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Prigoschins andere Offenbarung

Während seiner Meuterei stellte der russische Söldnerführer Jewgeni Prigoschin die Kremlpropaganda zur Rechtfertigung von Russlands Krieg gegen die Ukraine infrage. Er folgt einem früheren Muster erhellender Statements russischer Imperialisten zu Putins Regime.

Der bis vor kurzem nur unter Osteuropaexperten bekannte Anführer der russischen Militärfirma „Wagner“ Jewgenij Prigoschin (geb. 1961) ist aufgrund seiner Meuterei weltberühmt geworden. Die zwar nur eintägige und erfolglose, aber nichtsdestoweniger spektakuläre, gewaltsame Machtdemonstration des Söldnerchefs und seiner schwer bewaffneten Wagnergruppe offenbarte die Fragilität des Putinsystems. Es stellte sich unvermittelt heraus, dass der russische Kaiser nackt ist.

Prigoschins Negation offizieller russischer Kriegsapologetik

Was weniger Beachtung im Zusammenhang mit dem Söldneraufstand fand, war Prigoschins ausdrückliche Infragestellung einer zentralen Rechtfertigung des Kremls für den russischen Großangriff auf die Ukraine seit Februar 2022. Putin und andere Sprecher des Kremls haben in den vergangenen eineinhalb Jahren immer wieder behauptet, Russlands Aggression gegen die Ukraine sei ein Präventiv- und Verteidigungskrieg. Putins Behauptung, dass die NATO Russland bedrohe, wird auch von vielen westlichen Beobachtern als legitimes Argument betrachtet.

Dahingegen verkündete Prigoschin in einer Videobotschaft am 23. Juni 2023 kurz vor Beginn seines „Marsches für Gerechtigkeit“ auf Moskau: “Am 24. Februar 2022 war nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Das russische Verteidigungsministerium macht der Öffentlichkeit etwas vor, tut jetzt so, als ob die Ukraine sich wahnsinnig aggressiv verhalten hätte, als ob die Ukraine und die gesamte Nato uns angreifen wollten. Die Spezialoperation, die am 24. Februar begann, hat ganz andere Hintergründe.”

Im Weiteren attackierte Prigoschin die Führung des russischen Militärs. Diese sei auf einen schnellen Sieg in der Ukraine und auf anschließende Beförderungen in Moskau aus gewesen. Prigoschin erklärte unter anderem: „Wofür war der Krieg notwendig? Der Krieg fand dafür statt, dass ein Häufchen Miststücke einfach triumphiert, sich in der Öffentlichkeit präsentiert und zeigt, was es für eine starke Armee ist. Dafür, dass [der aus der südsibirischen Republik Tuwa stammende russische Verteidigungsminister Sergej] Schojgu den Marschallgrad erhält. Das Dekret [zur Beförderung] war schon bereit. Und dass er einen zweiten Heldenstern erhält. [Schojgu] wollte sehr in die Geschichte eingehen als großer tuwinischer Feldherr, der zum zweifachen Helden [Russlands] und Marschall faktisch zu Friedenszeiten geworden ist. Der Krieg war nicht dafür notwendig, um in unseren Bereich faktisch russische Bürger zurückzuholen. Nicht dafür, um die Ukraine zu demilitarisieren und zu denazifizieren. Der Krieg war notwendig für einen Stern. […] Und das zweite: Der Krieg war notwendig für die Oligarchen, er war notwendig für denjenigen Clan, der heute de facto Russland regiert. Dieser oligarchische Clan erhält alles nur Mögliche. Wenn bei diesem Clan ausländische Unternehmen geschlossen werden, dann teilt der Staat sofort inländische Unternehmen auf und übergibt sie diesem Clan. Darum werden Geschäftsleute eingesperrt, Banken werden geschlossen, damit dieser Clan nicht den Umfang seiner Gelder verliert.”

Obwohl Prigoschin hier sekundäre Akteure in der russischen Führung zu einflussreichen Entscheidungsträgern in Moskau aufbauscht, lag er mit seiner Erklärung prinzipiell richtig. Putins Eskalation des russischen Krieges gegen die Ukraine im Februar 2022 hatte eher innen- als außenpolitische Gründe.

