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Leben im Krieg

Bald sind es schon zwei Jahre, in denen die Ukrainer den ungleichen Kampf zur Verteidigung ihres Landes gegen die russische Aggression führen. Ukrainische Soldaten sterben an der Front, und Zivilisten, darunter Kinder, fallen russischen Raketen‑ und Drohnenangriffen zum Opfer, in der Nähe der Front auch dem Beschuss von Artillerie und Luftwaffe. Doch trotz der Besetzung eines Teils seines Gebiets und der anhaltenden blutigen Kämpfe funktioniert der ukrainische Staat, und die Ukrainer haben sich auf ihre Weise an die neue Kriegsrealität angepasst. Hier und da lässt sich der Krieg sogar für einen kurzen Augenblick vergessen. Das hängt natürlich ganz und gar von der Ortslage ab, es gibt sichere Orte und solche, an denen ständig tödliche Gefahren lauern.

Es ist kaum zu glauben, aber tagsüber, besonders wenn die Sonne scheint, macht Kyjiw ganz den Eindruck wie vor dem Krieg. Auf den Straßen sind viele Autos unterwegs, Staus kommen vor, die Gehwege sind gleichfalls voller Menschen. Die Geschäfte, Cafés, Restaurants und viele andere Servicebetriebe sind offen. Abgesehen von strategischen Stellen sind keine Militärposten zu sehen, wie es in den ersten Monaten der Invasion der Fall war. Anscheinend können sich die Menschen auch an die Einschränkungen gewöhnen, wie zum Beispiel die Sperrstunde, die nach der letzten Lockerung jetzt von Mitternacht bis fünf Uhr morgens dauert. Die früher rund um die Uhr lebendige Stadt kommt jetzt bei Einbruch der Nacht zum Erliegen. Es kommen Verstöße vor, ab und an wird von privilegierten Clubs berichtet, die trotz Sperrstunde nachts geöffnet haben. Manchmal wird es aber aus anderen Gründen in der Nacht laut. Denn dann greifen die Russen mit Raketen und Drohnen an. Doch manchmal kann man sich in Gedanken verlieren und für einen Augenblick vergessen, dass es Krieg ist. Der Moment ist schnell vorbei, und dafür sorgen nicht nur die Luftalarme.

Die Ukrainer schaffen es, ihr Leben trotz des Kriegs zu führen

Am 24. Februar 2022 wurden die Einwohner Kyjiws wie vieler anderer Städte am frühen Morgen von den Einschlägen russischer Raketen geweckt. Wie in völliger Trance, fuhren trotzdem viele am Morgen dieses Tages mit der U-Bahn oder der Tram zur Arbeit. Kurz darauf bildeten sich vor den Geldautomaten lange Schlangen, in den Läden gab es Hamsterkäufe. Und dann war fast von Stunde zu Stunde besonders im Zentrum zu bemerken, wie sich die Stadt leerte.

Nicht lang darauf, und in der Stadt mit ihren fast drei Millionen Einwohnern fiel die Menschenleere ins Auge. Man ging über leere Straßen, und auf einer der Kyjiwer Hauptarterien waren die Spuren der Panik der ersten Tage zu sehen, vielleicht gar der ersten Stunden: gegen die noch aus Sowjetzeiten stammenden, schweren Straßenlaternen geprallte Luxuswagen.

Ein Teil der Supermärkte und Lebensmittelläden schloss, sobald sie ihre Waren abverkauft hatten. Doch die Geschäfte im Bereitschaftsdienst blieben offen. Hier und da konnte man sogar einen Kaffee trinken. Aber die meisten Gaststätten waren zu.

