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Józef Wittlin, Schriftsteller Mitteleuropas

Wenn wir Czesław Miłosz, Witold Gombrowicz und Gustaw Herling-Grudziński, mithin die crème de la crème der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts, noch fragen könnten, wer ihrer Meinung nach in der polnischen Literatur ihrer Zeit der hervorragendste, tiefgründigste und vielseitigste Autor gewesen sei, dann bräuchten sie vielleicht einen Augenblick, um sich auf die Zunge zu beißen und nicht ihren eigenen Namen zu nennen, aber anschließend würden alle drei mit großer Wahrscheinlichkeit Józef Wittlin nennen.

Bücher haben ihre Schicksale, die Geschichte hat ihre Capricen und die Welt ihre Dynamik. Wittlin ist der Autor des epochalen, in viele Sprachen übersetzten Romans „Sól ziemi“ (1935, dt. Erstausgabe „Das Salz der Erde“, 1937) und ein unvergleichlicher Übersetzer von zahlreichen Autoren verschiedener Epochen, vom Gilgameschepos und der Odyssee bis zu Joseph Roths Romanen und Georges Bernanos’ Lyrik ; er war einer der führenden Dichter der Vorkriegszeit und einer der interessantesten Essayisten der Nachkriegszeit; bei Kriegsausbruch 1939 wurde er als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt und war während seines gesamten Erwachsenenlebens eine moralische und künstlerische Autorität; ein Kettenglied, das Traditionen und Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts zusammenschloss; ein brandaktueller Autor vor einem Jahrhundert, vor einem halben Jahrhundert und noch heute. Auch ist Wittlin ein so gut wie vergessener Schriftsteller.

Wittlins Biographie ist das gesamte reiche 20. Jahrhundert in der Nussschale. Er wurde am 17. August 1896 in dem heute westukrainischen Weiler Dmytrów (ukr. Dmytriw in Podolien) in einer jüdischen Familie geboren. 1906 bis 1914 besuchte er in Lemberg das klassische Gymnasium und begann noch als Schüler, Homers Odyssee zu übersetzen. Anschließend setzte er seine Ausbildung in Wien fort, dem wichtigsten intellektuellen Zentrum Österreich-Ungarns, wo er literarische Freundschaften schloss, so mit Joseph Roth und Rainer Maria Rilke. 1916 bis 1918 diente er in der österreichischen Armee, nach dem Ersten Weltkrieg kehrte er nach Lemberg zurück, wo er einige Zeit als Lehrer arbeitete. 1920 erschien sein Erstlingswerk, der Band „Hymny“ (Hymnen), das einen poetischen Kommentar des Pazifisten und Polen zum polnisch-ukrainischen Bürgerkrieg von 1918 und zum Lemberger Novemberpogrom desselben Jahres bildete. Zwei Jahre darauf wurde er in Łódź Direktor des Stadttheaters, unterrichtete an der dortigen Schauspielschule und schrieb gelegentlich Theaterrezensionen. Im weiteren Verlauf der zwanziger und dreißiger Jahre hielt er sich meist in Warschau auf, das damals auf Kosten des etwas an den Rand gedrängten Lemberg rasch an Bedeutung gewann, und von dort wurde er durch den zunehmenden Antisemitismus noch am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in die Flucht nach Westeuropa getrieben. Damals konnte er bereits einen Gedichtband vorweisen, verstreute Schriften, das „Salz der Erde“ und zwei Fassungen seiner ausgezeichneten Odyssee-Übersetzung (von 1924 und 1931). Eine dritte, auf die er einen guten Teil seiner reifen Jahre verwendete, sollte 1957 in London erscheinen.

1939 und 1940 führte Wittlin mit seiner Familie ein Wanderleben durch halb Europa, doch schließlich emigrierte er für immer nach New York. In den USA schloss er sich dem Kreis emigrierter Literaten und Kulturschöpfer an, war am Polnischen Wissenschaftsinstitut aktiv und arbeitete mit Freunden aus der Vorkriegszeit zusammen, mit Kazimierz Wierzyński und Jan Lechoń. Auch begann er damals seine langjährige Arbeit für Radio Free Europe, für das er Beiträge über Literatur und Theater schrieb. Zwischen 1962 und 1975 reiste er regelmäßig nach Europa, meist nach Italien, Frankreich und nach Madrid, wo sich seine Tochter niedergelassen hatte. Doch er kehrte nicht zurück, um zu bleiben, denn das Europa seiner Jugend existierte nicht mehr. Wenn auch mit einigem Widerstreben schrieb er von New York aus für die polnischen Exilzeitschriften „Wiadomości“ (Nachrichten) in Rom und „Kultura“ in Paris Essays und andere kurze Stücke. Als kränkelnder Emigrant, deprimiert von der Katastrophe Europas im Krieg und von der Spaltung durch den Eisernen Vorhang, heimgesucht vom Gespenst der Shoah, schrieb er fast nichts mehr von den Dingen, über die er lange angestrengt nachgedacht und die er bereits bis in die Einzelheiten konzipiert hatte. Er fühlte sich in Amerika nie zuhause; er schlug in der Emigration keine Wurzeln. Sein Vaterland war das Mitteleuropa der Vorkriegszeit – eine Welt, die zwischen 1914 und 1944 von der Erdoberfläche verschwunden war. Wittlin starb am 22. Februar 1976 in einem New Yorker Krankenhaus.