Bereits einen Monat zuvor hatte Prigoschin in einer anderen provokanten Videobotschaft eine zweite zentrale Propagandalinie des Kremls in Frage gestellt. Am 23. Mai 2023 kommentierte er auf seinem Telegramkanal die angebliche „Entnazifizierung“ der Ukraine durch Russland: „Wir sind rüpelhaft gekommen und haben auf der Suche nach Nazis die ganze Ukraine mit unseren Stiefeln abgelaufen. Während wir die Nazis suchten, haben wir es uns mit allen verdorben.“

Äußerungen wie diese erscheinen ungewöhnlich aus dem Mund eines entscheidenden Umsetzers des russischen Krieges gegen die Ukraine. Der außer Kontrolle geratene Söldnerführer desavouiert offizielle Begründungen Moskaus für die russische Aggression. Paradoxerweise gilt dies auch für den Einsatz von Prigoschins Wagnergruppe, welche freilich aus Kämpfern besteht, die für Geld oder zur Verkürzung ihrer Gefängnisstrafen Krieg führen.

Tatsächlich setzt Prigoschin als ein wesentlicher russischer imperialistischer Akteur mit seinen Attacken gegen Putin eine ältere Tradition postsowjetischer nationalistischer Politiker fort. Wladimir Schirinowskij (1946-2022) oder Igor Girkin (geb. 1970) etwa sind bereits Jahre zuvor mit für den Kreml ähnlich peinlichen Aussagen aufgefallen. Wiederholt haben Kritiker des russischen Regimes von Rechtsaußen mit ihren Aussagen die Kremlpropaganda öffentlich der Lüge bezichtigt.

Schirinowskijs Infragestellung der Legitimität Putins

Mitte September 1999 etwa kam es zu einem denkwürdigen Vorfall in der russischen Staatsduma, welche später von Schirinowskij publik gemacht wurde. Eine Reihe damaliger Terroranschläge in Russland, die tschetschenischen Terroristen zugeschrieben wurden, diente dem Kreml 1999 als Anlass für den Zweiten Tschetschenienkrieg. In der verschreckten russischen Bevölkerung war der neue Krieg Moskaus im Kaukasus populär. Der massenmörderische Feldzug der russischen Armee in der tschetschenischen Teilrepublik lieferte einen wichtigen Impuls für den kometenhaften Aufstieg des frischgebackenen Regierungschefs Wladimir Putin.

Die angeblich von kaukasischen Terroristen unternommene Sprengung eines Wohnhauses in der südrussischen Provinzstadt Wolgodonsk am 16. September 1999 geschah allerdings unter bizarren Umständen. Der Anschlag war auf einer Staatsdumasitzung drei Tage zuvor in Moskau verkündet worden. Offenbar war es bei der geheimen Planung der Wohnhauszerstörung sowie ihrer anschließenden politischen Instrumentalisierung durch den Föderalen Sicherheitsdienst (FSB) zu einem Lapsus gekommen. Putin hatte den FSB bis vor seinem Wechsel ins Premierministeramt im August 1999 geleitet; im Anschluss stand sein Petersburger Gefolgsmann Nikolaj Patruschew dem Inlandgeheimdienst vor.

Im Jahr 2022 berichtete Schirinowskij über die Vorgänge im russischen Parlament am 13. September 1999: „Eine Notiz wurde von jemandem aus dem Sekretariat [der Staatsduma] mitgebracht. Offenbar hatte man dort angerufen, um den Dumasprecher vor dieser Wendung der Ereignisse [d.h. dem Terroranschlag] zu warnen. [Der Parlamentsvorsitzende Gennadij] Selesnjow las uns die Nachricht über die Explosion vor. Dann warteten wir darauf, dass in den Fernsehnachrichten über den Vorfall in Wolgodonsk berichtet wird.“ Er passierte jedoch erst drei Tage später am 16. September 1999.

Wie auch Prigoschin im Jahr 2023 musste sich Schirinowskij 2002 des hochexplosiven Charakters seiner Aussage für das Putinregime bewusst gewesen sein. Seine Behauptung stellte die Legitimität, Autorität und Integrität des neuen russischen Präsidenten in Frage. Prigoschins Videobotschaften der letzten Monate unterwanderten Putins Begründungen für die russische Großinvasion der Ukraine 2022.

