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Ich denke an Mariupol…

Mariupol, die verletzte, in Ruinen liegende Stadt, wird in meinem Gedächtnis das stärkste Bild aus dem letzten Jahr bleiben, ein Symbol des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Ich verfolgte seit Februar 2022 jeden Tag bis in die späte Nacht auf ukrainischen Fernsehkanälen den Untergang der Stadt. Mit zugeschnürter Kehle, wie die Scharen von Verteidigern und Einwohnern in den unterirdischen Gewölben des Asow-Stahl-Industriekombinats festsaßen, und schließlich, wie am 21. Mai 2022 mehr als 2400 Verteidiger in russische Gefangenschaft gingen. Jeden Tag versuchte ich herauszufinden, ob nicht einer der Familien gelungen war, etwas über sie zu erfahren. Und endlich Tränen der Rührung, als einzelne Gruppen der Verteidiger im Wege des Gefangenenaustauschs in die Ukraine zurückkehren konnten…

Heute kennt die ganze Welt den Namen der Stadt am Asowschen Meer. Mariupol wurde zum Symbol des äußersten Heldenmuts der Verteidiger und der russischen Bestialität im Krieg gegen die Ukraine.

Ich war zweimal dort, 2017 und 2019. Gemeinsam mit ukrainischen Journalisten von den regionalen Medien setzten wir in der Stadt einige Projekte um. Damals lernte ich zwei Journalistinnen kennen, Tetjana Ihnatschenko und Anna Romanenko. Wie der Zufall es wollte, waren sie am 24. Februar 2022 nicht in Mariupol, daher haben sie überlebt. Doch ihre Häuser nicht… Tetjanas Eltern und ihre Schwester zogen von Haus zu Haus, sie überlebten bis zum Juni, während die Stadt zerstört wurde, dann schafften sie es, auf die ukrainische Seite zu gelangen, jetzt sind sie in Polen. Annas Mutter, schwerkrank, war schon vor der Invasion zu einer Operation in eine andere Stadt gebracht worden, sie lebte noch einige Monate, konnte aber nicht nach Hause zurück. Genauso wenig Anna selbst mit ihrem Sohn und ihrem Mann.

Beide, Tetjana und Anna, vermissen ihre Stadt, träumen von ihrer Befreiung, von der Rückkehr und dem Wiederaufbau, sie können sich nicht vorstellen, anderswo zu leben… Es gibt viele Menschen aus Mariupol wie sie, aber Millionen von Ukrainern geht es ähnlich, nachdem sie ihr Zuhause verloren haben.

Am 3. März schon schrieb Anna den Appell „Ein Schrei aus Mariupol: Die russischen Faschisten richten eine humanitäre Katastrophe in Mariupol an! Diese Barbaren haben keine andere Methode gefunden, den Widerstand der Einwohner zu brechen. Sie lassen nicht zu, das Stromnetz wieder herzustellen, die Wasserleitungen zu reparieren und das Heizsystem. Sie beschossen und zerstörten gezielt Eisenbahnlinie, Bahnhof, Züge, zerstörten die Brücken, damit die Einwohner nicht mehr Kinder, Frauen, Alte und Kranke aus Mariupol hinausbringen können. Sie lassen keine Lebensmittellieferungen an die Einwohner zu.“

Die Vorgehensweise der russischen Besatzer, wie sie Mariupol erfuhr, erwies sich als wiederkehrendes Muster russischer Taktik in diesem Krieg: Charkiw, Tschernihiw, Mikolajiw, Marinka, Bachmut. Diese anderen Orte, besonders die in den östlichen und südöstlichen Regionen der Ukraine, sind bis auf die Grundmauern zerstört. Marinka, ein Ort mit früher mehr als zehntausend Einwohnern, ist jetzt ein menschenleeres Ruinenfeld…

Die Russen beschossen Mariupol ohne Pause. Die Toten konnten nicht begraben werden, wer in den Kellern eingestürzter Häuser umgekommen oder auf der Straße erschossen worden war… Erstmals waren auf in Mariupol gefilmten Videos Hunderte Ermordeter zu sehen – die Leichen von Frauen, Kindern, Männern, auf den Straßen, unbestattet… Erst später wurden die Verbrechen in Butscha und Irpin aufgedeckt, die zusammen mit Mariupol zum Synonym für die Bestialität russischer Soldaten wurden.

