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Ein Homo Sovieticus des 21. Jahrhunderts?

Vielleicht sollten wir das Überdauern des Homo sovieticus in Belarus einmal nicht als Problem sehen, sondern als Herausforderung und möglicherweise sogar Vorteil: Fügsamkeit und Passivität als Voraussetzungen für Offenheit, Kollektivismus als Chance zum Aufbau einer Zivilgesellschaft, Anpassungsfähigkeit und Opportunismus als Findigkeit und nicht zuletzt vielschichtige Identität als Kennzeichen einer modernen Bürgernation.

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Regionalexperten und Reisende aus dem Westen nehmen Belarus gleichermaßen als Überbleibsel des Sowjetsystems wahr. Das Land wird gern als in Mottenkugeln gepackter Kommunismus dargestellt, in dem die krassesten Exemplare des Homo sovieticus anzutreffen seien. Doch mehr als 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR ist die Mentalität des Homo sovieticus in Belarus noch kaum erforscht, und diese ist Gegenstand einer im Lande selbst wie im Westen geführten Debatte.

Der Begriff des Homo sovieticus tauchte zuerst in Publikationen des sowjetischen Soziologen und Philosophen Alexander Sinowjew auf und wurde seither in zahlreichen Forschungsdisziplinen untersucht und interpretiert. Dieser Sowjetmensch hat bestimmte Grundmerkmale; dazu zählen Kollektivismus, Fügsamkeit, Opportunismus, Anpassungsfähigkeit, mangelnder Respekt vor Rechtsstaatlichkeit, monistische Weltsicht und Instrumentalisierung von Religiosität oder Abwesenheit derselben. Manch einem will scheinen, der Homo sovieticus habe in Belarus überlebt, aber trifft das wirklich zu? Oder ist er etwa in die Zwischenform des Homo postsovieticus mutiert?

 

Sowjetische Städte ‒ sowjetische Denkart?

 

Kommt jemand erstmals nach Belarus, fallen ihm zuerst die Städte und Architektur auf, in denen mehr als in allem anderen das sowjetische Erbe überdauert hat. Es mag Außenstehenden merkwürdig vorkommen, wieso in der Hauptstadt eines souveränen Staates so viele Straßen und Plätze nach kommunistischen Funktionären und Organisationen benannt sind. Wieso die Marx- und die Leninstraße zu den charmantesten Vierteln von Minsk gehören und der Hauptplatz von Hrodna mit seinen schönen belarussischen Kirchen Sowjetplatz heißt? Interessanterweise ist Minsk auch der einzige Ort der Welt, in dem eine Straße nach dem ersten Präsidenten der Volksrepublik Polen Bolesław Bierut benannt ist, den polnische Historiker überwiegend als stalinistischen Doktrinär sehen.

 

Die Liste der Beispiele ließe sich verlängern, und sie reichen, um den Ausländer davon zu überzeugen, Belarus sei ein Land des Homo sovieticus, in dem die Helden des untergegangenen totalitären Systems immer noch glorifiziert werden und noch niemand die Entkommunisisierung in Gang zu setzen gewagt hat. Doch in Wahrheit kennen die wenigsten Belarussen die Geschichte der Namensgeber ihrer Straßen. Für die meisten sind die Namen von Straßen und Plätzen eben nur Namen, die man in den alltäglichen Sprachgebrauch aufgenommen hat und die keine ideologische Konnotation mit sich führen. Die junge Kundschaft in den hippen Bars auf der Marx-Straße interessiert sich mehr dafür, wieso die Cocktails hier mehr als in Warschau und ungefähr so viel wie in Berlin kosten. Junge Menschen wissen auch, dass beim Pokémon Go-Spiel, das im vergangenen Jahr populär war, die besten Pokémon an der Dzierżyński-Büste zu finden waren, aber nur wenige interessieren sich dafür, wer dieser Feliks Dzierżyński eigentlich war.

 

Ein wenig anders verhält es sich mit der Architektur selbst, in der historische und moderne Elemente zusammenfließen, Monolithen ebenso wie graue, hässliche Plattenbauten aus Sowjetzeiten. Die Belarussen selbst meinen, es gäbe zu viel von dieser hässlichen und geschmacklosen Sowjetarchitektur. Diese Auffassung geht oft zusammen mit einer dem Homo sovieticus unveräußerlichen Eigenart ‒ einem absolut idealisierten Bild Europas, wie es seiner monistischen Weltsicht entspricht. Menschen mit geringem Einkommen, die sich die Reise in das „Gelobte Land“, nämlich den Schengen-Raum nicht leisten können, wählen daher preiswertere, auch für die belarussische Brieftasche erschwingliche Ziele, wie z.B. Lwiw. Von dort kehren Belarussen oft beeindruckt vom europäischen Geist dieser Stadt, ihren Farben und Wohnhäusern zurück. Wenn sie sich jedoch erst die Fahrt nach Warschau oder Vilnius leisten können, vergehen ihnen überwiegend die Illusionen, sind doch die westlichen Städte meist durch eine ähnlich graue und uninteressante Architektur geprägt.

