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Die Instrumentalisierung der Opfer und Verluste des Zweiten Weltkriegs

Seit einigen Jahren wirft die polnische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) regelmäßig das Thema polnische Opfer und Verluste des Zweiten Weltkriegs in die Debatte. In den jüngsten Tagen ist die Frage von Reparationen und Entschädigungen – die beiden Begriffe werden häufig austauschbar gebraucht – an die Öffentlichkeit zurückgekehrt, womit Warschau zum wiederholten Male ankündigt, nunmehr endgültig Maßnahmen einzuleiten, um sie von Deutschland einzufordern. Demgegenüber erklärte die Regierung die 1953 abgegebene Erklärung zum Verzicht auf Reparationen für ungültig. Bereits vor einigen Jahren wurde ein Unterausschuss des Sejms eingerichtet, der allerdings lange keinerlei Ergebnisse vorweisen konnte. Erst unlängst erklärte er seine Arbeit für beendet und verkündete die Einrichtung eines Instituts für Kriegsverluste mit Jan Karski (1914–2000) als Namenspatron, dem Juristen, Historiker, Angehörigen des gegen die deutsche Besatzung kämpfenden polnischen Untergrunds und Zeugen der Shoah. Der Unterausschuss und anschließend auch das Institut setzten sich zum Ziel, einen vollständigen Bericht über die materiellen und menschlichen Verluste Polens im Zweiten Weltkrieg zu erstellen. Die ungeheuren Ausmaße dieser Verluste stellen Polen an die Spitze der im Krieg geschädigten Länder und Gesellschaften und sind seit Kriegsende völlig offenkundig. Sie wurden weder in Zweifel gezogen noch widerlegt. Dagegen warf ihre genaue Quantifizierung eine Reihe von Problemen auf, deren man sich bereits Ende der 1940er Jahre völlig bewusst war. Die jetzige Regierungspartei verkündete, die von ihr berufenen Fachleute seien in der Lage, diese Schwierigkeiten zu überwinden; eine vollständige Verlustbilanz werde dazu dienen, entsprechende Entschädigungen von Deutschland zu erwirken. Dabei wurden die allfälligen historischen Untersuchungen mit der Tagespolitik verquickt. Erst jetzt wurden die Ergebnisse der Arbeitsgruppe veröffentlicht. Nachdem dies jahrelang hinausgezögert worden war, wurde der Bericht nunmehr am 1. September in feierlichem Rahmen im Warschauer Königsschloss in Anwesenheit der Führungsspitze von PiS vorgestellt. Ich verzichte hier darauf, die bei dieser Präsentation gemachten Äußerungen zu rekapitulieren, denn diese sind allgemein bekannt. Es bleibt lediglich festzuhalten, dass der Bericht die Grundlage für die Reparationsforderungen an Deutschland bilden soll. Wie steht es um die Chancen, die Reparationen tatsächlich zu erhalten? Ist das überhaupt das eigentliche Ziel der Regierungspartei? Welchen Einfluss haben die polnischen Forderungen auf Gegenwart und Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen?

Kurzer Abriss zur Geschichte der Reparationen

Der Begriff der „Reparation“ stammt aus dem Völkerrecht. Er bezieht sich auf Entschädigungen, die ein im Krieg besiegter Staat an den siegreichen Staat oder die Gruppe der siegreichen Staaten zu zahlen hat. Verkürzt gesagt, beziehen sich Reparationen demnach nur auf Verpflichtungen zwischen Staaten. Sie können in verschiedener Weise geleistet werden, nämlich nicht nur in Form monetärer, sondern auch in Sach‑ (Waren, Maschinen, Güter des täglichen Bedarfs) oder in Form von Arbeitsleistungen. Praktisch umfassen Reparationen beispielsweise die Demontage industrieller Infrastruktur, die Enteignung im Ausland befindlichen Vermögens, die Beschlagnahme von Patenten oder auch die Übernahme von Gewinnen aus der laufenden Produktion.

