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Historische Ignoranz? Deutschlands Erinnerungskultur und die deutsche Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine

Es ist zwar zu begrüßen, welche Anstrengungen Deutschland macht, um die Erinnerung an die Shoah lebendig zu erhalten, doch seine zögerliche Haltung in Reaktion auf die Invasion der Ukraine steht im Widerspruch zur eigenen historischen Erfahrung. Es ist höchste Zeit für die deutsche Gesellschaft, sich zusammenzureißen und Kiew im Kampf gegen die russische Aggression zu unterstützen.

 

„Aber man wird nicht sagen: Die Zeiten waren finster

Sondern: Warum haben ihre Dichter geschwiegen?“

Aus: Bertolt Brecht, In finsteren Zeiten

 

Eine Fotografie von 1937 zeigt eine Zusammenkunft auf dem Bauernhof meiner Familie in Lengainen/Łęgajny, gelegen in der damaligen deutschen Provinz Ostpreußen. Vielleicht fand das Treffen im Frühjahr statt, oder auch im Herbst, denn die Menschen auf dem Foto tragen Jacken und Anzüge, man traf sich vielleicht im feinen Sonntagsstaat. Die Stimmung ist entspannt, freudig, alle lächeln in die Kamera. Doch bildet das Foto auch das 20. Jahrhundert ab, wie es in Mitteleuropa aussah. Das Paar in der zweiten Reihe links sind mein Großonkel Franz Nerowski und seine Verlobte Pelagia Stramkowska. Als das Foto gemacht wurde, spionierte Franz für die Zweite Republik Polen. Er sollte 1940 verhaftet und von den Nazis 1942 als Verräter hingerichtet werden. So wie Franz, war auch Pelagia Mitglied im Verband der Polen in Deutschland, der polnischen Minderheitsorganisation, und arbeitete in einem Buchladen für polnischsprachige Literatur. Sie sollte 1939 verhaftet werden und ein zweites Mal 1940, weil sie polnischen Kriegsgefangenen geholfen hatte. Insgesamt verbrachte sie ein halbes Jahr im Gefängnis. Vor ihnen liegt mit ausgestreckten Beinen und Zigarette in der Hand Franz’ Bruder Otto, auch Mitglied im Verband der Polen. Er konnte sich eine Zeitlang der Einberufung in die Wehrmacht entziehen, weil er den Bauernhof leitete, wurde dann aber doch gegen seinen Willen 1944 eingezogen und verschwand in den Schlachten vom Frühjahr 1945 irgendwo in der Tschechoslowakei. Das Paar neben Otto sind Agnieszka und Kazimierz Pacer, Freunde der Familie. Wie Otto, wurde auch Kazimierz in die Wehrmacht eingezogen, aber bereits 1942. Er desertierte 1943 in Italien und schloss sich den polnischen Streitkräften im Westen unter General Władysław Anders an, die gegen die Nazis kämpften. Rechts neben Agnieszka sitzt meine Großmutter Cilly, die nach Otto den Hof übernahm und 1945 eine von der einen Million weiblichen Zivilisten war, die in die Sowjetunion deportiert wurden, um vier Jahre lang in einem Lager im Ural Zwangsarbeit zu leisten. Zu ihren Füßen schließlich sitzt Bruno, der jüngste Bruder, der im Kampf gegen US-Truppen in den Niederlanden im Frühjahr 1945 fiel, zwei Monate vor seinem 18. Geburtstag, nachdem er freiwillig zu den Fallschirmjägern gegangen war.

Foto: Aus der Privatsammlung des Autors

Als deutscher Autor von Sachbüchern bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass die Beschäftigung mit meiner eigenen Familiengeschichte ein ideales Medium ist, um den größeren Kontext von Politik, Krieg und Migration zu verstehen, wie sie die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts zahllosen Menschen aufzwangen, meine Familie nicht ausgenommen. Ich selbst erreichte das Erwachsenenalter in den ausgehenden 1980er, frühen 1990er Jahren in Westdeutschland, hatte einige wundervolle Geschichtslehrer und die Gelegenheit, mit vielen Überlebenden der Naziverfolgung und der Shoah direkt ins Gespräch zu kommen. Das hat mich zu einem überzeugten Antifaschisten gemacht und zu jemanden, der sich äußerst bewusst darüber ist, dass historische Forschung bedeutet, sich so viel Kontext und Einzelheiten wie möglich anzueignen, um zu verstehen, wie und warum einzelne Menschen betroffen waren. Auch ist wichtig zu verstehen, wieso die demokratischen Staaten in den 1930er Jahren dabei versagten, die totalitären Verbrechen zu erkennen, zu verurteilen und einzudämmen, beginnend mit dem Holodomor in der Ukraine über den Spanischen Bürgerkrieg bis zum Münchner Abkommen von 1938. Ich habe zu Deutschland und Mitteleuropa mehr als zehn Jahre recherchiert und geschrieben, basierend auf der Geschichte meiner Familie zwischen Hitler und Stalin. Ich verstehe inzwischen, wie demokratische Strukturen Extremisten zum Opfer fallen können, wenn sie ohne entsprechende Unterstützung bleiben. Das lässt mir als Demokraten keine andere Wahl, als den Widerstand der Ukraine nach besten Kräften zu unterstützen.

