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„Die Menschen müssen in gut und böse eingeteilt werden und nicht in Nationalitäten“

Mit Przemysław Kieliszewski, dem Direktor des Musikalischen Theaters (Teatr Muzyczny) in Poznań, und mit Oksana Hamerska, die die Hauptrolle der Irena Sendler spielt, spricht Natalia Prüfer über das Stück „Irena“

Natalia Prüfer: Das Stück „Irena“ erzählt die Geschichte der Irena Sendler, einer polnischen Sozialarbeiterin, die während des Zweiten Weltkrieges jüdische Kinder vor den Nationalsozialisten gerettet hat. Mich interessiert, wie es dazu gekommen ist, dass diese große polnische Produktion, an der unter anderem amerikanische Künstler vom Broadway mitgearbeitet haben, am 5. Mai im Admiralspalast in Berlin gezeigt wird. Ist das ein einmaliges Projekt?

Przemysław Kieliszewski: Angefangen hat es damit, dass das Stück „Irena“ im Warschauer Teatr Polski zum 80. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Getto gezeigt wurde. Im Publikum saßen unter anderem der deutsche und der israelische Botschafter, die von der Aufführung beeindruckt waren. Anlässlich dieses Jahrestages nahm ich an einem Gespräch zwischen dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und Elżbieta Ficowska teil, die während des Zweiten Weltkrieges als kleines Kind von Irena Sendler gerettet wurde. Ficowska überreichte dem Bundespräsidenten einen Brief, in dem sie bekräftigte, dass die Geschichte, die in dem Stück „Irena“ erzählt wird, wahr ist, und sie selbst eine der dargestellten Figuren ist. Ficowska schlug dem Bundespräsidenten vor, die Ehrenschirmherrschaft für „Irena“ und die Aufführung für das deutsche Publikum in Berlin zu übernehmen.

Warum muss gerade diese Produktion dem deutschen Publikum gezeigt werden?

P.K.: Wir sind der Meinung, dass die schwierige deutsch-polnische Geschichte immer wieder erzählt werden muss, nicht nur auf der Ebene der historischen Diskussion, sondern auch als Erzählung über die Emotionen, die uns weiterhin beschäftigen, obwohl so viel Zeit vergangen ist. Diese Erzählungen sind ein Bezugspunkt für unser Leben und für unsere gegenseitigen Beziehungen. Diese Geschichte wurde größtenteils von Amerikanern erzählt und hat dadurch einen universelleren Charakter bekommen. Es ist eine Geschichte über die Menschlichkeit im Zweiten Weltkrieg, wobei der zusätzliche Kontext, den der Krieg in der Ukraine einbringt, die Botschaft des Stückes verstärkt hat. Als wir die Inszenierung erarbeiteten, hatten wir vor Augen, was heute hinter unserer Ostgrenze vor sich geht. Die Hauptrolle der Irena wird von Oksana Hamerska gespielt, die aus der Ukraine stammt. Dadurch ist „Irena“ noch echter. In gewisser Weise wiederholt sich das, was vor achtzig Jahren geschehen ist. Wir wollen mit diesem Thema nicht das deutsche Publikum verschrecken, wir hoffen, dass die Deutschen das Stück sehen wollen.

Sie haben selbst gesagt, dass es ein schwieriges Thema ist. Kann denn das Stück „Irena“ bei den Deutschen heute Interesse wecken? Inwiefern konfrontiert es sie mit dem Holocaust?

Oksana Hamerska: Das absolut Besondere an dem Stück ist, dass dieses schwierige Thema mit vollkommen anderen Mitteln verarbeitet wird als bisher. Es handelt sich hierbei um ein Musikdrama. Diese Form ist sehr attraktiv, besonders für junge Zuschauer. „Irena“ ist eine eindrucksvolle musikalische Erzählung, in der sich jeder mit dem Thema „Vernichtung“ auseinandersetzen und diese Geschichte für sich selbst entdecken kann. Die musikalische Botschaft ist sehr eindrucksvoll und die Musik sehr schön. Es handelt sich aber vor allem um eine Geschichte über eine starke Frau, die sich dem Bösen entgegenstellt.

Ist „Irena“ ein Musical?