Dagegen bezeichnet der Begriff der „Entschädigung“ in diesem Kontext eine Verpflichtung eines Staats gegenüber einer Einzelperson oder einer Gruppe von Einzelpersonen, die infolge eines von dem Staat verursachten Kriegs geschädigt wurden. Es geht also um Soldaten wie Zivilisten, die persönlich durch einen Krieg und seine Folgen Schaden erlitten haben.

Im 20. Jahrhundert wurden Deutschland zweimal Reparationen auferlegt. Dies geschah jeweils in unterschiedlicher Weise. Nach dem Ersten Weltkrieg legten die Entente-Mächte die Höhe der von Deutschland zu leistenden Reparationszahlungen auf 132 Milliarden Goldmark fest. Sie senkten diese Quote gegen Ende der 1920er Jahre jedoch wegen der Deutschland plagenden Wirtschaftskrise, die dem Land die Erfüllung seiner Zahlungsverpflichtungen unmöglich machte. Schließlich verzichteten die Entente-Mächte 1932 in Lausanne auf die Einforderung weiterer Reparationen. Deutschland war jedoch weiterhin verpflichtet, die zuvor aufgenommenen Anleihen zu bedienen; diese Ansprüche erloschen erst im Jahr 2010. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dagegen ein anderer Weg beschritten. Einerseits wollten die Länder der Antihitlerkoalition von Deutschland Beträge eintreiben, die wenigstens teilweise die Ansprüche abdeckten, die aus den ungeheuren Verlusten an Menschen und Material der von Deutschland unterworfenen und besetzten Länder abzuleiten waren. Andererseits sollte der Fehler nicht wiederholt werden, wie nach dem Ersten Weltkrieg von Deutschland zu hohe Reparationen zu fordern. Denn den Beteiligten war klar, dass die mit den enormen Reparationsleistungen nach 1918 einhergehenden Probleme die extremistischen Gruppierungen hatten erstarken lassen, die den Versailler Vertrag und die Weimarer Republik ablehnten.

Bei der Konferenz von Jalta im Februar 1945, also während noch laufender Kriegshandlungen, verständigten sich die Länder der Antihitlerkoalition darauf, dass Deutschland Reparationen nicht in monetärer Form, sondern als Sachleistungen erbringen würde. Anfänglich einigte man sich auf einen Wert von zwanzig Milliarden Dollar nach dem Kurswert von 1938. Dies war ein ungeheurer Betrag, der natürlich noch weit unter den tatsächlichen Verlusten lag, die schlicht nicht zu decken waren. Die Hälfte der festgelegten Summe sollte der Sowjetunion zufallen, die im Krieg nach damaliger Auffassung die höchsten Verluste erlitten hatte. Die andere Hälfte sollte den übrigen Alliierten zufallen – den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich. Die UdSSR sollte aus ihrem Anteil die polnischen Ansprüche befriedigen, die Westalliierten die Ansprüche der übrigen fünfzehn Staaten, darunter Albaniens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens. Auf der Potsdamer Konferenz von Juli und August 1945 wurde präzisiert, die Reparationen sollten von den Mächten in ihren jeweiligen Besatzungszonen eingetrieben werden. Zusätzlich sollte die UdSSR aus den Westzonen 25 Prozent der Industrieausrüstungen erhalten. Im Gegenzug sollte Moskau Lebensmittel liefern. Die damals bereits von den Kommunisten dominierte polnische Regierung unterzeichnete am 16. August 1945 mit der UdSSR eine Vereinbarung, welche die Übergabe von Reparationsleistungen regelte.

Die in Potsdam getroffenen Regelungen erwiesen sich als nicht uneingeschränkt durchführbar. Bereits 1947 wurde in den westlichen Besatzungszonen die Entnahme von Reparationen teilweise eingestellt, 1949 erfolgte dort der endgültige Verzicht auf weitere Reparationen. Schätzungen belaufen sich auf eine Quote von nur 517 Millionen Dollar der eingenommenen Leistungen, ein geringer Betrag im Verhältnis zu den veranschlagten zehn Milliarden.