Drei Jahre zuvor noch planten die beiden Journalistinnen Anna und Tetjana eine besonders originelle Idee umzusetzen, um der Stadt ein neues Image zu geben. Ausgangspunkt sollte die Geschichte vom Krokodil Godsyk sein. Ja, von einem Krokodil. Vor einigen Jahren hatte ein Zirkus ein Krokodil in die Stadt mitgebracht. Der Tierbändiger nahm es zu einem Spaziergang am Meer mit, aber Godsyk ging ins Wasser, der Strick glitt von seinem Hals und das Krokodil fiel ins Meer. In der Stadt brach Panik aus, obwohl das Krokodil klein war; es wurde von der Polizei gesucht, von Fachleuten vom Zoo, schließlich von den Einwohnern selbst. Die Suche verlief ziemlich chaotisch, unorganisiert, einige Monate später wurde der arme Godsyk im Fluss Kalmius gefunden, unweit von Asow-Stahl. Es war Winter, und er zog es vor, im wärmeren Flusswasser zu sein, trotz des hohen Verschmutzungsgrades. Er war noch am Leben, als er gefunden wurde, man versuchte, ihn zu retten, aber das schlug fehl. Doch Godsyk wurde unerwarteterweise zu einem Stadtzeichen. Erstmals seit Beginn der Unabhängigkeit war von Mariupol im ganzen Land zu hören, allein wegen der Flucht und der Suche nach Godsyk, und die Nachrichten waren anders als früher eher positiv. Aber was hat ein Krokodil mit damit zu tun, die Zivilgesellschaft einer Stadt in Schwung zu bringen? Ziemlich viel, denn zum einen brachte es der Stadt Bekanntheit, zum andern veranlasste die Suche die Einwohner dazu, mit verschiedenen Institutionen zusammenzuwirken, um das Tier zu retten. Die beiden Journalistinnen schlugen eine Werbestrategie vor, um den Einwohnern einen Sinn dafür zu vermitteln, Mariupol könne eine blühende europäische, entwicklungsfähige Stadt werden, dank des engen Zusammenwirkens von Aktivisten, Journalisten, Künstlern und natürlich der Einwohner selbst.

Bis 2014 wurde Mariupol von ukrainischen Künstlern und Autoren aus anderen Regionen des Landes ignoriert, es war ein wenig wie erstarrt in seiner russisch geprägten Art. Obwohl sich natürlich unter der Oberfläche ein anderes Leben regte, das unzufrieden mit Provinzmuff und Vernachlässigung war.

Jenes Mariupol gibt es nicht mehr. Die Einwohner sagen, das sei Putins Vergeltung für die erfolgreiche Verteidigung der Stadt von 2014, als sie die Belagerung überstand. Als die Russen 2022 die ersten Versuche machten, Mariupol einzunehmen und glaubten, nicht auf Widerstand zu stoßen, war in der Ukraine sonst niemand sonderlich davon überzeugt, dass die Stadt sich erfolgreich widersetzen würde. Doch sie blieb der Ukraine treu.

Aus meiner Sicht waren es vor dem Krieg vor allem die außergewöhnlichen Menschen, die Mariupol ausmachten: die Journalisten, Aktivisten, Künstler, denen die Stadt am Herzen lag; Anna und Tetjana, die beiden Journalistinnen, die eine bei einem Informationsportal, die andere beim Fernsehkanal 5. Seit der Revolution der Würde von 2013/14 hatten sie sich immer stärker in der Zivilgesellschaft und ehrenamtlich engagiert. Ich wusste schon vorher von ihren Aktivitäten, nach dem 24. Februar erkannte ich zudem, wie mutig sie sind. Gemeinsam mit Kollegen veränderte Anna das Profil ihrer Plattform, um sich auf Themen der Stadt zu konzentrieren. Anna ist von Haus aus russischsprachig, und als wir uns 2016 kennenlernten, sprach sie nur schlecht ukrainisch. Doch sie lernte die Sprache schnell, ihren kleinen Sohn schickte sie auf eine ukrainischsprachige Schule. Bei Kriegsbeginn schrieb sie, sie wolle nicht, dass ihr Sohn russisch spreche. Im vergangenen Jahr legte sie einen Blog an, in dem sie über die Lage in Mariupol und der Region berichtet. Sie schreibt von den Einwohnern, die heute zwangsweise in anderen ukrainischen Städten leben.