O.H.: Unser Stück ist ein Musikdrama, und kein Musical. Musicals haben feste Regeln und sind eine Form der Unterhaltung. Bei „Irena“ soll die Musik die Wirkung verstärken, aber sie tut das nicht durch Entertainment. Ich weiß noch, dass während der Arbeit an dem Stück mir niemand glauben wollte, dass wir eine musikalische Vorstellung über den Holocaust und über Irena Sendler erarbeiten. Als würde Musik überhaupt nicht zu dem Thema passen. Dabei ist es sinnvoll, schwierigen Themen eine musikalische Form zu geben. Meiner Meinung nach empfindet man eine solche Aufführung als intensiver.

P.K.: Dass Musik als Unterhaltung verstanden wird, lässt sich kulturell begründen. Wenn wir uns freuen, wenn wir glücklich sind, drücken wir das gern aus, indem wir singen, doch wir singen auch, wenn wir um Verstorbene trauern.

Ist die Musik in dem Stück „Irena“ das wichtigste?

P.K.: Nein, aber sie macht, dass das Stück starke Emotionen und Assoziationen auslöst, die uns reinigen und verwandeln, und darum geht es in der Kunst.

O.H.: Die Musik wurde von Włodek Pawlik komponiert, ein in Polen und den USA sehr geschätzter Jazz-Musiker und Grammypreisträger. Jede Szene wird musikalisch anders dargestellt. Die Musik ist sehr vielfältig, sie ist nicht leicht und auch nicht vorhersehbar, aber meiner Meinung nach angenehm zu hören. Wenn wir schon bei der Form sind, dann würde ich auch das Bühnenbild, die Kostüme und die Visualisierungen einbeziehen. Die künstlerische Form es Stückes ist sehr wichtig und untypisch, sie erinnert nämlich an eine Welt, wie sie von den Augen eines Kindes gesehen wird.

Apropos, Kinder treten auch auf, sie spielen große Rollen. Wie sah die Arbeit mit ihnen aus? Wie haben Sie mit diesen Kindern über den Holocaust gesprochen?

O.H.: Wir haben sehr kluge und talentierte Kinder. Sie kamen gut vorbereitet zu den Proben, und die Arbeit des amerikanischen Regisseurs Brian Kite bestand unter anderem darin, ihnen diese schwierige Geschichte möglichst mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu erzählen und auf diese Weise zugänglich zu machen. Dem ist es zu verdanken, dass die Kinder sich öffnen und auf der Bühne wirklich alles geben. Es gibt schwierige Szenen in dem Stück, aber die Magie besteht darin, dass sie so gezeigt werden, als würden sie mit den Augen eines Kindes gesehen.

Heißt das, dass die Aufführung auch für Kinder gemacht ist?

P.K.: Unsere Adressaten sind Zuschauer ab zwölf Jahren. Die dramatische Geschichte, wie Irena Sendler die Kinder gerettet hat, wird subtil und sehr eindringlich vermittelt. Doch die Geschichte an sich ist sehr heftig. Sehr bewegend und metaphorisch ist die Szene, in der die Kinder mit Janusz Korczak in das Konzentrationslager Treblinka deportiert werden. Der Zuschauer beobachtet die dramatischen Geschehnisse aus der Sicht von Kindern. Das ist eine sehr schöne, aber extrem traurige Szene.

In Berlin wird „Irena“ am 5. Mai aufgeführt. Werden auch amerikanische Künstler teilnehmen? Der Regisseur ist Brian Kite, die Choreografie stammt von Dana Solimando, die bereits für Broadway-Produktionen gearbeitet hat, die Lieder stammen aus der Feder von Mark Campbell, der schon mit dem Pulitzer-Preis und einem Grammy ausgezeichnet wurde.

P.K.: Wir verstehen die Inszenierung, die wir am 5. Mai im Admiralspalast zeigen werden, als deutsche Premiere. Es kommen Mark Campbell, der Komponist Włodek Pawlik und Piotr Piwowarczyk, der zusammen mit Mary Skinner das Libretto geschrieben hat. Die Premiere für „Irena“ sollte ursprünglich in den USA stattfinden, aber dann kam die Pandemie dazwischen. Deshalb wandte man sich mit der Frage an uns, ob wir das Stück in Poznań zeigen wollen, und wir ließen uns natürlich nicht lange bitten. Unser Theater hat seinen Sitz in einem Gebäude, in dem sich während des Krieges die Gestapo befand, deshalb hat dieses Stück für uns einen großen symbolischen Wert. Zur Berliner Premiere kommt auch Elżbieta Ficowska, die als kleines Kind von Irena Sendler gerettet wurde. Um sie geht es unter anderem in dem Stück. Einen Tag vor der Aufführung soll ein Gespräch mit Frau Ficowska stattfinden, das vom Pilecki-Institut in Berlin veranstaltet wird.

