griechenland) in letzter Zeit am stärksten pro-chinesischen Staaten in Europa, aber nicht aus eigenem Willen, sondern – und das ist auch bezeichnend – auf Einladung Chinas. Dieser Besuch war nicht nur für die Außenwelt eine Überraschung, sondern auch für einen Großteil der polnischen Eliten (nicht nur für die Liberalen).

Der Grund dafür ist, dass Polen seit dem Systemwandel 1989 noch nie auf China gesetzt hat. Mehr noch, zu einer Art Grundstein dieser Beziehungen ist ein ganz bestimmtes symbolisches Datum geworden: der 4. Juni 1989 steht in China für das Tian’anmen-Massaker, in Polen für die ersten halbfreien demokratischen Wahlen, die bereits im September desselben Jahres noch vor dem Fall der Berliner Mauer zur Bildung der ersten halbfreien demokratischen Regierung unter Tadeusz Mazowiecki geführt hatten. Danach war das Verhältnis von Polens neugeborener Demokratie zum autokratischen China über zwei Jahrzehnte bis zur großen Krise 2008 geradezu messianistisch: Taiwan und Tibet wurden verteidigt, der Dalai Lama viele Male eingeladen, und in den Medien ein schwarzes Bild von China gezeichnet; es wäre damals schwierig gewesen, in den Medien Erklärungen dafür zu finden, warum China zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt geworden ist.

Nach 2008 änderte sich die Lage ein wenig, eher durch den Einfluss westlicher Mainstream-Medien, die damals das sich schnell entwickelnde China „entdeckten“, als durch Kenntnis Chinas, der Phänomene und Prozesse, die dort vor sich gingen. In diesem Zeitraum kam es, aber eher auf Chinas Initiative hin als auf Polens, zu zwei bedeutenden Ereignissen in den gegenseitigen Beziehungen: Im Dezember 2011 besuchte Präsident Bronisław Komorowski China, und den gegenseitigen Beziehungen wurde der in der chinesischen Hierarchie höchstmögliche Status einer „hochentwickelten strategischen Partnerschaft“ verliehen. Im April des darauffolgenden Jahres verkündete der damalige Premier Chinas Wen Jiabao in Warschau das 16+1-Programm, sprich eine Vision von der Zusammenarbeit mit den postkommunistischen Ländern in Mittel- und Osteuropa, einschließlich der postjugoslawischen Balkanländer, aber unter Ausschluss postsowjetischer Territorien. Die Baltischen Staaten waren daher ausgenommen. China gab das Programm in der polnischen Hauptstadt bekannt, weil es einen Blick auf die Landkarte gerichtet hatte: Polen liegt zentral und ist – aus Chinas Sicht – das Reich der Mitte im Zentrum Europas.

Der Trump-Effekt

Es ist kein Geheimnis, dass die neue Regierung von Xi Jinping im Jahr 2013 mit einer noch größeren geostrategischen Vision in Richtung Europa antrat, die letztlich Belt and Road Initiative (BRI) heißt und zwei neue Seidenstraßen vorsieht: eine über Land und eine über See, die China mit Europa verbinden sollen. Die Handelsroute über Land soll klar durch Polen, ja durch Polens Zentrum verlaufen, in der Nähe von Łódź, als Verkehrsknotenpunkt, von dem aus die chinesischen Transporte in verschiedene Richtungen nach ganz Europa verteilt werden können.

Bogdan Goralczyk: Die turbulenten Beziehungen zwischen China und Polen
Außenminister Zbigniew Rau und Wang Yi © Gabriel Piętka / MSZ

Diese Initiative haben die polnischen Machthaber unter der Ägide der PiS-Partei, die im Herbst 2015 an die Macht gekommen ist, sehr begrüßt. Als sie sich noch nicht als neues Kabinett konstituiert hatte, nutzte der Präsident derselben Partei, Andrzej Duda, die Gelegenheit und begab sich zu einem weiteren Gipfel der Initiative 16+1 nach Suzhou, obwohl dort Gespräche mit Ministerpräsidenten und nicht mit Präsidenten oder Staatsoberhäuptern vorgesehen waren. Die Chinesen passten sich jedoch flexibel an die Situation an und organisierten nach dem Gipfel für den polnischen Präsidenten ad hoc einen offiziellen Besuch (Kindergruppen jubelten Holland zu und nicht Polen, weil beide Ländern auf Chinesisch so ähnlich klingen), und am Tisch saß dieselbe oberste Formation der chinesischen Politik, die genau eine Woche zuvor Bundeskanzlerin Angela Merkel mit fast ihrem gesamten Kabinett empfangen hatte.