Doch nicht Wittlins Leben, dessen mitteleuropäische Kleinteiligkeit und dessen spätere Abschnitte zeugen von Größe, sondern, was sich in diesem Leben von der ganzen schmerzerfüllten Epoche niederschlug, wie auch von vielen anderen, ganz anders gearteten Epochen. Alles ist hier zu finden, von den Zeiten Homers über den heiligen Franziskus und die Habsburger bis zum Antisemitismus des 20. Jahrhunderts, den Kalten Krieg und Hiroshima. Wittlin besaß nämlich die selbst bei großen Autoren seltene Gabe, seine Werke einfach und unprätentiös zu halten und doch um das kreisen zu lassen, was universell und bedeutsam ist.

Wittlins Werk ist nicht von imponierendem Umfang: ein Roman, ein wenig Lyrik, ein allerdings umfangreicher Essayband („Orfeusz w piekle XX wieku“ – Orpheus in der Hölle des 20. Jahrhunderts, 1963), Übersetzungen und seine seit einiger Zeit nach und nach erscheinenden Briefe und Tagebücher aus den letzten Lebensjahren, für die die Rechtsansprüche nicht geklärt und die niemandem bekannt waren, nichtmals seiner Tochter, der Künstlerin und Bühnenbildnerin Elżbieta Wittlin-Lipton. Aber dieses Werk ist sehr geschlossen und reif, stets von einem gefestigten Weltbild untermauert, sprachlich filigran und genauestens durchdacht; Wittlin arbeitete bekanntermaßen an einem Text von nur wenigen Seiten manchmal jahrelang und war mit dem Ergebnis selten zufrieden. Doch trotz seines bescheidenen Umfangs ist das Gesamtwerk Wittlins imponierend und ein großartiges Zeugnis. Doch Zeugnis wovon? Am ehesten vielleicht von der erzwungenen Verpflanzung des Schmelztiegels des alten Mitteleuropas, seiner Völker und Kulturen, seiner Triumphe und Niederlagen, seiner Sprachen und Literaturen nach Amerika, dem „Gelobten Land“. Das gilt besonders für Wittlins Essayistik, in der der Atlantik ein wenig fehlt, wenn auch nicht ganz vergessen ist: In seinen Texten gehen Wittlins Freunde aus den Lemberger und Wiener Jahren zusammen mit amerikanischen Dichtern, Prosaisten und Bühnenautoren spazieren, in der Shoah ermordete Juden gemeinsam mit Überlebenden, die sich am Ufer des Hudson niedergelassen haben.

In seinem Essay „Poe w Bronksie“ (Poe in der Bronx) von 1952 schreibt Wittlin: „Es gibt kein Feuer, und doch liegt seit einiger Zeit Brandgeruch in der Luft. Er weht von fernen und vielleicht schon erloschenen Öfen heran. Wenn er nur wüsste! Geister sitzen rings um Poes Haus. Das ganze jüdische Galizien von vor dem ersten Krieg. Die ganze Sonnabendgesellschaft aus dem Jesuitengarten in Lemberg. In der Nähe steht gar ein ähnlicher Pavillon mit griechischen Säulen. Wie jenes Rondell, auf dem die unbestatteten, verbrannten jüdischen Kinder Toter Mann spielten. Da, da ist Lwów [Lemberg] und Buczacz [ukr. Butschatsch], Tarnopol [ukr. Tarnopil] und Kopyczyńce [ukr. Kopytschynzi]. Das ganze Treblinka und das ganze Majdanek. Sitzt auf diesen Bänken. Der Geruch von Verbranntem ist deutlich zu spüren. Raben kreisen über den Bänken und kreischen über den Menschen und kreischen über der unsichtbaren, aber allgegenwärtigen Asche. Nevermore. Nevermore. Was ist der Untergang des Hauses Usher im Vergleich zu jenem Untergang?“

Wittlin war kein Chronist. Das große historische Fresko war seine Sache nicht. Aber was war nicht alles zu beschreiben! Da begaben sich auf den Ozeankreuzern Millionen von Europäern vornehmlich aus Mitteleuropa in das „Gelobte Land“, in ein Land, das ihnen seit dem 17. Jahrhundert ein zweites Zuhause war. Nun flohen sie nicht vor der Not wie in früheren Jahrhunderten, sondern vor dem großen Brand, der den ganzen Alten Kontinent verzehrte.