Blick auf Minsk © istock/JackF

Der Kinofilm „Stiljagi“ (Die Modegecken, 2008) von Walerij Todorowskij bietet dazu eine hervorragende Veranschaulichung. Er erzählt die Geschichte einer Gruppe junger Moskauer in den 1950er Jahren, die gegen den schlichten Lebensstil der russischen Stadt rebellieren, indem sie sich grell und exzentrisch anziehen in der Meinung, so würden die Menschen im Westen herumlaufen. Als einer von ihnen schließlich in die Vereinigten Staaten kommt, muss er feststellen, dass auch der Westen nicht farbenfroh und exzentrisch ist, sondern einfach nur normal.

 

Auch Ausländern fällt auf, dass das erwähnte Lwiw, das sich allzu sehr anstrengt, europäisch zu sein, den Inbegriff des imaginierten Westens bildet. Nachdem die Belarussen ihr Land erst verlassen haben, sehen sie ihre eigenen Städte in einem anderen Licht; abgesehen von der stereotypischen Reinlichkeit, erkennen sie in der Heimat meist mehr von Europa wieder als vorher, manchmal gar mehr als in der Ukraine oder in Rumänien. Ist diese Koexistenz sowjetischer Baudenkmäler, historischer Architektur und Kirchen unterschiedlicher Konfessionen vielleicht doch keine Emanation des Homo sovieticus, sondern etwas, das die belarussischen Städte authentisch macht?

 

Opportunismus und Apathie

 

Bei der Diskussion über den Homo postsovieticus in den einzelnen postsowjetischen Staaten spielen die ökonomischen Verhältnisse meist die wichtigste Rolle. Nach klassischem Verständnis hat der Homo sovieticus keine Achtung vor dem Privatbesitz. Er betrachtet öffentlichen Besitz als im Grunde besitzerlos und schätzt das Gesetz gering, was ihn auch empfänglich für Korruption macht. Wenn die Sprache auf die Wirtschaft kommt, macht sich die sowjetische Erblast bemerkbar, gerade in der Funktionsweise der belarussischen Wirtschaft. Das geht aber vor allem auf die belarussische Herrschaftselite zurück, die keinen Hehl daraus macht, dass sie den archaischen Mechanismus der zentralen Planwirtschaft immer noch als Inbegriff der Effizienz betrachtet. Die Belarussen haben den Preis für solche Einstellungen zu bezahlen: Seit etwa fünf Jahren steckt das Land in einer tiefen Finanzkrise.

 

Unter diesen Umständen zeigt sich der belarussische Homo sovieticus auf eigentümliche Weise. Opportunismus und Apathie sind charakteristische Reaktionsformen. Auch wenn die Belarussen sich beschweren, wie schlecht ihre Lage sei und wie wenig sie verdienen, versuchen sie ohne Rebellion durchzukommen. Sie sagen, der Staat versorge sie mit dem Allernötigsten, was zum Überleben reiche. Doch die Vorhersagen der Fachleute, die in jeder Wirtschaftskrise den Anfang vom Ende des belarussischen Regimes sehen wollen, sind bislang nicht in Erfüllung gegangen. Auch die schlechte Wirtschaftslage wird nichts an der Nonchalance gegenüber Gesetz und Korruption ändern, die typisch für die Mentalität des Homo sovieticus ist. Überwiegend respektieren die Belarussen die Gesetze. Selbst wenn sie unablässig bemängeln, sie seien dumm oder unmenschlich, so halten sie sich doch daran und suchen eher nach Möglichkeiten, innerhalb des Systems zu funktionieren, als die Regeln zu brechen. Korruption ist nochmals ein anderes Kapitel; in dieser Hinsicht steht Belarus weitaus besser da als die Ukraine oder Russland.

Weißrussische Opposition demonstriert in Minsk © istock/FYMStudio

Korruption wird sehr negativ beurteilt. Korruptionsskandale kommen eher an der Spitze der Hierarchie vor; Korruption definiert keineswegs jede soziale Interaktion. Das heißt natürlich nicht, dass sie nicht existiert, nur unterscheidet sie sich von derjenigen in anderen postsowjetischen Ländern. Die Korruption in Belarus ist eher derjenigen des Westens ähnlich, weil die Bestechung das Risiko abdeckt, das man für den Gesetzesbruch in Kauf nimmt. Damit verhält es sich in der Ukraine ganz anders, wo Korruption allgemein und sozial akzeptiert ist und quasi eine Gebühr dafür ist, den Beamten dazu zu bewegen, seinen Verpflichtungen nachzukommen.