Die Atmosphäre in der Stadt war düster, die Kämpfe spielten sich in der Nähe ab. Obwohl sich Kyjiw leerte, war es nicht völlig ausgestorben. Ein Teil der Einwohner blieb die ganze Zeit in der Stadt, die Infrastruktureinrichtungen arbeiteten. Einer der Internetprovider, dessen Dienste ich in Anspruch nahm, versicherte mir, seine Techniker würden versuchen, die Internetverbindung selbst dann noch aufrechtzuerhalten, wenn die Kämpfe das Stadtgebiet erreichen sollten.

Als Ende März letzten Jahres der Norden des Landes befreit wurde, begannen die Menschen bald, in die Hauptstadt zurückzukehren, und mit ihnen zog wieder Leben ein. Eine weitere Fluchtwelle, wenn auch geringeren Ausmaßes, gab es im Herbst 2022. Am 6. Oktober 2022 begann Russland massive Angriffe mit Raketen und Kamikazedrohnen auf die Energieinfrastruktur der Ukraine. Infolgedessen wurden fünfzig Prozent der energietechnischen Einrichtungen zerstört oder beschädigt. Kyjiw und die anderen Städte versanken für viele Stunden in Dunkelheit. In den Straßen war ein neues Geräusch zu hören, das Brummen von Dieselgeneratoren, die dafür sorgten, dass Läden, Apotheken, Cafés und andere Geschäfte ihre Türen offenhalten konnten. Selbstverständlich waren die Monate mit täglichen Stromausfällen schwer.

Im Vergleich mit vielen anderen Städten ist Kyjiw privilegiert. Rings um die Hauptstadt befindet sich die stärkste Luftverteidigung, auch wenn das immer noch keine hundertprozentige Sicherheit gewährt. Denn die abgeschossenen Raketen und Drohnen sind noch gefährlich. Wenn du von Kyjiw zum Beispiel nach Charkiw, Dnipro, Saporischschja oder Mikolajiw fährst, verstehst du sofort, dass es nichts zu meckern gibt. Ungeachtet der größeren Gefahr, versuchen die Menschen trotzdem ein normales Leben zu führen, soweit überhaupt möglich. Die Nahverkehrsbetriebe arbeiten, die Menschen gehen zur Arbeit, und danach suchen sie nach Ablenkung.

Alle diese Städte sind mit den Zügen der Ukrainischen Eisenbahnen zu erreichen, die zum Symbol für das Funktionieren der Ukraine in Zeiten des Krieges geworden sind. Die Eisenbahn schickte vom ersten Tag der russischen Aggression Evakuierungszüge auf die Strecke, organisierte Militärtransporte an die Front und Warentransporte und den normalen Personenverkehr im Inland und über die Grenze hinweg. Um mit diesen ganz normalen Personenzügen lässt sich selbst bis in die frontnahen Städte fahren, wie zum Beispiel Cherson oder Kramatorsk. Die Ukrainischen Eisenbahnen haben es sich zur Ehrensache gemacht, die Verbindungen zu den im letzten Jahr befreiten Städten so schnell wie möglich wieder herzustellen. Ihre Arbeit ist nicht ohne Risiko. Bis Anfang November kamen 530 Eisenbahnmitarbeiter um, die meisten von ihnen im Kampf an der Front – 395. Die übrigen durch russische Geschosse und während ihres Dienstes, und mehr als 1300 wurden verwundet.

Die Eisenbahner sind nicht die einzigen Helden im Hinterland der Front. Die Mitarbeiter der Elektrizitätswerke vollbringen Wunder, wenn sie die Stromversorgung nach den Angriffen wieder herstellen. Städtische Angestellte reparieren die Schäden von den Einschlägen oder säubern die Straßen, selbst in den frontnahen Städten. Das gilt auch für Privatunternehmen. Nowa Poschta, die größte ukrainische Zustellungsfirma, spielt eine sehr wichtige Rolle im Krieg, und ihre Angestellten riskieren ihr Leben dabei. Am 22. Oktober 2023 traf eine russische Rakete das große Terminal von Nowa Poschta bei Charkiw. Es starben sieben Angestellte, ein gutes Dutzend wurde verletzt.