Girkins Übernahme der Verantwortung für den Donbaskrieg

Knapp neun Jahre zuvor hatte es eine weitere Offenbarung des berüchtigten russischen Paramilitärs und einstigen „Verteidigungsministers“ der so genannten Donezker Volksrepublik Igor Girkin zum ostukrainischen Scheinbürgerkrieg 2014-2015 gegeben. Seit Beginn der angeblichen Donbasrebellion im Frühjahr 2014 wird nicht nur in Russland, sondern auch in nichtrussischen Medien und Konferenzen eine kontroverse Diskussion über den Kriegsbeginn geführt. Auch einige westliche Analysten sehen die Hauptquellen des bewaffneten Konflikts im Donezbecken nicht in der russischen, sondern – wie von der Kremlpropaganda behauptet – ukrainischen Politik.

In einem Interview für die russische rechtsextreme Wochenzeitung „Sawtra“ (Morgiger Tag) offenbarte Girkin im November 2014 allerdings: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt. Wäre unsere [bewaffnete] Einheit nicht über die Grenze [von Russland in die Ukraine] gekommen, wäre alles so ausgegangen wie im [nordostukrainischen] Charkiw und [südukrainischen] Odessa“. In letzteren und anderen russischsprachigen Städten der Ukraine waren damals – anders als im Donbas – lediglich unbewaffnete Agenten Moskaus aktiv. Girkin sagte weiterhin: „Den Anstoß für den Krieg, der bis heute in Gang ist, hat unsere Einheit gegeben. Wir haben alle Karten gemischt, die auf dem Tisch lagen. Alle!“

Von Bedeutung an Girkins Eingeständnis ist nicht nur, dass er selbst als Anführer eines irregulären Bataillons und russischer Staatsbürger keine biographische oder familiäre Bindung zum Donezbecken hat. Als ehemaliger russischer Geheimdienstoffizier stand er während seines paramilitärischen Vorstoßes in der Ostukraine im April 2014 in ständigem Kontakt mit russischen Regierungsorganen. Wie im demnächst erscheinenden Buch von Dr. Jakob Hauter „Russlands übersehene Invasion“ detailliert dargelegt, agierten Girkin und andere 2014 als inoffizielle Agenten des russischen Staates in dessen „delegiertem Krieg“ gegen die Ukraine.

Internationale Diskurse um Kriegsgründe

Wie schon Schirinowskij 2002 und später Prigoschin 2023, widersprach Girkin im November 2014 mit Übernahme der Verantwortung für die Auslösung des russisch-ukrainischen Krieges sieben Monate zuvor einer zentralen Propagandalinie des Kremls. Auch nichtrussische Kommentatoren rund um die Welt behaupten bis heute, Russland habe sich im August 2014 lediglich in einen mehrmonatigen innerukrainischen bewaffneten Konflikt eingemischt. Girkin hingegen gab zu, dass seine aus Russland einmarschierte irreguläre, von russischen Regierungsorganen betreute Truppe im April 2014 den angeblichen Bürgerkrieg im ukrainischen Donezbecken ausgelöst hatte.

Die besondere Brisanz der Eingeständnisse Prigoschins, Schirinowskijs und Girkins besteht darin, dass dies keine liberalen Moskauer oder westlichen Kritiker Putins sind. Vielmehr sind die drei Männer als aggressive russische Imperialisten im In- und Ausland bekannt. Mehr noch: All drei waren Teile des Putinschen Herrschafts- und Politiksystems. Sie berichteten jeweils aus dem Inneren des russischen Regimes und seiner Auslandsoperationen. Prigoschin, Schirinowskij und Girkin erhielten seinerzeit tiefe Einblicke in die Funktionsweise des Machtapparats Putins, die weder russische Oppositionelle noch ausländische Forscher je hatten.

Bei Prigoschin kommt hinzu, dass er ein persönlicher Zögling Putins ist und seine schillernde Karriere vollständig seinem Patron im Kreml zu verdanken hat. Angesichts dieser und anderer denkwürdiger Offenbarungen prominenter russischer Ultranationalisten, verwundern einige nichtrussische Debatten über Russland. In Medien, Parlamenten, Ministerien, Universitäten, Instituten und Parteien rund um die Welt findet die Expansionsapologetik des Kremls trotz solch entlarvender Eingeständnisse, wie die Schirinowskijs, Girkins und Prigoschins, bis heute dankbare Abnehmer.

 

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Andreas Umland

Andreas Umland

Dr. Andreas Umland studierte Politik und Geschichte in Berlin, Oxford, Stanford und Cambridge. Seit 2010 ist er Dozent für Politologie an der Kyjiwer Mohyla-Akademie (NaUKMA) und seit 2021 Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen (UI).

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