 

Anders als im Falle der Achtung vor dem Gesetz und der Korruption, in dem Belarus nicht dem Stereotyp des Homo postsovieticus entspricht, scheint die These von der Anpassungsfähigkeit doch Geltung beanspruchen zu können. Im belarussischen Fall nimmt diese oft Formen kreativen unternehmerischen Denkens an: Wie ist unter den sehr engen Verhältnissen Geld zu verdienen, ohne gegen Gesetze zu verstoßen? Einige Produkte und Dienstleistungen, die weltweit Märkte erobert haben, dienen hierfür zum Beweis. Die populären Onlinespiele „World of Tanks“, „Viber Messenger“ und MSQRD sowie die maps.me-App sind allesamt belarussische Erfindungen. Man könnte natürlich behaupten, dieses Beispiel habe nichts mit dem Homo sovieticus zu tun, sondern vielmehr mit dem rasanten Übergang vom Sowjetmenschen zum neoliberalen Typus. Das war in der Tat in einigen postsowjetischen Staaten der Fall. Doch in Belarus geht es dabei genau um das Charakteristikum der Findigkeit und des Unternehmergeistes des Homo postsovieticus.

 

Was ist die Alternative?

 

Zivilgesellschaftlich und politisch kann der Homo sovieticus charakterisiert werden durch Dienstwilligkeit, Kollektivismus, Fügsamkeit und Passivität. Auf den ersten Blick erfüllen die Belarussen den Idealtypus des Homo sovieticus: Ein und derselbe Mann herrscht seit über zwanzig Jahren über das Land, die Gesellschaft ist passiv und neigt nicht zum Protest und die demokratische Opposition ist schwach und unterdrückt. Doch bei genauerem Hinsehen findet man im belarussischen politischen System mehrere Paradoxien, die mit diesen allzu simplen Feststellungen nicht zu erklären sind.

 

Die wichtigste Frage ist: Haben die Belarussen jemals eine wirkliche Alternative gehabt? Vielleicht sind die Menschen des Landes nicht so sehr unterwürfig im klassischen Sinne als vielmehr opportunistisch und passiv? Nicht alle Belarussen mögen den Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka, wie dies jedem guten Homo sovieticus anstünde. Sie sehen einfach keine wirkliche Alternative. Das System ist nicht demokratisch, aber es vermittelt dem Großteil der Gesellschaft ein Gefühl von Stabilität und gewährt das Nötigste zum Überleben. Die herrschende Elite bietet den Leuten ein einfaches Weltbild und eine Garantie auf stabile Verhältnisse. Und das ist den meisten Belarussen wichtiger als das, was die nicht die Sprache der einfachen Leute sprechenden und realitätsfernen Oppositionsparteien zu sagen haben.

 

Wo schon einmal von der Opposition die Rede ist: Die im Westen verbreitete simple dichotomische Aufteilung der Herrschaftselite als Verkörperung der Mentalität des Homo sovieticus versus die belarussische Opposition als Sammelbecken demokratischer, westorientierter Neoliberaler erfordert ebenfalls eine Berichtigung, nämlich die Dekonstruktion des Mythos von der „unterdrückten Minderheit“. In der Tat ist die undemokratische, in Teilen autoritäre Herrschaftsweise in Belarus mitverantwortlich für den schlechten Zustand der Opposition. Jedoch sollten andere Faktoren nicht vergessen werden, beispielsweise dass die Unterstützung für die Opposition so geringfügig ist, dass sie innerhalb des statistischen Fehlerspielraums liegt und dass ihre Anführer bereits die Pfründe in einer Schattenregierung verteilen und sich über nur in ihrer Vorstellung existierende Posten zanken.

 

Zudem waren dieselben Oppositionsführer mehr als zwanzig Jahre lang nicht bereit, ihren begrenzten Einfluss und ihre hauptsächlich eingebildete Macht mit der jüngeren Generation oppositioneller Aktivisten zu teilen. Und schließlich gibt es da ein Problem mit der Einstellung der Opposition zu bestimmten europäischen Werten und Normen. Beispielsweise heißt es in dem Programm von „Freies Belarus“-, das von einigen Gurus der belarussischen Opposition erarbeitet und im letzten Frühjahr veröffentlicht wurde, die EU sei „eine Institution der ideologischen Intoleranz, des Linksradikalismus und der aggressiven Gottlosigkeit“, dagegen sei eine harmonische, gute Gesellschaft eine solche, welche die „Verwirklichung der natürlichen Aufgaben der Frau“ sicherstelle.