Als deutscher Autor bin ich tief beschämt über die Reaktion der Bundesregierung auf die russische Invasion wie auch die öffentliche Debatte zur Unterstützung der Ukraine. Die Reaktion Olaf Scholz’ und seiner Regierung steht einigermaßen in der Kontinuität der vergangenen beiden Jahrzehnte, einer Politik des Beobachtens und Abwartens. Ich habe von der deutschen Regierung in Konfrontation mit der russischen Aggression tatsächlich nichts Besseres erwartet, besonders in Anbetracht des vorherigen Appeasements gegenüber Wladimir Putin und der allgemeinen Abhängigkeit Deutschlands von russischem Öl und Erdgas. Was mich aufbringt, ist die furchtbare Kommunikationsstrategie der Bundesregierung, die Diskrepanz zwischen öffentlicher Zurschaustellung von Entschlossenheit und dem Ausbleiben einer raschen Unterstützung der Ukraine. Der Bundeskanzler stellte sich wiederholt vor Bundestag und Presse und prahlte mit der Zeitenwende, die einen völligen Umbruch in der Verteidigungspolitik bedeuten soll. Auch prahlte er, kein anderes Land unterstütze die Ukraine mehr als Deutschland, wurde darin aber immer wieder der Unwahrheit überführt. Dieses Verhalten erinnert mich stark an populistische Emporkömmlinge wie Donald Trump und Boris Johnson. Die zögerliche Führung hat nicht zuletzt starken Einfluss auf die öffentliche Debatte in Deutschland.

Was mich aber am meisten ärgert, ist die Reaktion in Teilen der deutschen Öffentlichkeit, wie am Beispiel der deutschen Intellektuellen zu sehen. Nachdem sie sich in den ersten Kriegswochen geradezu in Unterstützungserklärungen überschlagen hatten, drängte eine Anzahl von offenen Briefen an die Bundesregierung, unterschrieben von Publizisten, Schriftstellern, Schauspielern und Wissenschaftlern, seither Olaf Scholz dazu, alle militärische Unterstützung einzustellen, um den Krieg „nicht eskalieren zu lassen“. Einer dieser Briefe behauptet, selbst berechtigter Widerstand gegen einen Aggressor stehe ab einem gewissen Punkt in keinem Verhältnis mehr zu dem Ausmaß an Zerstörung und menschlichem Leiden auf Seiten der ukrainischen Zivilbevölkerung. Dankenswerterweise veröffentlichte „New Eastern Europe“ zur Entgegnung einen sehr viel realistischeren offenen Brief, dessen Unterzeichnern ich mich aus voller Überzeugung angeschlossen habe.

Als Deutscher bin ich schockiert über den ignoranten Tonfall dieser öffentlichen Diskussion, die das ukrainische Recht auf Selbstbestimmung völlig übergeht oder gar behauptet, die Ukraine sei kein vollentwickelter Nationalstaat. Mir will scheinen, dass die deutsche Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik, die Deutschland bis zu einem gewissen Grade dazu befähigt haben, offen und aufrichtig über die Verbrechen und das Erbe Nazideutschlands zu diskutieren, mit Blick auf die Ukraine völlig versagen. Anstatt ein tieferes Verständnis der komplexen Geschichte der Ukraine und ihres Verhältnisses zu Deutschland zu entwickeln oder mehr über die Shoah auf ukrainischem Gebiet in Erfahrung zu bringen und über die Tatsache, dass die Nazis das Land als eine auszubeutende und auszulöschende Kolonie behandelten, ist die Diskussion dominiert von Plattitüden, Stereotypen und dem Wiederkauen russischer Propaganda. In Fernsehtalkshows behauptete der Soziologe Harald Welzer, Deutschlands Tätergeschichte setze die Deutschen in die Lage, den Krieg besser zu verstehen als die Ukrainer, und er riet dem ukrainischen Botschafter, nicht länger Unterstützung zu verlangen, sondern den Deutschen zuzuhören. Zur selben Zeit behauptete die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, es gebe gar keine Invasion, sondern einen Bürgerkrieg in der Ukraine. Ihr Kollege Johannes Varwick erklärte, Russland habe „vitale Interessen“ in der Ukraine, die wir zu respektieren hätten. In den sozialen Medien bin ich auf Behauptungen politisch engagierter und gutinformierter Bekannter gestoßen, es könne doch wohl keinen Vernichtungskrieg geben, wenn die Lage in Kiew ruhig sei; dass der Euromajdan von 2014 von der CIA organisiert und inszeniert worden sei; dass es „amerikanische Propaganda“ sei, Putin werde womöglich die baltischen Staaten und Polen ins Visier nehmen, wenn er in der Ukraine erfolgreich sei.