Die Emigration nach 1939 verpflanzte nicht so sehr einzelne Bäume, vielmehr versetzte sie ganze Ökosysteme von einem Kontinent auf den anderen, ganze Welten – eine jüdische, eine polnische, eine russische, eine ukrainische, eine rumänische, eine tschechische und auch eine deutsche.

Während des Kriegs gelangten viele Schriftsteller aus Österreich, Ungarn und Deutschland an Wittlins Exilort New York. „Das war ein sehr spezielles Milieu“, schrieb Czesław Miłosz, „gleichsam eine Fortsetzung der Habsburgermonarchie und der Weimarer Republik, darin bewegten sich Hermann Broch, der Autor des ,Todes des Vergil‘, oder auch Béla Bartók.“ Dieses Milieu war für Wittlin ein natürliches Habitat. Das seiner Jugend, seiner Schulzeit. Gelang es ihm aber, diesen neuen Zustand in Literatur umzusetzen?

Jahrzehntelang stritten die Autoren darüber, ob die Emigration mehr Schatten‑ als Lichtseiten hatte. Der rumänische Philosoph Emil Cioran sah in der Emigration nur Übles, Witold Gombrowicz ganz im Gegenteil eine große Chance für den Schriftsteller, seine Fesseln abzustreifen. Wittlin befasste sich mit dem Thema etwa in seinem Essay „Blaski i nędze życia na wygnaniu“ (Glanz und Elend des Lebens im Exil): „Die Entwurzelung des Schriftstellers von der Erde, auf der er mehr oder minder lange in Symbiose mit der Sprache dieser Erde gelebt hat, kann eine furchtbare Gewalttat sein. Von dem heimatlichen Stamm abgetrennt zu sein, spüren selbst Schriftsteller schmerzhaft, die nur auf Zeit und freiwillig außerhalb ihres Landes leben.“

Anders als Miłosz, Gombrowicz und Herling-Grudziński, aber auch viele weitere Schriftsteller, die aus Mitteleuropa vertrieben und in die Neue Welt verschlagen worden waren und die es schafften, ihr Leben von Grund auf neu einzurichten, vermochte Wittlin in der Emigration nicht zu schreiben. Er verzweifelte nicht wie etwa Jan Lechoń, der sich das Leben nahm; er resignierte nicht wie etwa Julian Tuwim, der in das kommunistisch beherrschte Polen zurückkehrte.

Zwar schrieb er noch gelegentlich, aber nicht das, was er sich vorgenommen hatte: Er fing keinen Roman mehr an, entwickelte seine Ideen aus der Vorkriegszeit nicht weiter, schrieb nur selten neue Gedichte. Wenn er sich äußerte, worauf die polnische Diaspora übrigens sehr aufmerkte, dann meist als Essayist, Kritiker und Kulturphilosoph; in Gedanken kehrte er zur Welt vor der Shoah zurück, niemals aber im Tonfall kitschiger Nostalgie. Das Drama des 20. Jahrhunderts, das Drama der mitteleuropäischen Juden hatte ganz von seinem Vorstellungsvermögen Besitz ergriffen. Und als dazu passendste Sprache erschien ihm das Schweigen.

Das schriftstellerische Werk Wittlins zählt zu den wertvollsten und kostbarsten literarischen, durch ihre Zeitlosigkeit ausgezeichneten Denkmälern Mitteleuropas, mit seiner k.u.k.-Nostalgie, seinem Jüdischsein und seiner unauflösbaren Verwebung von Latein und Kyrilliza. Es hält den Vergleich stand zu Franz Kafka, Thomas Mann, Robert Musil, Joseph Roth, Alfred Döblin und Primo Levi, genauso wie zu Hannah Arendt, Giorgio Agamben und Zygmunt Bauman. Es ist ein Meilenstein des Nachdenkens über das 20. Jahrhundert und dessen dramatischen Ablauf, der offenbar nirgendwo so erlebt wurde und immer noch wird wie hier, zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd. In Polen und in Mitteleuropa Wittlin wiederzuentdecken, den pazifistischen Soldaten, den Bürger der Donaumonarchie und den Polen aus der Ukraine, aber auch den Ewigen Juden und wandernden Odysseus, ist ein Gebot der Stunde, wenn wir endgültig das Jahrhundert der Kriege und Ideologien bewältigen und uns von ihm verabschieden wollen.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Jacek Hajduk

Jacek Hajduk

Jacek Hajduk ist Schriftsteller, Übersetzer und Altphilologe, lehrt an der Krakauer Jagiellonen-Universität.

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