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Unerwünschtes Erbe? Die Diskussion um das Rote Armee-Denkmal in Allenstein/Olsztyn

„1/4 St. westl. von Hohenstein auf einem der höchstgelegenen Punkte des Schlachtfeldes, das Tannenberg-Nationaldenkmal, 193m (kurz vorher an der Straße Rest. Tannenbergkrug mit dem Tannenberg-Schlachtrelief, im Sommer stdl. Vorträge über den Verlauf der Schlacht, 50 Pf.), Entwurf von Walter u. Joh. Krüger, 1928 eingeweiht. Besichtigung: Im Sommer 8-18, im Winter 9-17 stdl. Führungen 50 Pf. Acht wuchtige, 24m hohe Türme umschließen den Ehrenhof.“

Grieben Reiseführer Ostpreußen, 1938

Am 15. Mai 1940, im Alter von 64 Jahren, wurde der Bildhauer Xawery Dunikowski, Professor für Bildhauerei an der Akademie der Schönen Künste in Krakau, als Mitglied der polnischen Intelligenz von der Gestapo verhaftet und in Auschwitz inhaftiert. Er überlebte die fast fünf Jahre, die er dort verbrachte, nur knapp, erkrankte im Lager an Typhus und wog nur noch 40 Kilo, als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz befreite.

Tannenberg-Denkmal

Während Dunikowski in Auschwitz um sein Leben kämpfte, stand die Gedenkstätte Tannenberg noch. Das massive, achteckige Monument aus rotem Backstein mit seinen hohen Türmen, entworfen von den Berliner Architekten Walter und Johannes Krüger, war in der Nähe der Stadt Hohenstein/Olsztynek errichtet worden, um an die Schlacht von Tannenberg 1914 zu erinnern – die einzige Schlacht, die einen klaren Sieg für Deutschland im Ersten Weltkrieg bedeutete. Der deutsche Befehlshaber und spätere Präsident der Weimarer Republik, Paul von Hindenburg, wurde zum Nationalhelden. Das Denkmal war vor 1945 eine der wichtigsten touristischen Sehenswürdigkeiten Ostpreußens und Schauplatz von Massenveranstaltungen wie im Jahr 1934, als Hindenburgs Sarg und der seiner 1921 verstorbenen Frau Getrud hier beigesetzt wurden, obwohl er sich gewünscht hatte, im Familiengrab in Hannover begraben zu werden. Im selben Jahr ließ Hitler das Denkmal umgestalten und in „Reichsehrenmal Tannenberg“ umbenennen. 1944 wurde es zur Grabstätte des Nazi-Generals Günter Korten, der von Claus Schenk Graf von Stauffenberg während des Putschversuchs vom 20. Juli getötet wurde. Es war auch immer als eine Brüskierung Polens gedacht, wie der Historiker Andreas Kossert in „Ostpreußen: Geschichte und Mythos“ (2005) darlegt:

„Das bombastische Tannenberg-Nationaldenkmal […] war in unmittelbarer Nähe zur polnischen Grenze durchaus auch als Provokation gedacht. An diesen einzigen Erfolg der deutschen Seite knüpfte sich zugleich die Hoffnung, mit dem Geist von Tannenberg auch die Grenzen von Versailles im Osten revidieren zu können.“

Als sich die Rote Armee Anfang 1945 näherte, entfernten die deutschen Truppen die sterblichen Überreste Hindenburgs und sprengten das Tannenberg-Denkmal. Es wurde 1953 von polnischen Pionieren vollständig beseitigt und ein Teil der Materialien für den Bau des Gebäudes des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei verwendet, nach 1989 Sitz des Warschauer Finanzzentrums.

Nach dem Ende des Krieges nahm Xawery Dunikowski seine Arbeit als Bildhauer in der Volksrepublik Polen wieder verstärkt auf. Obwohl er sich in jungen Jahren mit dem Sozialismus beschäftigt hatte, war er ein Künstler, der „immer gegen den Strich ging“, wie ein Porträt von Zbigniew Libera in der Zeitschrift Przekrój betitelt ist, und sich dem sozialistischen Realismus und den Versuchen, den Stalinismus in Polen zu etablieren, nicht unterwarf. Eine Büste von Lenin, die er Anfang der 1950er Jahre schuf, sieht fast diabolisch aus, der Revolutionsführer blinzelt den Betrachter mit einem Ausdruck des Ekels an, und die 1954 von ihm entworfene Stalin-Statue, eine grobe, blockhafte Figur mit einem zu kleinen Kopf und den großen Händen eines Mörders, soll den polnischen Ministerpräsidenten Bolesław Bierut verärgert haben – der Entwurf wurde nicht zum Wettbewerb zugelassen, für den er bestimmt war. In den Werken, die Dunikowski für den öffentlichen Raum entwerfen durfte, spielen dagegen polnische Kämpfe eine große Rolle. Er schuf 1955 das Denkmal für den schlesischen Aufstand auf dem St. Annaberg und 1963, ein Jahr vor seinem Tod, das Denkmal für die Soldaten der 1. Polnischen Armee in Warschau.