Tetjana Ihnatschenko ist mit Hilfsleistungen im der Region Donezk befasst. Sie unterstützt in Kramatorsk und Slowjansk gebliebene Einwohner, während diese Städte unter Beschuss liegen. Sie kooperiert mit Medien, hat eine Ausbildung an der Waffe gemacht. Ich lernte Tetjana 2017 kennen, als sie unsere Gruppe, mich und ukrainische Journalisten (keiner von uns war zuvor in Mariupol gewesen) an die Orte führte, an denen drei Jahre vorher Majdanproteste stattgefunden hatten, oder auf die Abteilungen der von den Russen unterstützten Separatisten ihre Angriffe während des „russischen Kriegs“ konzentriert hatten, sie zeigte die damals von den Angreifern angezündeten Gebäude… Sie erzählte von der Rolle, die das Asow-Bataillon bei der Verteidigung der Stadt gespielt hatte, in dem Freiwillige aus verschiedenen Regionen der Ukraine dienten. Für die Einwohner wurde es schon damals zum Symbol der Unbeugsamkeit. Wir fuhren mit ihr in einen Wohnstadtteil, umgangssprachlich „Übernachtungsbezirk“ genannt, in einem Stadtrayon namens Schidnyj. Diesen Stadtteil hatten die Russen im Januar 2015 eigens am frühen Morgen bombardiert, als die Leute gerade zur Arbeit gingen, und dabei viele Zivilisten verwundet oder getötet. Tetjana war mit einem Fernsehteam dort, aber schließlich legte sie das Mikrofon beiseite und begann, Verwundete zu retten. Am selben Tag fuhren wir zum Asow-Stahl-Kombinat, um uns von nahem die Gebäude und die rauchenden Schornsteine anzusehen.

Auf dem Rückweg ins Stadtzentrum machte unsere Journalistengruppe auf einige Worte eines Freundes von Tetjana hin einen unvermittelten Sprung aus der Gegenwart in die Kosakenzeit. Die gehört ebenfalls zur Geschichte Mariupols… Plötzlich hörte ich, wie jemand etwas von den Kosaken sagte, und von der Suche nach einer Kosakenkirche in den Außenbezirken der Stadt. Ich fragte, um was es ging. Vor ein paar Jahren hatte eine Gruppe von Einwohnern die Suche nach einer alten Kirche aufgenommen, die hier im 17. Jahrhundert von den Kosaken gebaut worden war. Entgegen der russischen und sowjetischen Propaganda, der zufolge die Stadt erst von Katharina der Großen gegründet worden sei, war an dieser Stelle bereits im 16. Jahrhundert an der Mündung des Kalmius von den Saporoger Kosaken eine Siedlung errichtet worden. Es war der Domach-Wachposten, gebaut, um Verbindungswege vor Angriffen der Krimtataren zu schützen. Eine wichtige Festung am „Geheimen Wasserweg“ der Saporoger Kosaken vom Dnepr zum Schwarzen Meer. Sie bauten dort angeblich eine Kirche. Die Geschichte dieser Kirche ist verwickelt, ganz wie bei vielen anderen Denkmälern in der Ukraine. Aber diese Denkmäler bezeugen, dass die Ukrainer eine von der russischen verschiedene Kultur schufen und eine eigene Geschichte hatten. In Mariupol aufbewahrte Archivalien bezeugen, dass an der Stelle, an der im 17. Jahrhundert ein Kosakenoberst die steinerne St.-Nikolaus-Kirche errichtete, schon vorher eine ältere Kirche gestanden hatte, wahrscheinlich eine hölzerne. Sie hatte nicht überdauert, vielleicht war sie zerfallen, vielleicht wurde sie abgetragen. So oder so wurde der steinerne Nachfolgebau von den Bolschewiki in den 1930er Jahren abgerissen. Vor der Zerstörung der Stadt durch die heutigen russischen Barbaren befand sich auf dem Platz der Befreiung (früher Basarplatz) seit der Unabhängigkeit eine Gedenktafel mit der in Metall gegossenen Aufschrift: „Die Kosaken. Hier befand sich ein Posten – ein Stützpunkt der Saporoger Kosaken, Abteilung von Kalmius (Ende des 16. Jahrhunderts bis 1775)“. Hat der Geist der Kosaken wunderbarerweise bis zu den heutigen Verteidigern der Stadt überlebt? Ich weiß nicht, aber wie im „Ukrainischen Palimpsest“ Oksana Zabuschko sagt: „[…] in sehr merkwürdiger Weise überdauerte diese Überlieferung. In unterirdischen Pfaden, in Strömungen unter der Wasseroberfläche…“