Nowa Poschta war eines der ersten Unternehmen, die in den befreiten Gebieten ihre Tätigkeit wieder aufnahmen. Noch mehr als ein Jahr nach der Befreiung sehen viele Orte im der Oblast Charkiw bei der Durchfahrt so aus, als sei alles Leben in ihnen erstorben. Doch bei näherem Hinsehen erweist sich das als falsch. Viele Menschen sind in ihre Häuser zurückgekehrt, und ungeachtet der schweren Zerstörungen haben sie soweit möglich ihre Häuser wieder aufgebaut. Doch sie leben buchstäblich auf einem Pulverfass. In einem dieser befreiten Dörfer wurden bis zum November nicht weniger als zwölf Menschen Opfer von Minen, davon einer, der gleich zweimal verwundet wurde. Das letzte Opfer trat an dem Tag auf eine Mine, als ich in das Dorf kam. Die Gegend ist voller Minen. Die Ukraine ist das am stärksten verminte Land der Welt. Und das bringt noch andere Probleme mit sich. Die Einwohner des genannten Dorfes sind Landwirte mit zwanzig bis dreißig Hektar Land; sie wollen keine humanitäre Hilfe. Sie wollen, dass ihre Felder entmint werden und sie Hilfe mit den Ackergeräten bekommen, die sie während der russischen Besatzung verloren haben, um arbeiten und selbst ihre Familien ernähren zu können.

Kinder und der Krieg: Langwierige und schwer abschätzbare Folgen

Bis Anfang Dezember waren mindesten 512 Kinder umgekommen, 1182 verletzt worden. Wie die ukrainischen Untersuchungsbeamten betonen, sind das noch keine endgültigen Ziffern. Die Ermittlungen der Daten aus den Frontgebieten und den besetzten Territorien gehen unablässig weiter. Noch dazu dauert der Krieg an.

Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, welche die Langzeitfolgen des Kriegs sein werden, an denen ukrainische Kinder leiden. Viele sind immer noch in den frontnahen Gebieten, wo sie in schwerer Gefahr schweben. Manchmal ist die Entscheidung ihrer Eltern kaum nachzuvollziehen, die selbst dann ihren Heimatort nicht verlassen wollen, wenn er direkt an der Front liegt. Dies sind glücklicherweise Ausnahmen, doch es kommt relativ häufig vor. Viele waren gezwungen, ihre Häuser zu verlassen.

Aber selbst in weit von der Front liegenden Städten sind ukrainische Kinder Gefahren ausgesetzt, weil fortwährend russische Luftangriffe stattfinden. Diese finden meistens in der Nacht statt, und selbst wenn der Angriff dann doch ausbleibt, bedeutet es jedes Mal einen Luftalarm; so ist die Gefahr zum Alltag der ukrainischen Kinder geworden. Wir sollten uns einmal verdeutlichen: Hunderttausende Kinder eines Staats in Europa hören bis zu mehrmals täglich Warnsirenen, anschließend folgen in vielen Fällen Explosionen. Es ist kaum vorstellbar, welchen Einfluss das auf die kindliche Entwicklung hat.

Wenn der Alarm am Tag erfolgt und die Kinder in der Schule sind, werden sie in Luftschutzräume gebracht. Wenn die Umstände es erlauben, weisen die Schulleitungen an einigen Orten Unterrichtsräume zu, die gleichzeitig als Schutzräume dienen. Wo es zu gefährlich ist, bekommen die Kinder Online-Unterricht wie während der Pandemie.

Der Mai letzten Jahres war für die Kinder in Kyjiw besonders schwer, denn fast täglich erfolgten Angriffe mit Raketen oder Kamikazedrohnen. Die meisten fanden nachts statt, und eines Tages startete Russland mehrere Angriffe mit Überschallflugkörpern vom Typ Kindschal. Eine Patriot-Batterie schoss die russischen Raketen ab, aber die lauten Explosionen im Luftraum über der Stadt verbreiteten minutenlang Angst und Schrecken.