Die Sowjetunion dagegen trieb ihre Reparationen sehr konsequent, ja brutal ein. Aus der sowjetischen Besatzungszone wurde schlicht gesagt alles ausgeführt, was nur möglich war, von Möbeln bis zu ganzen Fabriken. Die Ausrüstung ganzer Wirtschaftssektoren wurde demontiert und nach Osten abtransportiert, darunter die der Kfz‑, der Gummi- und der Luftfahrtindustrie. Der Grad der Liquidierung einzelner Wirtschaftssektoren reichte von 80 bis 100 Prozent. Die Schwerindustrie wurde insgesamt zu etwa zwei Dritteln liquidiert. Letztlich entnahm die Sowjetunion Reparationen in Höhe von 3,082 (gemäß Vereinbarung zwischen UdSSR und Volksrepublik Polen) bis zu 4,292 Milliarden US-Dollar nach dem Kurswert von 1938 (gemäß Vereinbarung zwischen UdSSR und DDR); es ist heute nicht mehr möglich, die von der UdSSR entnommenen Reparationsgüter genau zu ermitteln. Die Quote lag jedenfalls weit unter der Hälfte der ursprünglichen Vereinbarung. Aber auch so waren die Folgen für die Wirtschaft der späteren DDR verheerend. Der dort am 17. Juni 1953 ausgebrochene Volksaufstand hatte seine Ursachen in erheblichem Maße gerade in der schwierigen Wirtschaftslage. Die Sowjetunion schlug den Aufstand gewaltsam nieder, entschied sich aber andererseits, keine Reparationen mehr einzutreiben.

Die Einzelheiten der Übergabe von Reparationsleistungen an Warschau wurden in der oben erwähnten gesonderten Vereinbarung festgelegt, welche die Sowjetunion privilegierte. Praktisch war Polen auf Wohl oder Übel auf Moskau angewiesen. Ein gutes Beispiel sind die vormaligen deutschen Gebiete östlich von Oder und Lausitzer Neiße, die nach dem Krieg an Polen angeschlossen wurden. Infolge der Westverschiebung der polnischen Ostgrenze verlor Polen ungefähr 50 Prozent seines Vorkriegsgebiets. Ohne den Erwerb neuer Gebiete konnte es sich nicht normal entwickeln. Die Potsdamer Vereinbarung sah vor, diese Gebiete nicht als Besatzungszone einzustufen, sondern als der polnischen Verwaltung unterstelltes Gebiet und Bestandteil des Staatsgebiets Polens, wobei dies endgültig erst in einem Friedensvertrag geregelt werden sollte. Die Sowjetunion sollte diesen Gebieten keine Reparationsleistungen entnehmen. Doch in der Praxis gestaltete sich das ganz anders. Mehrere Monate lang, nachdem die Rote Armee diese Gebiete eingenommen hatte, wurden ganze Eisenbahntransporte nach Osten geschickt. Ganz wie in der sowjetischen Besatzungszone, wurden Fabriken demontiert und in die Sowjetunion ausgeführt. Auch Werkstatts‑ und Wohnungsausstattungen wurden konfisziert. Zwar