Am 24. Februar 2022 erstarb das Leben in Mariupol, doch den vollständigen Untergang der Stadt sah damals niemand voraus. In einer Stadt von mehr als 400.000 Einwohnern unterschiedlicher Nationalitäten, Ukrainer, Russen, Griechen, Juden und anderen, voller Leben, blieb fast kein Stein auf dem anderen. Heute ist es eine Stadt der Ruinen und Grabhügel. Es ist unmöglich zu sagen, wie viele Einwohner genau umgekommen sind. Denn die Russen wollen die Wahrheit über ihre Verbrechen verbergen. Viele Tote wurden bei Beginn der Belagerung in Gemeinschaftsgräbern bestattet. Viele Ermordete waren gefoltert worden. Besonders ukrainische Aktivisten waren davon betroffen. Nur wenigen gelang es, die Stadt zu verlassen, jetzt sind die Einwohner über die Ukraine verstreut, einige sind ins Ausland geflohen.

Mariupol verteidigte sich drei Monate lang, bis zum 20. Mai 2022. Es gab kein Licht, Gas, Trinkwasser, keine Lebensmittel. Die Stadt lag unablässig unter Artilleriebeschuss oder Bombardements aus der Luft. Aufnahmen vom 9. März zeigen das von den Russen zerstörte Entbindungs‑ und Säuglingsspital von Mariupol, Leichen getöteter Kinder, blutüberströmte Schwangere, eine liegt er auf einer Trage und versucht, mit den eigenen Händen den Blutstrom zu stoppen, am nächsten Tag wurde bekannt, dass sie nicht überlebt hatte, auch nicht ihr ungeborenes Kind. Und eine andere Frau, hochschwanger, wurde von den Verteidigern aus den Ruinen des Krankenhauses gebracht, am nächsten Tag brachte sie eine Tochter zur Welt.

Die Einwohner versteckten sich in Kellern, in Luftschutzräumen, in Ruinen, schließlich in den Katakomben von Asow-Stahl. Die Moral der Verteidiger des Kombinats ging weit über das hinaus, was sich von Soldaten auf dem Schlachtfeld erwarten lässt. Ich spreche hier besonders von den Soldaten des Asow-Regiments und der 36. Marineinfanterie-Brigade. Erst kämpften sie in den Straßen der Stadt, dann zogen sie sich auf das Industriegelände zurück, wochenlang banden sie beträchtliche russische Kräfte, schwächten ihre Kampfkraft und verhinderten, dass sie in andere ukrainische Regionen hätten geschickt werden können. Die Verteidigung von Asow-Stahl ist zu einem Mythos dieses Krieges geworden. Sie wird einer der großen ukrainischen nationalen Mythen bleiben.