1954 trafen sich die Wege Dunikowskis, der Roten Armee und des Tannenberg-Denkmals in der Stadt Olsztyn. Hier schuf der Bildhauer im Auftrag des Woiwoden Mieczysław Moczar das „Denkmal der Dankbarkeit für die Rote Armee“, zwei Granitpfeiler in Form eines fragmentierten Triumphbogens mit Reliefs auf jeder Seite, auf denen Panzer, Kanonen, der Nachkriegswohlstand symbolisiert durch Traktoren und Vieh, sowie ein sowjetischer Soldat mit einer Fahne dargestellt sind. Dunikowski bediente sich auch der nationalistischen Überbleibsel des Tannenberg-Denkmals, indem er einige der Granitplatten des dortigen „Ehrenhofs“ für das Fundament seines Denkmals verwendete, das im Januar 1954 mit großem Trara vor dem Marschallamt von Ermland und Masuren, dem ehemaligen deutschen Regierungsgebäude des Bezirks Allenstein, enthüllt wurde. Hier steht es bis heute, nachdem es in den 1960er Jahren in „Denkmal für die Befreiung des Ermland-Masurenlandes“ umbenannt wurde.  Mit Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine wurde der „Galgen“, wie das Denkmal im Volksmund genannt wird, zu einem Brennpunkt der Wut auf Russland und der Unterstützung für die Ukraine, übersprüht mit Graffiti und behangen mit pro-ukrainischen Bannern.

Dass das Tannenberg-Denkmal einmal existiert hat, steht genauso außer Frage, wie die Existenz des von Dunikowski geschaffenen Monuments heute. Die Frage ist jedoch, wie man mit einem so komplexen und für viele der heutigen Bewohner unerwünschten Erbe umgehen kann. Und diese Frage stellt sich nicht nur für die Einwohner von Olsztyn, sondern für alle Länder Europas, die in der Vergangenheit totalitäre Erfahrungen gemacht haben und dessen Überreste im öffentlichen Raum zu finden sind.

In Polen hat der russische Angriffskrieg zu einer neuen Welle der Beseitigung von Denkmälern geführt, die in der Volksrepublik geschaffen wurden. Seit ihrer Machtübernahme hat es sich die regierende PiS-Partei zum Ziel gesetzt, kommunistische Architektur und Infrastruktur so umfassend wie möglich zu entfernen, und forderte sogar die Beseitigung des Kulturpalastes von 1955 in Warschau. In ihrem Bestreben, den öffentlichen Raum vollständig zu „entkommunisieren“, haben die Behörden mit dem Gesetz von 2016 über die Entfernung totalitärer Symbole aus dem öffentlichen Raum ein mächtiges Instrument an die Hand bekommen, das in erster Linie dazu dienen sollte, Straßennamen zu ändern, im Laufe der Zeit aber auch zur Entfernung von Denkmälern genutzt wurde. Anstelle der entfernten Denkmäler soll nach Rücksprache mit den örtlichen Behörden jeweils ein Monument zu Ehren eines polnischen Helden oder zum Gedenken an ein für Polen wichtiges Ereignis errichtet werden. Nach Angaben des Instituts für Nationales Gedenken gibt es in Polen noch etwa 30 Objekte, die die Rote Armee verherrlichen, darunter auch der „Galgen“ in Olsztyn. Die ersten Stimmen zur Beseitigung des Denkmals wurden jedoch bereits 1989 laut. Drei Jahre später wurde ein von Veteranenorganisationen unterzeichneter offener Brief an die Behörden gerichtet, in dem die Entfernung des Denkmals gefordert wurde. Im Jahr 1993 wurde das Dunikowski-Monument schließlich unter Denkmalschutz gestellt, was aber im August 2022 vom Minister für Kultur und Nationales Erbe wieder aufgehoben wurde.

Die Spuren von 44 Jahren Geschichte komplett auszulöschen, kann niemals die Antwort auf irgendetwas sein, und der Versuch, sie durch eine weitere banale, schwarz-weiße Erzählung vergangener Größe zu ersetzen, wird niemandem dienen. Zbigniew Herbert hat einmal geschrieben, dass der Verlust des Gedächtnisses einer Nation auch ein Verlust ihres Gewissens sei. Der Verlust dieses Gedächtnisses bedeutet, dass künftige Generationen sich erneut denselben Fragen stellen müssten. Wie kann ein Denkmal, das von einem der besten polnischen Bildhauer seiner Generation geschaffen wurde, erhalten werden und trotz seiner komplexen Geschichte der Gemeinschaft zugutekommen? Die Verbrechen der Roten Armee, der Handlanger des sowjetischen Imperialismus und ihre Vergewaltigungen in ganz Europa stehen außer Frage, doch gleichzeitig gab es in ihren Reihen Kämpferinnen und Kämpfer aus aller Herren Länder: Menschen aus Deutschland, Polen, Weißrussland, der Ukraine, ohne die die Nazis nicht besiegt worden wären. Die Entfernung von Denkmälern, die von der Besatzungsmacht geschaffen oder finanziert wurden, stellt ebenfalls einen Aspekt der Entkolonialisierung dar, keine Frage. Aber ohne eine konkrete Erinnerung im öffentlichen Raum würde man sich heute vielleicht noch weniger mit den Werken von Xawery Dunikowski und der Geschichte der Roten Armee, den Befreiern von Auschwitz und den Besatzern Polens, in ihrer ganzen Komplexität auseinandersetzen.