Das heißt, es steht eine Begegnung zu dem schmerzlichen Teil der deutsch-polnischen Geschichte bevor …

P.K.: Ja, diese Geschichte muss uns etwas lehren. Wir dürfen sie nicht vergessen. Das bedeutet nicht, dass wir nicht verziehen hätten, oder dass wir keine neue Geschichte aufbauen wollen, denn das ist nicht der Fall. Wir rechnen mit der Offenheit des deutschen Publikums, wir wollen, dass es uns zuhört. „Irena“ ist keine Anklage. „Irena“ ist eine Geschichte, die wir erzählt und gehört wissen wollen. Wir dürfen uns ihr als Gesellschaft nicht verweigern. Ich glaube, dass diese Geschichte uns ermöglicht, etwas Gutes zu tun. Wir wollen uns nicht auf das Martyrium konzentrieren. Es ist uns wichtig, dass das deutsche Publikum diese Vorstellung sehen will.

Die Vorführung hat auch das Ziel, Irena Sendler vorzustellen. In Polen ist sie heute sehr bekannt, sie ist ein Symbol, beinahe ein Denkmal.

P.K.: Man darf dabei nicht vergessen, dass Irena Sendler durch einen Zufall oder aufgrund der politischen Gegebenheiten nie den Friedensnobelpreis erhalten hat, obwohl sie zweimal dafür nominiert war. In der Zeit des Kommunismus in Polen wurde jahrzehntelang überhaupt nicht über sie gesprochen und sie war Schikanen ausgesetzt. Die polnische Perspektive und das, was mit der Einstellung Frau Sendler gegenüber in Polen passiert ist, ist nicht einfach, aber umso interessanter. Deshalb bin ich der Meinung, dass an Irena Sendler erinnert werden muss, und dass dieses Stück dazu beiträgt.

Sie haben bereits die Zusammenhänge zur aktuellen politischen Lage und dem Krieg, der in der Ukraine im Gange ist, erwähnt. Oksana, Sie verkörpern die Figur der Irena Sendler, einer Sozialarbeiterin, die während des Zweiten Weltkrieges aktiv war, und Sie selbst stammen aus der Ukraine. Welchen Einfluss auf Sie und Ihre Arbeit hat das, was derzeit in Ihrem Heimatland vor sich geht? Hat sich Ihre Einstellung zu der Arbeit an dieser Rolle im Laufe der Zeit verändert? War sie bei der Premiere anders als jetzt? Die Inszenierung ist im August 2022 entstanden, da war der Krieg bereits im Gange.

O.H.: Ja, das stimmt. Der Krieg hat begonnen, als wir bereits an der Premiere gearbeitet haben. Um mich auf die Rolle der Irena vorzubereiten, habe ich ein biografisches Buch über sie gelesen, und ich war erstaunt, wie viele Ähnlichkeiten es zwischen der Zeit, in der sie lebte, und der Gegenwart gibt, wie sich die Geschichte leider wiederholt. Als wir mit den Proben begannen, war das Thema Krieg überall, im Radio, im Fernsehen, wir haben ständig darüber gesprochen. Ich weiß noch, wie der Regisseur bei einer Probe erläutert hat, wie wichtig angesichts der Geschehnisse in der Ukraine dieses Stück jetzt sei. Diese Inszenierung erinnert daran, dass wir, egal in welcher Zeit wir leben, gut zueinander sein müssen, dass wir Menschen bleiben und einander helfen müssen. Die Zeit vor der Premiere war für uns alle schwierig, für mich persönlich auch. Meine Familie war in der Ukraine geblieben, wir haben jeden Tag miteinander telefoniert und über den Krieg gesprochen. Jetzt hat sich das verändert. So wie die ganze Welt schauen auch wir nun anders auf die Ukraine. Wir haben die Ängste verinnerlicht, wir haben gelernt, mit ihnen zu leben, auch wenn das nicht einfach ist und es eigentlich nicht so sein dürfte. Ich hoffe, dass das bald zu Ende ist. Doch was „Irena“ betrifft, so halte ich das Stück für ausgesprochen wichtig. Es zeigt ganz klar, dass Menschen wie Irena Sendler dringend gebraucht werden.