Die Verteidigung von Asow-Stahl war die letzte und schrecklichste Phase der Verteidigung von Mariupol. Soldaten, die ihren Zwieback den Einwohner gaben oder Ausfälle in die beschossene Stadt machten, um ein bisschen Wasser oder Proviant zu finden; Ärzte, die bei Kerzenschein in den Kellern des Kombinats operierten. Aber es kam vor, dass selbst in dieser Hölle Gesang laut wurde, vielleicht „Die Vögelchen“ von Kateryna Polischtschuk [bekannte ukrainische Schauspielerin und Dichterin, geb. 2001; A.d.Ü.], und dann zeigte sich ein Lächeln auf den Gesichtern der Verteidiger, auch auf dem Gesicht des schwer verwundeten Mychajlo Djanow, Feldwebel der Marineinfanterie-Brigade. Dmytro Kosatschkyj „Orest“ hat ihn mit schwer verletztem Arm auf einem Foto verewigt.

Die verbissene Verteidigung von Asow-Stahl, die täglichen Kommuniqués der Kommandeure des Asow-Regiments – Denys Prokopenko „Redis“, Serhij Wolynskyj „Wolyna“, Swjatoslaw Palamar „Kalyna“, in die Welt gesendet aus den tiefen Kellerräumen, der Anblick von Hunderten nach Schutz suchenden Frauen, Kindern, Alten, Dutzenden verwundeter Verteidiger… Für immer werden uns die erschütternden Fotos Dmytro Kosatschkyjs begleiten, eines der Verteidiger, die er in den Kellern von Asow-Stahl machte, sie sind wie aus einem Science-Fiction-Film, nur eben real.

Die Kapitulation von Asow-Stahl war das Ende der Epopöe von Mariupol. Die Soldaten des Asow-Regiments waren entschlossen, bis zum Ende zu kämpfen. Allein der Gedanke, dass ihre schwer verwundeten Kameraden zu einem Tod unter Qualen verurteilt sein würden, ohne Medikamente, ohne operiert werden zu können, ohne einfachste Hygiene, entschied darüber, dass sie sich dem Aufruf von Präsident Wolodymyr Selenskyj fügten, die Waffen niederzulegen. Sie gingen in russische Gefangenschaft in der Überzeugung, dass sie bald im Zuge des Gefangenenaustauschs freikommen würden. Doch es kam anders, für die mehr als 2400 kriegsgefangenen Verteidiger von Mariupol hatten die Russen schon die Hinrichtungsorte bestimmt, unter den Gefangenen waren auch viele Frauen, alle waren ausgehungert, viele von ihnen wurden gefoltert. Mehr als sechzig (von denen wir wissen) überlebten die Gefangenschaft nicht, als nämlich die Russen eine Gefangenenbaracke in Olewniza in die Luft sprengten. Monatelang war nicht bekannt, was aus den Gefangenen geworden war. Erst Ende September 2022 erhielt die Ukraine im Zuge eines Gefangenenaustausches die erste größere Gruppe der Verteidiger von Asow-Stahl zurück, darunter die Kommandeure des Asow-Regiments und der Marineinfanterie-Brigade. Ich sah mir die Reportagen über ihre Freilassung viele Male an, ohne meine Tränen zurückzuhalten, einige küssten die Heimaterde, schrecklich abgemagert mit eingefallenen Augenhöhlen, andere konnten gerade noch sagen, sie hätten die Hölle überlebt, wieder andere konnten kaum noch „Slawa Ukrajini!“ rufen und sich die erste Zigarette nach Monaten anzünden…

Als das Ende der Verteidigung der Stadt verkündet wurde, postete Anna Romanenko: „Über vierzig Jahre lang habe ich meine eigene Welt in Mariupol aufgebaut. Meine Stadt war mir nie gleichgültig, ich tat alles mir nur Mögliche, damit sie sich weiterentwickelte und dazu wurde, wie ich sie haben wollte. Das alte Haus, das meine Mutter und ich von ihren Eltern übernommen hatten, bauten wir in den letzten zwanzig Jahren Ziegel für Ziegel wieder auf, schneller schafften wir es nicht. Im letzten Jahr legte ich zum ersten Mal im Leben eigenhändig eine Blumenwiese rund um das Haus an. Ich träumte von einem eigenen Garten, wie er mir seit meiner Kindheit im Traum vorgeschwebt hatte. Aber diese meine Welt ist untergegangen. Nichts davon ist übrig. Ich habe nichtmals mehr eine der Zeichnungen meiner Söhne, die ich liebevoll in einer besonderen Mappe aufbewahrte. Und in einem Kistchen auf dem Regal verwahrte ich ihre ersten Zähne. Mir ist kein Familienfoto geblieben. Alles, was mir am Herzen lag, ist verschwunden. Ich bete, dass es in meiner Straße keinen Brand gibt, dann kann ich vielleicht noch irgendetwas wiederfinden. Eines Tages… Menschen, die 2014 aus ihrem Donezk fliehen mussten, lebten wenigstens in der Illusion, nach dort zurückkehren zu können. Wir haben nichtmal das. Sollen wir etwa ohne Vergangenheit leben? Je älter du wirst, desto schrecklicher ist dieser Gedanke. Denn ich habe Angst, dass ich es nicht mehr schaffen werde, noch einmal alles von neuem aufzubauen. Und ob ich das überhaupt tun will. Wo doch meine persönliche Tragödie darin besteht, dass ich nirgendwo sonst glücklich sein kann, nur in Mariupol! Ich will nach Hause!!!“

Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer könnten dem nur zustimmen, sie befinden sich in einer ähnlichen Situation, haben ihre Häuser verloren, ihre Erinnerungsstücke, mit einem Wort, die Habseligkeiten eines ganzen Lebens.

Auch wenn Anna im Mai 2022 schrieb, sie würde nichts Neues mehr aufbauen können, fand sie die Kraft, etwas Neues anzufangen. Sie begann einen Mariupol gewidmeten Blog, veröffentlicht immer noch in dem Portal, für das sie schon seit Jahren geschrieben hat, ist Koautorin der Initiative „Denkmal für Mariupol“, trägt Zeugenaussagen von Bewohnern zusammen, die bei der Belagerung die Hölle durchlebten. Es geht ihr darum, die Spuren zu sichern.

Andere Einwohner vergessen ihre Stadt ebenso wenig. Ein Kunstfotograf aus Mariupol, Iwan Stanislawskyj, sammelt Fotografien aus Mariupol aus der Zeit vor dem 24. Februar, Stadtteil für Stadtteil, um festzuhalten, wie die Stadt vor der Zerstörung aussah, und denen zu helfen, die sie einmal wieder aufbauen werden. Meines Wissens arbeiten polnische und ukrainische Architekten gemeinsam an Plänen, um die beim Wiederaufbau von Warschau gewonnenen Erfahrungen für Mariupol einsetzen zu können.

*

Mit der russischen Invasion begann ein neues Kapitel der Geschichte der Ukraine, Europas und der Welt, obwohl es genaugenommen schon 2014 mit der Besetzung der Krim und dem Krieg in der Ostukraine begonnen hatte. Professor Jaroslaw Hrytsak sagte im Sommer letzten Jahres: „In der Ukraine gibt es jetzt nicht eine heterogene Gruppe von Einwohnern, sondern eine wirkliche Nation, Bürger, die sich der Rechte und Pflichten gegenüber ihrem Land bewusst sind. Einer solchen, ihre politische Nation aufbauenden Gesellschaft schwebt die Leitidee vor: Nichts über uns ohne uns. Dies ist eine politische, mit ihrem Vaterland, nicht mit ihrer Regierung verbundene Nation. Die Ukrainer sind sich dessen bewusst, dass sie im vollen Umfang des Wortes Herren im eigenen Land sind.“ Die Ukraine ist nicht länger eine Einflusszone Russlands. Diese Zeiten sind zu Ende und kommen nicht wieder. Die Ukrainer wollen nicht Teil einer Gesellschaft mit einem Wahn von Größe sein, sie kämpfen für ein Leben in einem normalen, eigenen Land.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann


Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Förderprogramms „Deutsch-Polnische Zukunftsbrücken für die Ukraine“ der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit aus den Mitteln des Auswärtigen Amtes.

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Iza Chruślińska

Iza Chruślińska

Iza Chruślińska – Publizistin, Aktivistin für die Ukraine und die ukrainische Minderheit in Polen, zuletzt erschien von ihr: „Ukraiński palimpsest. Rozmowy z Oksaną Zabużko“ (Ukrainischer Palimpsest. Gespräche mit Oksana Zabužko, 2013).

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