Der vielleicht beste Vorschlag stammt vom bedeutenden Historiker Robert Traba, Gründungsmitglied der Kulturgemeinschaft Borussia, der im April dieses Jahres einen offenen Brief veröffentlichte, in dem er die Einrichtung eines „Museums für Frieden und Dialog“ rund um das Denkmal forderte:

„Wir wollen, dass das Xawery-Dunikowski-Denkmal ein lebendiges Mahnmal gegen Krieg und Gewalt wird. Ein Museum für Frieden und Dialog! Das Museum wird die tragische Geschichte von Olsztyn, Masuren, Ermland, Polen vom Ersten Weltkrieg bis zum heutigen Streit um das Dunikowski-Denkmal erzählen. Es wird Raum geben für die Haltung der örtlichen Bevölkerung gegenüber dem Nationalsozialismus, die deutsche Vernichtung, die von Lagern und Tausenden von Zwangsarbeitern geprägt war, die Vergewaltigung durch die Rote Armee nach ihrem Einmarsch in Ostpreußen, die sowjetische Einnahme von „Stadt Allenstein“, wie Olsztyn im Januar 1945 genannt wurde. Ebenfalls im Januar wurde Xawery Dunikowski nach fast fünf Jahren Gefangenschaft von der Roten Armee aus Auschwitz befreit. Das Museum wird auch Raum für eine Geschichte über die Stalinisierung Polens und den polnischen Weg in die Freiheit bieten, die aus der Perspektive von Olsztyn und der Region betrachtet wird. Der Höhepunkt der Ausstellung wird der Streit um das Denkmal sein und die offene Frage: Welche Art von Geschichte und Erinnerung brauchen die Polen?“

Die Geschichte des Tannenberg-Denkmals würde hier ebenfalls erzählt werden. Und: Heute befinden sich nur noch drei von Dunikowskis Werken aus der Zeit nach 1945 im öffentlichen Raum. Legt man an das Denkmal in Olsztyn die gleichen Maßstäbe an wie an die anonymen und massenhaft entworfenen Denkmäler der „Dankbarkeit“, die in fast allen Ländern des ehemaligen Ostblocks errichtet wurden, wird man dem Künstler nicht gerecht. Darüber hinaus wäre die Einrichtung des von Professor Traba vorgeschlagenen Museums auch ein hervorragendes Beispiel für den Umgang mit problematischem Erbe in Deutschland, insbesondere angesichts der langen deutsch-polnischen Geschichte von Allenstein/Olsztyn und Ermland-Masuren. Vor allem in der ehemaligen Bundesrepublik finden sich bis heute Denkmäler und Gedenkstätten, die nach 1945 von Künstlern geschaffen wurden, die von den Nazis verehrt wurden oder selbst der NSDAP angehörten – Künstler, deren Werke zentral zum Bild des faschistischen Deutschlands beitrugen. Da sind die vielen Kunstwerke von Willy Meller in Köln oder die von Joseph Wackerle in München und anderswo, die heute ohne Kontextualisierung im öffentlichen Raum stehen.

Das Dunikowski-Denkmal bleibt vorerst stehen und von einem Zaun umgeben. Der stellvertretende Ministerpräsident hat den Stadtpräsidenten von Allenstein/Olsztyn, Piotr Grzymowicz, angewiesen, das Denkmal zu entfernen, der jedoch den Fall an das lokale Verwaltungsgericht verwiesen hat. Ich hoffe, dass das Gericht in seiner Entscheidung den Vorschlag von Professor Traba berücksichtigen wird. Es ist niemandem damit gedient, ein schwieriges und komplexes Erbe mit einem breiten Pinsel zu übermalen.

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Marcel Krueger

Marcel Krueger

Marcel Krueger ist Schriftsteller und Übersetzer. 2019 hat er als offizieller Stadtschreiber von Allenstein/Olsztyn im Rahmen eines Stipendiums des Deutschen Kulturforums östliches Europa über das Leben in Ermland-Masuren berichtet. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Von Ostpreußen in den Gulag“ (2019).

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