Auf einem während dieses Angriffs aufgenommenen Video ist zu sehen, wie eine Gruppe von Kindern im Alter von etwa zehn Jahren aus einem Kyjiwer Stadtteil nach den ersten Detonationen anfangen, vor Angst schreiend in Richtung einer U-Bahn-Station zu laufen. Wahrscheinlich waren die Kinder instruiert, nach Beginn des Sirenenalarms sich in die nächste Untergrundstation zu begeben, weil diese den sichersten Schutz bietet. Doch obwohl die U-Bahn-Station ganz in der Nähe war, konnten die Kinder sie nicht rechtzeitig erreichen. Denn bei Überschallgeschossen liegt die Vorwarnzeit bei nur wenigen Minuten.

Die schlechteste Sicherheitslage besteht in den Städten nahe der Grenze zu Russland oder dicht an der Front. Charkiw, Saporischschja, Mikolajiw und Dnipro haben im Falle schnell fliegender ballistischer Geschosse eine sehr begrenzte Reaktionszeit. In Charkiw kommt es vor, dass die Sirenen erst heulen, wenn in der Stadt schon Explosionen zu hören sind.

Für viele Kinder bedeutet der Krieg auch Trennung. Viele Familienväter kämpfen an der Front, und viele sind schon gefallen.

Zwei Ukrainen

Als Russland seinen Überfall auf die Ukraine begonnen hatte, standen vor den Militärersatzämtern im ganzen Land die Männer Schlange. Während sich die russische Armee Kyjiw näherte, meldeten sich in der Stadt tausende von Freiwilligen zu den Waffen.

Aus dem Ausland und besonders aus Polen machten sich tausende Männer auf den Weg zurück in die Ukraine, um ihre Heimat zu verteidigen. Darunter waren viele, die zuvor schon als Freiwillige im Donbas gekämpft hatten. In den ersten Kriegswochen wurden viele, die sich freiwillig meldeten, gar nicht genommen. Heute hat sich das stark geändert. Wie schon seit längerer Zeit ukrainische Kommentatoren schreiben – „die Freiwilligen sind aus“. Anstelle der Schlangen vor den Rekrutierungsbüros tauchen im Internet Videos von der Übergabe der Einbestellung zur Musterungskommission auf offener Straße auf. Manchmal sind die Szenen sehr drastisch und zeigen, wie die Männer durch die Straßen gejagt werden. Solche Vorkommnisse und aufgedeckte Korruptionsfälle haben dazu geführt, dass sich die ukrainische Regierung für das zweite Kriegsjahr zu einer Reform des Mobilisierungssystems entschlossen hat.

Aber diese Lage hat zu einem Personalmangel bei der ukrainischen Armee geführt. Offiziell sind die ukrainischen Verluste an der Front ein Tabu. Doch um zu erkennen, wie hoch sie sind, reicht ein Gang über die Friedhöfe. Beerdigungen von Soldaten, die bei der Landesverteidigung gefallen sind, gehörten in jeder Region in Städten und auf dem Land zum Alltag.

Viele, die seit 2014 im Donbas kämpften, sind im „großen Krieg“ gefallen. Das waren erfahrene und motivierte Soldaten. Viele der Kriegshelden meiner Reportagen, die ich seit 2014 aus der Ostukraine schrieb, sind nicht mehr am Leben.

Natürlich sind nicht alle Helden. Es gibt diejenigen, die um jeden Preis der Mobilisierung entgehen wollen, indem sie illegal auszureisen versuchen. Die Zahl der Männer, die aus Angst vor der Einberufung ins Ausland entkommen sind, wird auf 20.000 geschätzt.

