Arkadiusz Szczepański: Anfang Februar haben Sie ein Buch herausgebracht. Es handelt sich um die bereits 2008 auf Englisch veröffentlichten Erinnerungen von Jan Kamieński unter dem Titel „Verborgen vor den Augen des Feindes“ (Sandstein Verlag). Wer war Jan Kamieński? Weshalb haben Sie und die Deutsch-Polnische Gesellschaft Sachsen sich dafür eingesetzt, dass seine Erinnerungen auf Deutsch erscheinen?
Wolfgang Howald: Jan Kamieński ist eine weitestgehend unbekannte Person, dessen Biographie jedoch Aufmerksamkeit verdient – gerade in Sachsen, weil die Erinnerungen, die nun auch auf Deutsch erschienen sind, sich maßgeblich auf seine Zeit in Dresden während des Zweiten Weltkrieges konzentrieren und somit Teil unserer sächsischen Geschichte sind. Kamieński erlebt mit 16 Jahren den Überfall der Wehrmacht auf sein Heimatland Polen und anschließend das grausame Besatzungsregime. Er schließt sich dem polnischen Widerstand an und geht in dessen Auftrag 1941 mit gefälschten Papieren nach Dresden, um dort Kontaktperson des Widerstandes zu sein. Sein Bericht beschreibt seine Erlebnisse, Wahrnehmungen, Eindrücke bis zu seiner Emigration nach Kanada 1949. Kamieński durchlebt eine Fülle teilweise lebensgefährlicher Situationen, die er spannend zu beschreiben weiß. Es erstaunt, wie aufmerksam der Autor die Stimmungen in der Dresdner Bevölkerung unter der NS-Herrschaft beobachtet, an wie viele Ereignisse er sich noch im Alter erinnern kann, wohl, weil sie sein Leben geprägt haben.
Am erstaunlichsten – und das macht das Buch für Deutsche so besonders – ist die unvoreingenommene Innensicht eines Polen auf die deutsche Gesellschaft während des Krieges, die in den Deutschen, die sein Land so brutal unterdrücken, nicht nur Feinde sieht. So begegnet Kamieński in Dresden auch Personen, die ihm menschlich und geistig nahestehen.
Neben den vielen bedrohlichen Situationen, in die der Autor hineingerät, ist für deutsche Leser auch seine Schilderung der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 hervorzuheben, in die er hautnah hineingerät. Selten wurden diese Geschehnisse so eindrücklich geschildert.
In Polen ist, soviel wir gehört hatten, sein Bericht bisher nicht bekannt gewesen. Nicht nur in der Heimatstadt des Autors Poznań dürfte das Interesse aber beachtlich sein, wie wir aus der Reaktion unserer Freunde in Poznań, die wir informiert hatten, feststellen konnten.
Jan Kamieński kam 1923 in Polen zur Welt, erlebte den deutschen Überfall auf Polen 1939 und verbrachte als Sohn einer deutschen Mutter und eines polnischen Vaters den Zweiten Weltkrieg in Dresden. Konnte er sich als Kind aus einer „Mischehe“ frei bewegen? Was veranlasste ihn, nach Dresden zu kommen?
Kamieński erlebte die Barbarei der deutschen Herrschaft in Poznań, die Schließung der dortigen Universität, an der sein Vater, ein Musikwissenschaftler und Komponist, Dekan war, dessen zeitweise Verhaftung, die brutale Umsiedlung aus dem „Warthegau“, die Verschleppung von Kindern zur „Germanisierung“, den Abtransport der jüdischen Bevölkerung. So gerät er in Kontakt zum Widerstand. In Poznań wird er zunächst für die „Kleine Sabotage“ (Flugblätter, Beschädigung der Autos der Deutschen, Störung des Telefonsystems des deutschen Militärs) eingesetzt, bis er den Auftrag für Dresden erhält.
Seine Mutter, eine Konzertsängerin, war in Königsberg geboren. In die „Deutsche Volksliste“ der Nazis wurde sie jedoch nur in die Gruppe 4 (sog. Renegaten) eingetragen, da sie ausschließlich in polnischen Kreisen verkehrte und sich als Polin betrachtete. Kamieński berichtet, dass die Familie unter deutscher Besatzung auch nur polnische Essensmarken erhielt. Die Mutter hatte ihm einige Deutschkenntnisse beigebracht. Der polnische Widerstand beschaffte ihm Papiere unter einem deutsch klingenden Namen als Staatenloser. So konnte er in Dresden eine Arbeit aufnehmen und einen Wohnsitz beziehen.
Der Auftrag des polnischen Widerstandes an ihn war, einen Stützpunkt für geheime Kuriere zu bilden und die polnischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in den vielen Lagern in und um Dresden mit Nachrichten zu versorgen.
Obschon er im polnischen Widerstand aktiv war, schien er auch ein „normales“ Leben in Deutschland geführt zu haben, hatte Freunde und Bekannte. Wie war sein Verhältnis zu den Deutschen während des Krieges?