verpflichtete sich die Sowjetunion in dem Abkommen vom 16. August 1945, Polen bestimmte Reparationsleistungen zu überlassen, verlangte dafür aber im Gegenzug von Warschau die Lieferung von Kohle zu günstigen Konditionen – offiziell zu niedrigen Preisen, praktisch aber fast umsonst, weil der Preis die Kosten von Abbau und Transport nicht deckte. Dies bedeutete eine ungeheure Belastung für die ruinierte polnische Wirtschaft und machte den Nutzen aus dem Empfang von Reparationsleistungen großteils zunichte. Von den etwa drei Milliarden US-Dollar Reparationen an die UdSSR erhielt Polen nur 7,5 Prozent, also den Gegenwert von 231 Millionen US-Dollar. Dies stand natürlich nicht nur in keinem Verhältnis zu den wirklichen Verlusten, sondern auch zu den Vereinbarungen von Potsdam. Polen bekam von der Sowjetunion die Ausstattungen von einen guten Dutzend Fabriken und Transportmittel: Schiffe, Kraftfahrzeuge, Motorräder, Fahrräder und rollendes Material. Interessanter‑ und überraschenderweise sind in den Protokollen auch Teppiche, Musikinstrumente, Hüte, Fotoapparate u. ä. m. aufgeführt. Obwohl die Zusammenarbeit mit der UdSSR für Polen ungünstig verlief und die erhaltenen deutschen Reparationsgüter großteils veraltet waren, bedeutete dies trotzdem noch für die darniederliegende Wirtschaft einen großen Schub. Damit hatte es 1953 ein Ende, als die Sowjetunion die Entnahme von Reparationen aus der von ihr kontrollierten DDR aussetzte. Polen ging einen Schritt weiter und verzichtete auf die Entnahme von Reparationen aus Deutschland insgesamt. Anscheinend gaben hierbei zwei Faktoren den Ausschlag: Erstens handelte Polen möglicherweise unter sowjetischem Druck, den Polen als Mitglied des Ostblocks nicht einfach ignorieren konnte. Zweitens wollte die polnische Regierung die Praxis der eigentlich kostenlosen Kohlelieferungen beenden, die die Wirtschaft des Landes schwer belasteten. Schließlich unterschrieben Volkspolen und die UdSSR 1957 ein Protokoll, das alle offenen Fragen wechselseitiger Reparationsansprüche abschloss. Natürlich ist es juristisch strittig, ob die von Polen unterzeichnete Erklärung mit Blick auf den möglicherweise von sowjetischer Seite ausgeübten Druck rechtsgültig war. Aber dies ist eine heikle Frage. Vereinbarungen, die eine bestimmte Rechtsrealität schufen und jahrzehntelang nicht hinterfragt wurden, nunmehr aufzukündigen, kann unvorhersehbare Folgen zeitigen. Darüber hinaus wurde der Rechtsakt von 1957 durch Nachfolgeregierungen mehrfach bestätigt, auch solche der Dritten Republik Polen.