Aber viele kämpfen. Wer seit Monaten, manchmal seit Kriegsbeginn an der Front ist, kann oft nur schwer verstehen, was sich hinter ihnen im Land abspielt. Kyjiw und die anderen Großstädte sehen schon lange nicht mehr so aus wie in den ersten Wochen der russischen Invasion. Das sprang besonders in die Augen, als es warm war und im Stadtzentrum an vielen Stellen Cafés und Freisitze von Restaurants überfüllt waren. Es wollte scheinen, in dieser Welt gebe es keinen Krieg, oder er spiele sich ganz weit weg ab.

So sieht sicher jeder Krieg aus. In Paris und sogar in Warschau waren während der Besatzung im Zweiten Weltkrieg die Cafés auch geöffnet, nicht alle waren in der Widerstandsbewegung. Irgendwie nahm das Leben seinen scheinbar normalen Gang.

Wer sich jedoch als Freiwilliger gemeldet und seit vielen Monaten den Tod täglich in einer Szenerie wie aus dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg vor Augen hat, den irritiert womöglich diese Leichtlebigkeit und Sorglosigkeit in Kyjiw und Lemberg immer mehr. Der an der Front kämpfende Schriftsteller Artem Tschech schreibt, es vertiefe sich die Kluft zwischen denen, die im Krieg, und denen, die zuhause geblieben sind. Aber das ist eine Entwicklung, die viel früher begann, nämlich 2014, als der Krieg einen viel geringeren Teil der Gesellschaft betraf und als viele ihn jahrelang nicht in ihr Bewusstsein zu lassen versuchten.

Aber selbst angesichts der vollen Cafés sollten wir nicht vergessen, dass die Zentren von Städten wie Kyjiw, Lemberg und Odesa nicht repräsentativ für das ganze Land sind. Es ist nur zu sehen, wer sich solchen Luxus leisten kann. Viele Ukrainer selbst aus den großen Städten haben keinen Zugang zu derartigen Annehmlichkeiten. Denn der Krieg lässt die ukrainische Gesellschaft verarmen.

In meinem Stadtviertel, das in den Jahren vor dem „großen Krieg“ zum Zentrum der Hipster von Kyjiw geworden war, haben seit dem russischen Überfall einige neue Cafés und Dienstleister geöffnet. Zu einem großen Teil verdanken Kyjiw und die anderen Großstädte diese Dynamik den Flüchtlingen aus den besetzten und frontnahen Gebieten. Diese versuchen, ihr Leben neu einzurichten, sich irgendwie zurechtzufinden und sogar in Kriegszeiten ihren Unterhalt zu verdienen. Darunter sind einige, die das bereits zum zweiten Mal tun, weil sie erstmals in die Flucht getrieben wurden, als 2014 die Krim annektiert wurde und der Krieg im Donbas ausbrach.

Zugleich leben im selben Stadtteil viele Geflüchtete in Hostels, die in Kellern von Wohnhäusern untergebracht sind. Es sind zwei Welten: Die oberhalb, wo wohnt, wer eine eigene Wohnung hat oder es sich leisten kann, eine zu mieten, und die derjenigen, die im Souterrain wohnen. Meist sind das Frauen. Sie haben das Land nicht verlassen und arbeiten, aber ihr Einkommen reicht für nichts Besseres.

Vielleicht sollte sich der Westen mehr für diejenigen interessieren, die nicht ausgereist sind, die ungeachtet der Probleme und Gefahren versuchen, sich in der neuen Lage zurechtzufinden. Auf solche Menschen stützt sich heute die Ukraine. Die meisten brauchen nicht den sprichwörtlichen Fisch, sie können sich ganz gut selbst mit der Angelrute versorgen.

Seit letztem Jahr gibt es keine genauen demographischen Daten mehr. Schätzungen von ukrainischen Fachleuten zufolge ist die Ukraine durch den russischen Angriff entwicklungsmäßig auf den Stand von 2001 zurückgefallen. Möglicherweise nicht weniger als 67 Prozent der im Land gebliebenen Ukrainer leben in Armut.