Kamieński lernte über seine (vergeblichen) Versuche, an der Kunstakademie in Dresden studieren zu können, Franziska Ulich kennen, mit der er sich eng anfreundete. So bekam er engen Kontakt zur Familie des Vaters Dr. Franz Ulich, der 1933 als SPD-Mitglied von den Nazis aus dem Staatsdienst entlassen worden war. In deren Wohnung im Dresdner Vorort Hellerau – Kamieński hatte Quartier in der Nachbarschaft bezogen – war er häufig zu Gast. Die Freundschaft veränderte sich auch nicht, als man ihn als Polen erkannte. Seinem konspirativen Auftrag kam es zugute, dass er in dieser Familie, wenn auch unter ständigen Gefahren, die Nachrichten des BBC verfolgen konnte. Auch lernte er dort weitere regimekritische Deutsche kennen.
Auf dem Alten Katholischen Friedhof in Dresden sieht er die vielen Gräber polnischer Emigranten des 19. Jahrhunderts, die in Dresden Gastfreundschaft fanden und die ihm ins Bewusstsein rufen, dass es damals „andere“ Deutsche gab.
Eindrucksvoll ist auch die Schilderung des Autors über seinen Besuch zusammen mit Franziska im April 1945 bei Käthe Kollwitz in Moritzburg kurz vor deren Tod.
Vor anderen Nachbarn und an seiner Arbeitsstelle, er hatte nach einer kurzen Zeit in einem Rüstungsbetrieb eine Stelle als Animationskünstler in einem Filmstudio gefunden, musste er naturgemäß sehr vorsichtig sein. Einige gefährliche Situationen, insbesondere bei Kontrollen, überstand er nur mit viel Glück.
Was erfahren wir aus seinen Erinnerungen an den Dresdener Alltag während des Krieges?
Er bewegte sich tagsüber, wenn er nicht bei den regimekritischen Freunden in Hellerau weilte, unter „normalen“ Dresdner Einwohnern, registrierte aufmerksam deren Stimmungen, sah die vielen Zwangsarbeiter, die Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung, dann die vielen verwundeten Soldaten und den Zustrom von Flüchtlingen aus dem Osten. Doch für Kamieński, der von den Gräueltaten der deutschen Besatzung seiner Heimat Nachrichten erhielt, war es befremdlich und unwirklich, wie die Menschen den Krieg verdrängten, sich in Dresden, der vermeintlich „unschuldigen Stadt der Künste“, in Sicherheit wähnten, offensichtlich meist nichts wissen wollten von den Verbrechen ihres Regimes. Nur langsam mit dem Kriegsverlauf ab 1942 und aus vagen Andeutungen der Menschen erkannte er eine Abnahme der Hitler-Begeisterung.
Die Zerstörung Dresdens nimmt einen wichtigen Part in seinen Erinnerungen ein. Wie erlebte er das Inferno?
Er hatte Freunde in der Dresdner Altstadt, sah von der Anhöhe des Vorortes Hellerau das brennende Zentrum und begab sich tatsächlich nach dem ersten Bombardement am 13.2.1945 in das Inferno, aus dem er nur mit Mühe und Glück wieder entkam. Ich habe selten einen so eindrücklichen und das Entsetzen in Worte fassenden Bericht über die Geschehnisse in Dresden am 13. und 14.2.1945 gelesen.
Nach dem Krieg blieb er zunächst in Dresden und kehrte nicht nach Polen zurück. Weshalb? Wie war sein Verhältnis zu Polen? Was war mit seinen Kontakten zum Widerstand?
Er hatte die Geschehnisse in Katyn und das Verhalten der Sowjetunion beim Warschauer Aufstand, dann vor allem die Verfolgung polnischer Widerständler der Heimatarmee (AK) in Polen registriert. Seine Eltern waren der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt worden, die Mutter starb bald im Gefängnis, der Vater wurde verurteilt und erst 1960 rehabilitiert. So erschien es Kamieński nicht ratsam, nach Polen zurückzukehren.
Zudem konnte er nun endlich sein Studium an der Kunstakademie Dresden fortsetzen. Er wurde Meisterschüler mit eigenem Atelierraum, konnte Ausstellungen bestücken und erhielt Preise, so den Preis der Stadt Dresden 1947 für seine graphischen Arbeiten und den Kulturbundpreis 1948.
Der sich dann auch in der Kunst der SBZ/ DDR durchsetzende „sozialistische Realismus“ war allerdings nicht das, was er sich für seine künstlerische Zukunft vorstellte. Das Buch endet mit dem Ablegen des Schiffes in Cuxhaven, welches ihn und seine gerade mit ihm verheiratete Ehefrau Christine in die Emigration nach Kanada bringen wird.
Von Franziskas Sohn und dessen Ehefrau haben wir von der Buchveröffentlichung in Kanada erfahren.
Sie berichteten auch, dass Kamieński, der nie wieder nach Dresden zurückkam, lange Zeit später wieder Kontakt zu Franziska aufnahm. Beide sollen dann viele lange Telefongespräche geführt haben. Er berichtete von seinen beruflichen Erfolgen in Kanada als Illustrator, Karikaturist, Journalist in Winnipeg. Dort wurde er auch mit mehreren Preisen geehrt.
Insgesamt bietet das Buch eine verdichtete, sehr spannend geschriebene persönliche, aber auch überraschend objektive Sicht auf die Deutschen während der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit und ist mit vielen weniger bekannten Einzelheiten ein lebendiges Geschichtsbuch eines bemerkenswerten Menschen.
Wolfgang Howald, Präsident der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Sachsen
Arkadiusz Szczepański studierte Slawistik, Geschichte und Kulturwissenschaft in Leipzig und Berlin. Redakteur beim DIALOG FORUM, Übersetzer und Redaktionsmitglied des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG.