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Europa ohne Schutzmacht: Angriff von Putin und Trump

Wer Olaf Scholz bei seiner dritten und vielleicht letzten Reise als Bundeskanzler zu seinem Amtskollegen Joe Biden in Washington beobachtete, wurde Zeuge einer erstaunlichen Verkehrung der Verhältnisse: Zwei Jahre lang war es der US-Amerikaner gewesen, der den Deutschen zu mehr Engagement in der Ukraine ermutigt hatte, nun erlebte man das Gegenteil: „Wir müssen einen Weg erreichen, wie wir alle zusammen mehr tun“, so die Botschaft des Kanzlers an die Vereinigten Staaten. Gemeinsam müsse man ein klares Signal an Russlands Machthaber Wladimir Putin senden, dass die Unterstützung des Westens für die Ukraine nicht nachlässt. Und da sei das, was der US-Kongress bisher erlassen – oder genauer: soeben verhindert – habe, nicht genug.

Der Kanzler mutierte also vom Zögerer und Zauderer zum Ermunterer Washingtons, zwecks Unterstützung seines machtpolitisch gelähmten Amtskollegen, dem der Kongress soeben die Bewilligung weiterer Milliarden für die Ukraine verweigert hatte. Die USA als Verhinderer, Deutschland als Antreiber der Pro-Ukraine-Allianz: Nichts führt deutlicher vor Augen, wie sehr Biden am Ende seiner Amtszeit zu einer lame duck geworden ist. Und zugleich zeigt es die neue Rolle, die Deutschland jetzt zukommt. „Gehen die USA an Trump, wird Deutschland zum wichtigsten Land der demokratischen Welt“, hatte Osteuropaexperte Timothy Snyder[1] unlängst gesagt – und damit noch untertrieben: Denn bereits jetzt regiert Trump faktisch mit. Ohne jede Rücksicht auf Verluste blockiert er die zur Unterstützung der Ukraine erforderlichen Milliarden, immer getreu der Devise: Trump first, der Wahlsieg ist alles. Der Ex-Präsident ist damit nicht länger bloß ante portas, sondern steht längst wieder mitten im politischen Raum, national wie global.

Noch nach seinem klaren Sieg bei der ersten republikanischen Vorwahl in Iowa hatte Trump, gerichtet an die Demokraten inner- und außerhalb der USA, gesäuselt: „Es wäre so schön, wenn wir jetzt alle zusammenkommen und gemeinsam die Probleme unserer Welt lösen könnten. […] So viel Zerstörung und Tod, so schlimm war es noch nie.“[2] Doch nur wenige Tage später, auf einer Wahlkampfveranstaltung in South Carolina am 10. Februar, war er wieder ganz der echte und alte. Als ihn der Präsident eines großen europäischen Landes gefragt habe, ob die USA dieses Land auch dann noch gegen Russland verteidigen würden, wenn es weniger als die in der Nato vereinbarten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgebe, habe er geantwortet: „Nein, ich würde Euch nicht beschützen.“ Im Gegenteil: Er würde Russland „sogar dazu ermutigen, zu tun, was auch immer zur Hölle sie wollen“.

Faktisch droht Trump damit im Stil eines Schutzgelderpressers die Aufkündigung der Nato-Beistandsverpflichtung an. Für Europa, und ganz speziell für Deutschland, ändert dies fast alles. Letztlich ist der Ausblick auf einen möglichen Wahlsieg Trumps am 5. November der Ausblick auf die Zeitenwende nach der Zeitenwende. Denn damit fiele auch die dritte jener drei zentralen Voraussetzungen weg, die den Kalten Frieden in Europa nach 1945 gesichert haben.

Drei Gründe für den Kalten Frieden

Die erste war die Teilung der Welt in zwei klar voneinander getrennte Hemisphären, in denen die jeweils dominierende Supermacht das Sagen hatte. Diese Trennung der zwei Welten durch den „Eisernen Vorhang“ (Winston Churchill) war mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 beendet; seither sind die Grenzen weitgehend durchlässig für Kapital, Arbeitskräfte und (teils diktatorisch instrumentalisierte) Flüchtlinge, aber zugleich auch bedroht von Bürgerkriegen und militärischen „Spezialoperationen“ (Putin).