Die Frage nach der Geschlossenheit

Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs einigten sich Parteien und Politiker auf den Konsens, die Politik im Lande praktisch auszusetzen. Die Gefahr, das eigene Land zu verlieren, veranlasste sie dazu, die politischen Auseinandersetzungen ruhen zu lassen. Das Parlament wurde faktisch zu einer Abstimmungsmaschine, und die Macht konzentrierte sich in den Händen von Präsident Selenskyj und seinen Leuten.

Ohne den Krieg hätten im Herbst dieses Jahres Parlamentswahlen stattfinden sollen, Ende März nächsten Jahres Präsidentschaftswahlen. In den letzten Monaten wurde darüber diskutiert, ob der Versuch gemacht werden sollte, im Krieg Wahlen durchzuführen. Vorerst scheint es in Gesellschaft und Politik dazu einen Konsens zu geben: Wahlen während des Kriegs sind zu riskant. Dafür geben den Ausschlag zum einen Sicherheitsfragen, zum andern auch das Problem, wie den Millionen von Ukrainern die Abstimmung ermöglicht werden soll, die in anderen Ländern Unterschlupf gefunden haben, und wie ein fairer Wahlkampf zu garantieren sei.

Doch in jüngster Zeit macht sich die Politik wieder deutlicher bemerkbar. In diesem Jahr waren die ukrainischen Erfolge an der Front nicht so groß wie im vergangenen. Die Offensive im Süden hat sich festgefahren, und die russische Armee hat in den letzten Wochen fast längs der gesamten Frontlinie die Initiative übernommen.

Zugleich werden Auseinandersetzungen zwischen der Zentralregierung, einem Teil der Militärführung wie auch den Lokalverwaltungen sichtbar. Dabei hat sich in den Vordergrund gedrängt, dass zwischen Präsident Selenskyj und Oberbefehlshaber General Walerij Saluschnyj Spannungen bestünden.

Bei den normalen Ukrainern lässt das Unruhe aufkommen. Im vergangenen Jahr konnte sich die Ukraine dank der Geschlossenheit ihrer Gesellschaft erfolgreich gegen Russland wehren. Viele befürchten nunmehr, die Meinungsverschiedenheiten könnten den ukrainischen Widerstand schwächen.

Gegen Ende des zweiten Kriegsjahres ist es zu einer spürbaren Verstimmung in der Gesellschaft gekommen. Der Krieg hinterlässt bei allen seine Spuren. Und das nächste Jahr könnte schwerer werden als die beiden vorherigen. Umso mehr, als sich wachsende Probleme bei der Fortsetzung der Militärhilfe für die Ukraine bemerkbar machen. Übrigens warnten viele der Frontkämpfer und ein Teil der Experten schon letztes Jahr davor, als große Erfolge vorzuweisen waren, nicht in einen allzu großen Optimismus zu verfallen. Der Gegner ist sehr stark und entschlossen, die Ukraine zu vernichten. Daher sind sie der Meinung, je rascher die Gesellschaft der nüchternen Realität gewahr werde, dass dieser Krieg lange andauern wird, desto größer die Chancen, dass die Ukraine diesen Konflikt überdauert.

Zwar werden Stimmen lauter, um Erfolg zu haben, bedürfe es eines radikalen Strategiewechsels. Alles müsse den Erfordernissen der Front untergeordnet werden, und die Ukrainer müssten sich mit dem Gedanken abfinden, dass alle kämpfen werden. Für die Ukrainer ist Hamlets „Sein oder Nichtsein“ keine philosophische Frage.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Piotr Andrusieczko

Piotr Andrusieczko

Piotr Andrusieczko, polnischer Journalist, Sonderkorrespondent der Tageszeitung Gazeta Wyborcza und Autor des Magazins New Eastern Europe.

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