In einer Rezension zum Stück stand: „Es fällt schwer, in Schauspiel-Kategorien über Oksana Hamerska zu sprechen, die die Irena verkörpert, denn Hamerska wird für die Vorführung zur Sendler.“ Das ist ein großes Kompliment, aber auch eine Herausforderung für einen Schauspieler. Wir sprechen hier von einer enormen emotionalen Ladung, denn Sendler hat ihr eigenes und das Leben von anderen riskiert, um jüdische Kinder zu retten, die sonst von den Nationalsozialisten ermordet worden wären. Es handelt sich dabei nicht um eine kleine Gruppe, sondern um 2.500 Kinder! Sendler hat gefälschte Papiere für diese Kinder organisiert, sie aus dem Getto geschmuggelt und Ersatzeltern für sie gesucht. Sie war extrem mutig, aber sie hatte auch Glück. Sie wurde von der Gestapo festgenommen, aber es gelang, sie freizubekommen.

O.H.: Ja. Zum Glück gibt es Material über Sendler. Ich habe mir viele Stunden lang Aufnahmen mit ihr angesehen, habe versucht, die Welt mit ihren Augen zu betrachten. Ich wollte sie verstehen, wollte verstehen, was sie dazu motiviert hat, so zu handeln, ich wollte neben ihr stehen. Vielleicht hilft auch, dass ich mich vor jeder Aufführung an sie wende, dass wir einen Moment lang miteinander sprechen. Das geschieht alles ihr zu Ehren.

Irena Sendler ist 2008 im Alter von 98 Jahren in Warschau verstorben. 1965 wurde sie mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ geehrt, sie war für den Friedensnobelpreis nominiert. Aber kennt man sie in Deutschland überhaupt?

P.K.: Es gibt drei oder vier Schulen in Deutschland, die nach Irena Sendler benannt sind. Wir haben diese Schulen zu der Aufführung eingeladen.

Haben sie geantwortet? Kommen sie?

P.K.: Leider noch nicht. Ich glaube, dass man sich in Deutschland ein bisschen vor dem Thema fürchtet, vor allem wenn andere darüber erzählen. Doch das ist überflüssig, denn unser Ziel ist es nicht anzuklagen. Die von Irena Sendler gerettete Elżbieta Ficowska hat das in einem Interview für den Deutschlandfunk[1] sehr schön formuliert. Sie sagt, dass die Menschen in gut und böse eingeteilt werden müssten, und nicht in Nationalitäten. Sie selbst versteht sich als Zeugin. Mit einem halben Jahr wurde sie aus dem Getto geholt und sie kann sich an den Krieg nicht erinnern, sie ist nicht traumatisiert. Sie empfindet gegen niemanden Groll und hat Hochachtung für Irena Sendler, von der sie gerettet wurde, und für die Frau, die sie später wie ihr eigenes Kind großgezogen hat. Ficowska hat von ihrer Geschichte erst als Achtzehnjährige erfahren.

Sie ist Zeugin und ein Zeugnis der Geschichte.

P.K.: Ja, sie wird bei der Aufführung dabei sein und danach sprechen. Sie spricht ohne Groll darüber und identifiziert sich mit dem Stück „Irena“. Ficowska ist eine Brücke zwischen Polen und Deutschen, sie will die deutsch-polnischen Beziehungen stärken, und nicht zerstören. Wenn wir an das erinnern, was geschehen ist, und wenn wir uns davor in Acht nehmen wollen, müssen wir darüber sprechen, was gut ist, wir müssen etwas Gutes aufbauen und einander zuhören. Als Künstler, die dieses Stück machen, empfinden wir, dass es für den deutschen Zuschauer schwierig sein kann, aber umso mehr wollen wir ihn einladen. Das Stück, wir und Elżbieta Ficowska – wir alle haben eine gute Botschaft, und davor braucht man sich nicht zu fürchten.


Przemysław Kieliszewski, Jurist und Geisteswissenschaftler, promovierte über Kulturpolitik, seit 2013 Direktor des Musikalischen theaters in Posen.

 

 

Oksana Hamerska absolvierte die Staatliche Theaterakademie in Krakau (Schauspiel, Gesang und Bühnendarstellung), arbeitet seit 2015 mit dem Musikalischen Theater in Posen zusammen.

 

 

 

Natalia Staszczak-Prüfer ist Theaterwissenschaftlerin, freiberufliche Journalistin und Übersetzerin.

[1]https://www.deutschlandfunk.de/mutter-der-holocaust-kinder-100.html

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