Die zweite Friedensvoraussetzung war der Wechsel von der auf imperiale Herrschaftserweiterung ausgerichteten stalinistischen Sowjetunion zu einer am Erhalt des Status quo orientierten Macht, beginnend mit Nikita Chruschtschow und der kathartisch wirkenden Kuba-Krise 1962 bis hin zum demokratischen Visionär Michail Gorbatschow. Selbst beim „Raketenschach“ der 1980er Jahre gab es so etwas wie Ordnung und Kalkulierbarkeit zwischen den beiden Blöcken, schon um die Gefahr einer atomaren Eskalation zu vermeiden.

Doch Wladimir Putin hat, um im Bilde zu bleiben, das Schachbrett umgeschmissen und benutzt jetzt sogar die eigentlich zur Abschreckung gedachten Atomwaffen als Erpressungsmittel in seinem Angriffskrieg. Damit ist der imperiale Anspruch Russlands zurück auf der Weltbühne. Spätestens mit dem Überfall auf die Ostukraine und der Annexion der Krim 2014 sind Putins revisionistische Ambitionen offenbar geworden: sein Wille, den Zerfall der Sowjetunion nicht nur als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ (Putin 2005) zu begreifen, sondern diese „Katastrophe“ – mindestens was die Ukraine anbelangt – auch rückgängig zu machen.

Damit aber wird die dritte Friedensvoraussetzung umso entscheidender, nämlich die US-amerikanische Beistandsverpflichtung im Rahmen der transatlantischen Partnerschaft. Mit Gründung der Nato vor 75 Jahren, am 4. April 1949, wirkte die abschreckende Präsenz der US-amerikanischen Schutzmacht, garantierte sie doch das, auch atomare, „Gleichgewicht des Schreckens“. Im Gegensatz dazu stellt Trump Putin bereits heute einen präventiven Persilschein für mögliche Angriffe auf Nato-Staaten aus. Setzte er diese Ankündigung in die Tat um, würden die USA unter Trump letztlich von einem Alliierten zu einem Gegner Europas.

Auch wenn das Weiße Haus dies prompt für „ungeheuerlich und vollkommen verrückt“ erklärte und der amtierende US-Präsident auf den Fortbestand der „amerikanischen Führungsrolle“ verwies, kann dies nicht wirklich beruhigen. Außenpolitisch erweist sich Biden derzeit nicht nur im Ukrainekrieg, sondern auch im Palästinakonflikt als relativ machtlos, da der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu seinen zerstörerischen Krieg gegen die Hamas ungeachtet der Warnungen aus Washington immer weiter eskaliert. Und auch innenpolitisch hat Biden nicht die Kraft, sein Land im soeben Fahrt aufnehmenden Wahlkampf zu überzeugen. Seine immer häufigeren Aussetzer, aber auch die Einschätzung des (republikanischen) Sonderermittlers Robert Hur in der Dokumentenaffäre, der Präsident sei ein „wohlmeinender älterer Mann mit signifikant eingeschränktem Gedächtnis“, sind von verheerender Wirkung auf die Wahlbevölkerung. Schon zu Beginn dieses Jahres sprachen sich rund 70 Prozent der befragten Erwachsenen in den USA gegen seine erneute Kandidatur aus.[3] Und mit jedem Stolperer und jeder Verwechslung droht diese Zahl weiter anzusteigen. Längst geht bei den Demokraten die Panik um, so dass sogar über einen Kandidatenwechsel noch auf dem Nominierungsparteitag im August ernsthaft nachgedacht wird. Obwohl ein jüngerer Kandidat oder eine jüngere Kandidatin die Chancen der Demokraten tatsächlich verbessern könnte, lehrt die Geschichte doch auch, dass ein derartiger Austausch auf den letzten Metern wenig Aussicht auf Erfolg hat.[4]

Das bedeutet, dass die deutsche Bundesregierung bereits jetzt alles unternehmen muss, um sich auf eine Wahl Donald Trumps vorzubereiten. Sprich: Deutschland und Europa müssen sich Trump- und Putin-fest machen. Damit stellt sich die Frage, ob Europa über einen Plan B für den Fall verfügt, dass Biden die US-Wahl tatsächlich verliert. Art und Ausmaß dieses Plans sind wiederum von der für Europa alles entscheidenden Frage abhängig – nämlich in welchem Umfang Putin die Revision der europäischen Grenzen tatsächlich betreiben will.