Der hinausgezögerte Bericht

Der Bericht nimmt sich des Problems an, wie die menschlichen und materiellen Verluste erneut zu schätzen seien. Für Forscher, die mit den Forschungsergebnissen vom Ende der 1940er, Anfang der 1970er und Anfang der 2000er Jahre bestens vertraut sind, wäre gewiss von Interesse, welche Materialien und Methoden dazu herangezogen wurden. Der Bericht setzt sich aus drei Teilen zusammen. Im ersten werden verschiedene Zusammenstellungen präsentiert, im zweiten Fotografien, im dritten ein Verzeichnis der zerstörten Orte. Der der Sache nach gewichtigste Teil ist der erste Band, der allerdings bei der Lektüre viele Fragen aufkommen lässt. Auf dem Titelblatt ist keine wissenschaftliche Herausgeberschaft verzeichnet, was bereits zu denken gibt. Die Einleitung des Bandes stammt nicht von einem wissenschaftlichen Herausgeber, sondern von dem vormaligen Vorsitzenden des Sejm-Unterausschusses, dem PiS-Politiker und ‑Abgeordneten Arkadiusz Mularczyk. Aus unbekannten Gründen wurde auf die sonst üblichen Bestandteile dieser Textgattung verzichtet, nämlich einen zumindest kursorischen Überblick über den Forschungsstand zu geben sowie über die angewandte Methodologie und die Quellenbasis. Mithin erfährt der Leser nicht, welche Anstrengungen früher zur Schadenserhebung gemacht wurden, welche Ergebnisse diese erbrachten und auf welche Probleme sie gestoßen waren. Genauso wenig erfährt er, welche Methoden die Wissenschaft weltweit zur Ermittlung von materiellen und menschlichen Verlusten anwendet. Auffällig abwesend ist ebenso die Berücksichtigung der den Reparationen anrechenbaren, bereits an Polen übergebenen Sachwerte oder der ausgezahlten Beträge zur Entschädigung konkreter Gruppen, zum Beispiel der Opfer verbrecherischer medizinischer Experimente oder der Zwangsarbeiter. Auch fehlen Angaben zum finanziellen Aufwand des polnischen Staats, der nach 1945 Invaliden‑ und Witwenrenten zahlen musste. Weitere Fragen könnten gestellt werden in Bezug auf die Auswahl der Autoren der einzelnen Teile der Untersuchungen und der verlagsseitigen Gutachter. Historiker, die sich lang mit Reparationen und Entschädigungen befasst haben und Spezialisten zum Zeiten Weltkrieg wurden nicht zur Mitarbeit eingeladen. Ebenso wenig wurden Fachleute der historischen Demographie herangezogen. Die Autoren sind Historiker vom Institut für Nationales Gedenken (IPN) oder Fachleute ganz anderer Epochen und Sachgebiete als dem in dem Bericht behandelten. Die Auswahl der Ökonomen lässt ähnliche Zweifel aufkommen. Fachleute des Völkerrechts zählen gleichfalls nicht zu den Mitarbeitern. Die Gutachter sind Historiker ohne ausgewiesene Fachkenntnisse zum Zweiten Weltkrieg und zu Reparations‑ und Entschädigungsfragen, ähnliches gilt für die wirtschaftswissenschaftlichen Gutachter. Unter diesen befindet sich kein einziger Fachmann für Völkerrecht. Jeder kann sich von Inhalt und wissenschaftlicher Qualität des Berichts selbst ein Bild machen, denn er ist online auf polnisch und englisch zugänglich. Die inhaltlichen Vorbehalte aufzuführen, würde den Rahmen dieses kurzen Beitrags sprengen. Hier soll nur auf einen Anhang verwiesen werden, der den Kriegszerstörungen in den sogenannten „Wiedergewonnenen Gebieten“ gewidmet ist. Dessen Autor gelangte zu folgenden Schlüssen: „Der Wert der Kriegszerstörungen in den sogenannten Wiedergewonnenen Gebieten betrug mindestens 21,6 Milliarden Złoty in Vorkriegswährung, womit der wirkliche Unterschied im Vermögenswert zwischen den an die UdSSR verlorenen Gebieten und den sogenannten Wiedergewonnenen Gebieten bei einem Betrag von höchstens 6,3 Milliarden Złoty in Vorkriegswährung liegt. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass in den obigen Berechnungen nicht die Kosten und Verluste aus dem Bevölkerungsverlust berücksichtigt sind (die verlorenen Gebiete waren besiedelt, die Wiedergewonnenen Gebiete praktisch verlassen), die Unterbrechung bestehender lokaler und regionaler Versorgungslinien, die Verluste an städtischer und dörflicher Bebauung, soweit diese zu weniger als 15 Prozent zerstört war, sowie eine Reihe sozialer Folgeerscheinungen, die sich beispielsweise auf die Produktivität der umgesiedelten Bevölkerung auswirkten. Es ist nicht irreführend festzustellen, dass nach der Berücksichtigung wenigstens der Schätzung der genannten Kosten der Wert der Grenzgebiete [d.h. der von Polen an die UdSSR abgetretenen polnischen Ostgebiete; A.d.Ü.] den Wert der Wiedergewonnenen Gebiete 1945 überstieg.“

Das Fehlen eines kritischen Vergleichs mit den deutschen Schätzungen und die Übergehung der Literatur zum Thema Aussiedlung der deutschen Bevölkerung und zur wirtschaftlichen und nationalitätenpolitischen Lage in den verlorenen Ostgebieten führt zu diesen zweifelhaften Schlussfolgerungen.