Das war ein weiterer Beweis dafür, wie viel Wert man in Peking auf die Beziehungen zu Polen legt. Der krönende Abschluss dieser Beziehungsphase war der offizielle Besuch von Präsident Xi Jinping in Warschau im Juni 2016, an dessen Ende ein etwa vierzigseitiger Vertrag unterschrieben wurde, aus dem jedoch, wie sich später herausstellte, nicht viel folgte. Und zwar aus dem einen maßgeblichen Grund, der sich als „Trump-Effekt“ bezeichnen lässt: Im nicht-liberalen Warschau hatten ähnlich wie in Budapest die Souveränitätsbestrebungen aus Washington, wie das Motto „America first“, Gefallen gefunden. Polen und Ungarn wollten auch „first“ sein. Als dann im März 2018 Trump China (und anderen Staaten) den Handelskrieg erklärte, wurden in Warschau die Beziehungen zu Peking wieder heruntergekühlt.

Als aber Biden an die Macht kam und seine Regierung wiederum die Frage der Wertvorstellungen in den internationalen Beziehungen so stark in den Vordergrund rückte, begannen manche Kreise in Warschau – nicht unbedingt Regierungskreise – Peking wie in der Zeit nach dem 4. Juni 1989 zu betrachten, das bedeutet: stark ideologisiert. Wie das jetzt aussieht, ist teilweise anhand der Beziehungen Chinas zu Tschechien zu sehen, und noch stärker zu Litauen, das der Eröffnung einer Vertretung von Taiwan im Land zugestimmt hat. Damit hat Litauen in Pekings Augen eine rote Linie überschritten. Die Bedeutung der beiderseitigen diplomatischen Beziehungen ist also herabgestuft worden, und zuvor war es zu heftigen Wirbeln um einen weiteren, dieses Mal wegen der Corona-Pandemie virtuell stattfindenden Gipfel der 16+1-Staaten gekommen (zeitweise, nach dem Hinzukommen von Griechenland 17+1, jetzt nach dem Ausschluss Litauens wieder 16+1, obwohl ungewiss ist, für wie lange, weil die übrigen Baltischen Staaten mit dieser Form auch nicht zufrieden sind).

Das wiederum ist der Kontext, in dem die überraschende Einladung seitens Pekings für den polnischen Außenminister gesehen werden muss. Dieser bestätigte nämlich vor Ort auf Chinas Wunsch hin sowohl das Prinzip „ein China“ (was nun im Lichte der wachsenden Kontroversen um Taiwan eine neue Bedeutung bekommt) wie auch die jetzt etwas verminte Formation 16+1. Bedeutet das eine grundlegende Wende und einen Durchbruch in der polnischen Außenpolitik? Oder anders gesagt: Muss man mit einer polnischen Version der ungarischen „Öffnung für den Osten“ rechnen?

Orbán ist der größte Verbündete

Das ist zu bezweifeln, denn Polen hat, im Gegensatz zu Ungarn, bisher nie auf die Zusammenarbeit mit dem Osten gesetzt (und dabei geht es nicht nur um Putins Russland). Es gibt dazu in Polen weder einen analytischen noch strategischen Kontext, vor allem aber keine Vision und keinen politischen Willen. In den Beziehungen zu China war in den vergangenen Jahrzehnten die chinesische Seite viel aktiver. Für die Entscheidungsträger in Warschau ist der Osten hingegen ein Gebiet – sagen wir mal – zwischen Bug und Kreml, danach kommen der Ural und Sibirien, wohin einst die polnischen Großväter in die Verbannung geschickt wurden. In den polnischen politischen Eliten und unter den Entscheidungsträgern gibt es im Gegensatz zu dem in der Welt etwas bewanderten Viktor Orbán weiterhin kein Bewusstsein für die Bedeutung Chinas (und die Schwellenmärkte) in der zeitgenössischen Welt. Polen ist noch immer prowestlich, obwohl es in letzter Zeit mit dem Westen, sowohl mit den USA als auch mit der EU, verstritten zu sein scheint.