Putins Revisionismus

Dass Putin soeben im Interview[5] gegenüber dem Verschwörungsideologen und Ex-Fox-News-Moderator Tucker Carlson versicherte, er werde keine russischen Soldaten nach Polen schicken – „nur in einem Fall: wenn Polen Russland angreift“ –, wird unsere Nachbarn nicht wirklich beruhigen. Schließlich hat er im Fall der Ukraine bewiesen, wie schnell er in der Lage ist, einen Präventivkrieg gegen ein angeblich „faschistisches Regime“ zu inszenieren. Und auch im Ukraine-Krieg hat er jegliche Interventionsabsichten bis kurz vor Schluss bestritten.

So sehr sich ein Vergleich Putins mit Hitler eigentlich verbietet, ist es doch höchst bemerkenswert, dass der Kreml-Chef selbst in besagtem Interview affirmativ auf den NS-Führer rekurriert. Putin legitimiert dort den deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 damit, dass die polnische Regierung sich grundlos geweigert hätte, Deutschland den sogenannten Danziger Korridor „friedlich zu geben“, obwohl Hitler die Polen doch darum gebeten habe. Vulgo: „Hitler blieb nichts anderes übrig, als bei der Verwirklichung seiner Pläne mit Polen zu beginnen“, so Putin wörtlich. Der eigentliche Feind sind denn auch in seiner Logik – heute wie damals – die Westmächte, die Polen nur deshalb unterstützt hätten, um Hitler-Deutschland ganz gezielt in einen Krieg gegen die Sowjetunion zu treiben. Die russische Armee hingegen habe jedes Recht besessen, die heute zu Belarus und zur Ukraine gehörenden ostpolnischen Gebiete zu besetzen. Denn, so Putin: „Russland hat auf diese Weise unter dem Namen Sowjetunion seine historischen Gebiete zurückerlangt.“[6]

Übertragen auf heute bedeutet dies: Es sind wiederum die Westmächte, es ist der „kollektive Westen“, der die Ukrainer von ihrem angeblich noch immer vorhandenen, vermeintlich historisch grundierten Wunsch abhalte, zu Russland zu gehören. Aber, so Putins Verheißung bzw. Drohung: „Die Wiedervereinigung wird kommen.“[7]

Das belegt einmal mehr, dass sich Putins revisionistische Ziele in erster Linie auf die Wiederherstellung der einstigen Sowjetunion beziehen, die er mit Russland faktisch gleichsetzt. Wer also nach der Ukraine besonders besorgt sein sollte – und es in der Tat längst ist –, sind die baltischen Staaten. Die vor Putin warnende estländische Regierungschefin Kaja Kallas wurde denn auch prompt wegen „feindlicher Handlungen gegen Russland“ vom Kreml zur Fahndung ausgeschrieben – letztlich mit demselben Vorwurf wie der soeben im sibirischen Straflager zu Tode gebrachte Alexej Nawalny.

Gegen ein baldiges Ausgreifen Putins über die Ukraine hinaus spricht allerdings die Tatsache, dass die russischen Streitkräfte derzeit stark in der Ukraine gebunden sind und dass Russland selbst enorme Verluste, an Soldaten wie Material, erlitten hat. Führende Militärexperten gehen daher davon aus, dass Moskau erst in fünf bis acht Jahren rein militärisch in der Lage sein wird, Nato-Staaten anzugreifen.[8] Diesen Zeitgewinn gilt es zu nutzen.

Die Verteidigung der Ukraine ist daher nicht nur aus völker- und menschenrechtlichen Gründen geboten, sondern zugleich die beste Verteidigung des freien Europas. Doch personell wie materiell, insbesondere was die Versorgung mit Munition anbelangt, ist die ukrainische Armee inzwischen derart limitiert, dass sie den Einsatz ihrer Artillerie streng rationieren muss. Es ist ein Menetekel für Europa und rational kaum zu erklären, dass die EU nicht in der Lage – oder genauer: bisher nicht willens – ist, dem ökonomisch siebenmal schwächeren Russland in der Ukraine die Stirn zu bieten. Ganz offensichtlich ist die Bedeutung dieser Auseinandersetzung für die Zukunft Europas in weiten Teilen des Kontinents noch immer nicht angekommen.