Es gibt dringenden Diskussionsbedarf zur Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen

Die PiS-Partei regiert seit Jahren vermittels einer starken Polarisierung der Gesellschaft. Sie greift vorzugsweise Themen auf, die stark emotionsgeladen sind und Debattenteilnehmer gegeneinander aufbringen. Sie tut dies häufig dann, wenn die eigenen Zustimmungswerte sinken oder sie andere Probleme verschleiern will. Auf solche Weise instrumentalisiert werden leider das Verhältnis zu Deutschland und Vorwürfe aller Art gegen den westlichen Nachbarn. Jetzt die Reparationsfrage aufzugreifen, dient in erster Linie diesem Zweck. Besäße die Regierungspartei starke juristische Argumente, hätte sie schon längst Forderungen erhoben. Hat sie aber nicht. Die deutsche Thematik wird ausschließlich zu innenpolitischen Zwecken eingesetzt. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit von den beträchtlichen Summen ab, die dem Land wegen des Konflikts zwischen PiS und EU entgehen.

Das Regierungslager ist nicht geschlossen. Es besteht aus verschiedenen Parteien, die einander mit möglichst radikalen Forderungen zu übertrumpfen suchen. Darin fließen teils antieuropäische Haltungen und die Behauptung ein, Deutschland wolle zur Polen bedrohenden Großmacht aufsteigen. Solche Behauptungen hat der PiS-Vorsitzende nunmehr vorbehaltlos in seine Rhetorik aufgenommen. Faktisch geht es jedoch um etwas anderes. Wie die meisten politischen Beobachter in Polen betonen, haben die gegen die Europäische Union und Deutschland erhobenen Vorwürfe zum Ziel, die eigenen Misserfolge und die Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit zu verdecken. Sie dienen dazu, die Unterstützung der Wählerschaft aufrechtzuerhalten, um die eigenen Chancen bei den Sejmwahlen im nächsten Jahr zu verbessern. Statt den Polen schadenden Streit mit der EU um eine Justizreform zu beenden, die keineswegs das polnische Gerichtswesen verbessert hat, werden immer weitere Vorwürfe erhoben sowie die Reparationsfrage benutzt, um die eigenen Wähler zu mobilisieren und die Umfragewerte aufzupolstern.

Die für das nächste Jahr geplanten Parlamentswahlen und der sichtliche Rückgang der Zustimmungswerte für PiS sorgen in der Partei für Nervosität, die nun versucht, die Reihen zu schließen. Offenbar wollen aber die meisten Polen, ohne den Krieg und die schweren Verluste von vor fast achtzig Jahren zu vergessen, nicht zu den alten Parolen vom Feind jenseits der Westgrenze zurückkehren. Sie sehen gutnachbarliche Beziehungen als Selbstverständlichkeit und Errungenschaft, selbst wenn sie die deutsche Politik etwa mit Blick auf Russland teilweise kritisch beurteilen. Die antideutsche Karte wird ganz gewiss weiter vom PiS-Lager gespielt werden, aber das Spiel voraussichtlich nicht entscheiden. Sehr wohl aber können die wirtschaftlichen Probleme, vor denen Polen steht, Entscheidungen beeinflussen. Die galoppierende Inflation, die mögliche Energiekrise und weiteres geraten immer stärker in die Kritik. Auf wenn will die Regierung die Unzufriedenheit abwälzen? Nur auf die Deutschen und diejenigen Polen, die sich für die weitere Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehungen einsetzen? Die Polen verstehen mehrheitlich, dass ihre Sicherheit und ihr Wohlstand vom Westen abhängen. In der aktuellen Krise ist zu fragen, welche Vorsorge die Regierung dafür getroffen hat, welche Aktiva und Rücklagen sie einsetzen kann, ob die Staatsverschuldung, die Verschwendung von Mitteln für massive Investitionen und umfassende Sozialtransfers vernünftig waren, über deren ökonomischen Sinn sich streiten ließe. Schließlich, ob es sinnvoll ist, gerade jetzt die europäischen Partner lautstark zu beschimpfen, wo es doch von der Einheit Europas abhängt, ob Putin gestoppt werden kann, die Ukraine Unterstützung erhält und die eigenen Gesellschaften gegen ein dramatisches Absinken des Lebensstandards geschützt werden können.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz

Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

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