Der Ukraine den demokratischen Charakter abzusprechen bedeutet, Stereotypen und Vorurteile anzuwenden und seine Unkenntnis öffentlich zur Schau zu stellen. Diese Diskussion wird von Deutschen ganz unter sich geführt und zeigt eine Bereitschaft, den Krieg in höchst abstrakter und möglichst simplistischer Form zu betrachten. Ukrainische Stimmen aus allen Teilen der Zivilgesellschaft bringen sich heute zu Gehör wie nie zuvor, in Büchern, Kunstausstellungen, Podcasts und in den sozialen Medien. Aber aus irgendwelchen Gründen finden es Deutsche schwierig, mit Ukrainern zu sprechen, und im öffentlichen Diskurs sind kaum ukrainische Stimmen zu vernehmen; selbst proukrainische Positionen werden in Talkshows von Deutschen vertreten.

Ich wurde mit vollem Recht im Sinne der Verantwortung erzogen, dass der nationalsozialistische Aufstieg zur Macht und die Shoah sich niemals wiederholen dürfen. Jetzt muss sich Deutschland dieser Verantwortung damit stellen, eine europäische Demokratie gegen einen genozidalen Angriff zu unterstützen, der auf die Auslöschung eines ganzen Landes und seiner Kultur abzielt. Aber irgendwie hat sich das „niemals wieder“ für viele Deutsche in ein „kein Krieg“ verwandelt, und ich finde es schwer nachzuvollziehen, wieso das so ist. Offenbar ist die historische Erfahrung, dass ein unvermeidlicher militärischer Kampf für eine gerechte Sache, gewaltsamer Widerstand gegen einen verbrecherischen Gegner nicht nur moralisch geboten, sondern auch erfolgreich sein können; etwas, was mein Großonkel Franz beizeiten verstanden hatte, aber in der aktuellen Debatte völlig fehlt. Des Erbes der Widerstandskämpfer und Partisanen, die den Nationalsozialismus in einem langen und schweren Kampf besiegten, wird regelmäßig in Polen, der Ukraine und vielen anderen Ländern in Mittel‑ und Osteuropa gedacht. Doch das wird nicht als Teil von Erinnerungskultur begriffen. Anstatt zu sehen, dass wir als Deutsche in der Pflicht stehen, ständig die Erinnerung pflegen und Erziehungsarbeit leisten zur Shoah, zu den inneren Funktionsweisen von Nazideutschland und dazu, wie es besiegt wurde, habe ich den Eindruck, dass manche diese Arbeit für abgeschlossen halten. So als ob wir keiner weiteren Aufklärung in historischen Fragen bedürften, weil wir unsere Hausarbeiten schon gemacht haben. Das ist gefährlich, und wie am Beispiel Harald Welzer zu sehen, kann es zu unerträglicher Arroganz gegenüber Vertretern von Ländern führen, die eine andere historische Erfahrung haben.

Als jemand aus einem Land, das seine Identität stark darauf abstellt, offen und aufrichtig mit den Verbrechen seiner Vergangenheit umzugehen, frage ich mich, wieso in Deutschland nicht lauter gegen die Zerstörung von ukrainischen Synagogen protestiert wird, gegen den Beschuss von Gedenkstätten wie Babyn Jar oder die Tatsache, dass ukrainische Shoah-Überlebende von russischem Militär getötet wurden oder aus ihren Heimatstädten fliehen mussten. Ich hoffe aber, dass sich bald mehr öffentliche Intellektuelle, mehr Schriftsteller, Publizisten und Schauspieler dazu durchringen werden, sich für die Unterstützung der Ukraine einzusetzen. Doch im Augenblick ist die öffentliche Debatte in Deutschland traurigerweise nicht durch Erinnerungskultur, sondern von Geschichtsvergessenheit geprägt.

 

Der Text erschien zuerst unter dem Titel „Ignorance of history? Germany’s culture of memory and response to the Russian invasion of Ukraine“ in: New Eastern Europe, July 8, 2022, URL: https://neweasterneurope.eu/2022/07/08/ignorance-of-history-germanys-culture-of-memory-and-response-to-the-russian-invasion-of-ukraine/

 

Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann

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Marcel Krueger

Marcel Krueger

Marcel Krueger ist Schriftsteller und Übersetzer. 2019 hat er als offizieller Stadtschreiber von Allenstein/Olsztyn im Rahmen eines Stipendiums des Deutschen Kulturforums östliches Europa über das Leben in Ermland-Masuren berichtet. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Von Ostpreußen in den Gulag“ (2019).

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