Der Ukrainekrieg wird konventionell ausgetragen. Alle Debatten, die sich gegenwärtig um die atomare Ausstattung Europas drehen, führen daher in die Irre. So sehr es richtig ist, den europäischen Pfeiler der Nato auszubauen, auch durch engere Zusammenarbeit mit den Atommächten Frankreich und Großbritannien: Eine eigenständige europäische Nuklearbewaffnung ist weder rechtlich machbar, durch die Bindung Deutschlands und vieler anderer EU-Staaten an den Atomwaffensperrvertrag, noch sachlich sinnvoll, da mangels einheitlicher EU-Außenpolitik gar nicht klar wäre, wer über die Bombe verfügen sollte.

Umso mehr gilt es aus europäischer Sicht, die Nato zu stärken – was die EU-Staaten wiederum am besten tun, indem sie den seit 2014 (gegenüber Barack Obama) zugestandenen eigenen Beitrag von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts endlich leisten. Verteidigung gegen Schutzgeld: Dieser schlichte „Deal“ ist auch ganz im Sinne Trumps. Der Fortbestand der Nato, unabhängig vom Wahlausgang am 5. November, wird also am ehesten durch die Einhaltung des Zweiprozentziels gewährleistet.

Worauf es jetzt aber vor allem ankommt, ist eine weit stärkere europäische Unterstützung der Ukraine – auch zwecks Stärkung Bidens gegen Trump im US-Wahlkampf. Letztlich geht es in diesem Schicksalsjahr um eine zweifache Selbstbehauptung der Demokratie: in Europa und in den USA. Scheitert Biden an Trump, droht Europa in der Ukraine und damit an Putin zu scheitern. Und scheitert umgekehrt Europa in der Ukraine, bringt dies Biden der Niederlage gegen Trump noch näher.

Gegen den stalinistischen Expansionismus lautete die Antwort des Westens nach 1945 „Containment“, Eindämmung. Genau das ist heute, gegen Putins Revisionismus, wieder geboten, und zwar durch massive Aufrüstung zwecks Abschreckung. Eigentlich kann der Westen angesichts seiner ökonomischen Überlegenheit dabei nur an sich selbst scheitern. Doch sein drohendes Versagen in der Ukraine lässt dieses Scheitern immer wahrscheinlicher werden – und damit zugleich ein fatales Jahresende mit den skrupellosen Brüdern im Geiste, Putin und Trump.

[1] „Trump zwei wird anders als Trump eins“, Timothy Snyder im Gespräch, sueddeutsche.de, 19.1.2024.

[2] Stefanie Bolzen, Trumps Drehbuch funktioniert, aber es bleiben zwei Probleme, welt.de, 19.1.2024.

[3] USA: „Sind Sie der Meinung, dass Joe Biden und Donald Trump als Präsident kandidieren sollten?“, statista.com, 3.1.2024.

[4] Biden or bust, economist.com, 4.1.2024.

[5] Kremlin, Interview to Tucker Carlson, youtube. com, 9.2.2024.

[6] Zitationen nach Reinhard Veser, Putins Verständnis für Hitler, faz.net, 12.2.2024.

[7] Ebd.

[8] So der Sicherheitsexperte Frank Sauer im Politik-Podcast der „Zeit“, Fünf Jahre bis zum Krieg mit Russland?, zeit.de, 16.2.2024.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in: »Blätter« 3/2024

Wir danken der Redaktion für die Möglichkeit der Veröffentlichung des Beitrags auf DIALOG FORUM.

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Albrecht von Lucke

Albrecht von Lucke

Albrecht von Lucke, geb. 1967. Der studierte Jurist und Politologe ist Redakteur der größten politisch-wissenschaftlichen Monatszeitschrift im deutschen Sprachraum, der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (www.blaetter.de). 2014 erhielt er den Lessing-Förderpreis für Kritik, 2018 den Otto-Brenner-Preis Spezial

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