Das grundlegende Problem der polnischen Diplomatie unter PiS und dem dieser Partei zugehörigen Präsidenten Andrzej Duda besteht darin, dass sich die Beziehungen zu den bisher wichtigsten Bündnispartnern verschlechtert haben: die zu den USA (weil Bidens Regierung auf Wertvorstellungen setzt, ist ein Streit um freie Medien und den privaten Fernsehsender TVN in Polen, der von Amerikaner betrieben wird, ausgebrochen), zu der EU (wo die Prozedur um die Nichteinhaltung der Rechtsstaatlichkeit angelaufen ist und ein Streit um die Gerichtsbarkeit vorliegt), zu Deutschland (weil es Polen zu viel „diktiert“) und seit kurzem sogar zu Israel (Entschädigungsforderungen für ehemaliges Eigentum). Seit Jahren sind die Beziehungen zu Russland in einem sehr schlechten Zustand und werden es auch bleiben, und in den Beziehungen zur Ukraine haben in letzter Zeit historische Vorfälle stärkere Bedeutung bekommen.

China wird, ähnlich wie Japan, Südkorea und selbst die Türkei diese diplomatische Leere nicht füllen. Es gibt keine solche Tradition der institutionellen und politischen Verbindungen, nicht einmal einen Background an Expertenwissen. Letzteres wäre, wenn es einen politischen Willen geben würde, zwar nicht so schlimm, aber dieser Background wird eher in seinem Tiefschlaf verbleiben.

So wird es auch dann sein, wenn Polens Platz auf der politischen Weltkarte neu definiert werden muss – sowohl im Rahmen der bisherigen Bündnisse mit den USA und der NATO als auch im Rahmen der EU und in den Beziehungen zu Deutschland. Denn der aktuelle Zustand, in dem der größte Bündnispartner Warschaus das Budapest von Viktor Orbán ist, ist schließlich nicht langfristig aufrecht zu erhalten. Polen kann sich strategische Selbstständigkeit einfach nicht leisten, trotz derartiger Verlautbarungen seitens der aktuellen Regierung. China kann Polen keine Sicherheit garantieren, was es im Übrigen ohne Umschweife zugibt und auf Russland verweist. Aus kulturellen und ideellen Gründen kann Polen wohl kaum Anspruch auf die Bezeichnung „Neues Reich der Mitte“ erheben, selbst wenn China das wollte (will es aber nicht so recht, weil es andere Sorgen hat). Es wird höchstens Präsident Duda einladen, doch von einem solchen Besuch ist weder ein politischer noch strategischer Durchbruch zu erwarten. In wirtschaftlicher Hinsicht kann Polen nach verschiedenen Partnern suchen, darunter auf jeden Fall Ostasien, aber strategisch, politisch und im Bereich Sicherheit gibt es keine Alternative für den Westen, selbst wenn dieser in letzter Zeit verschiedene Probleme hat.

Das Problem ist, dass die polnische Opposition dies zwar so sieht, dass das Regierungslager aber selbst an dem Bündnis mit den USA zu zweifeln begonnen hat, das in den Beziehungen mit der vorangegangenen amerikanischen Regierung doch so stark herausgestellt worden war. Die Frage ist, hinter wen sich die Mehrheit der polnischen Gesellschaft und der Wählerschaft stellt, die in letzter Zeit den Amerikanern und dem Westen gegenüber teilweise ablehnend eingestellt sind. Somit werden die Außenpolitik und die Europapolitik umso stärker eine Rolle in den bevorstehenden Wahlen spielen, von denen immer häufiger gesagt wird, dass sie vorgezogen werden könnten, also vor 2022 stattfinden.

 

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller

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Bogdan Góralczyk

Bogdan Góralczyk

Professor Bogdan Góralczyk ist Politologe, Sinologe, ehemaliger polnischer Botschafter und ehemaliger Direktor des Europäischen Zentrums an der Universität Warschau.

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