 

Wenn wir die gegenwärtige Popularität rechtslastiger illiberaler Rhetorik der Putins, Orbáns und ihresgleichen in Rechnung stellen, mögen solchen Ideen vielleicht nicht so überraschend sein. Schlussendlich sind politische Ansichten Privatsache und jeder hat das Recht auf eine eigene Vorstellung von der sozialen Ordnung. Jedoch zeigt sich an dem Beispiel, dass die belarussische Gegenelite größtenteils dieselben Einstellungen des Homo postsovieticus vertritt wie die herrschende Obrigkeit. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass letztere sie nicht versteckt. Sie hat ihre Position im Gegenteil auf solche Meinungen gegründet und deshalb gibt es zu ihr keine Alternative.

 

Fügsamkeit und Kollektivismus

 

Gleichwohl sollte der Einfluss der Politik auf die Realitäten des heutigen Belarus nicht überschätzt werden. Für die Mehrheit der Gesellschaft, besonders für die Jungen, ist Politik als solche nur eine abstrakte Idee und einfach unattraktiv. Und das rührt nicht nur daher, dass die Menschen erschöpft oder ganz von den Problemen ihres Alltags in Anspruch genommen sind. Es ist auch eine Tatsache, dass es für junge Leute, die in der Opposition aktiv werden wollen, nicht allein bedeutet, sich möglichen Repressionen auszusetzen, sondern auch einfach Zeitverschwendung ist, während nur sehr wenige Nutzen aus dem Engagement in regierungsnahen Organisationen ziehen können.

 

Vor diesem Hintergrund sind die Homo sovieticus-Merkmale Fügsamkeit und Passivität besonders wichtig. Auch wenn diese Eigenarten eigentlich einen schlechten Beigeschmack haben, besitzen sie das Potential, unter belarussischen Verhältnissen tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft zu fördern. Das liegt daran, dass Fügsamkeit und Passivität Offenheit implizieren. Worunter zu verstehen ist, dass die belarussische Gesellschaft von oben oktroyierte Normen und Regeln akzeptiert. Dies wiederum bietet wirkliche Chancen, bringt aber auch Gefahren mit sich, wenn wir soziales Bewusstsein als mit Inhalt anzufüllendes Behältnis auffassen. Die Passivität der belarussischen Gesellschaft kann bedeuten, soziale Einstellungen und Haltungen viel einfacher als in Westeuropa lenken zu können.

 

Zum Beispiel könnte sich der Mythos, die Belarussen seien besonders tolerant, als Vorteil erweisen, wenn es um Einstellungen zur LGBT-Gemeinschaft geht. Die Frage der LGBT-Rechte hat die Gesellschaft schon lange beschäftigt; diese mag zwar im Stillen nichtheteronormative Beziehungen verurteilt haben, aber es gab keine offene Aggression gegen LGBT-Menschen. Vor einigen Jahren wurden erste Organisationen für Schwulenrechte gegründet und solange diese sich auf Fragen von Umwelt und Gesellschaft konzentrierten, gab es keine Probleme. Erst als diese Gruppen begannen, sich für Angelegenheiten zu interessieren, die nach Auslegung der Obrigkeit in den Bereich der Politik fielen, also in die exklusive Domäne der Herrschaftselite, änderte sich die Lage dramatisch. Fortan wurden die Organisationen in ein negatives Licht gerückt und waren Repressalien ausgesetzt, aber nicht etwa deshalb, weil LGBT-Gruppen als sozial abweichend und amoralisch wahrgenommen worden wären, sondern weil sie aus Sicht der Regierung zu Systemfeinden gleich der Opposition wurden.

 

Mithin wurde der Gesellschaft eine negative Botschaft oktroyiert. Der Mythos der belarussischen Toleranz sollte zurückgewiesen werden; es handelt sich dabei nur um ein zu innenpolitischen Zwecken eingesetztes Instrument, um das kollektive Ego der Nation zu streicheln. Das heißt andererseits natürlich nicht, die belarussische Gesellschaft sei intolerant. Im Lichte aktueller Forschungen zeichnen sich bestimmte Regionen in Belarus durch einen viel höheren Grad an Toleranz aus als die meisten übrigen postsowjetische Staaten einschließlich der baltischen. Die Intoleranz in Belarus geht nicht auf Einstellungen oder Überzeugungen zurück, sondern auf die Isolation des Landes. Daher ist die Möglichkeit so von Bedeutung, dass Fügsamkeit und Passivität des Homo sovieticus in Offenheit transformiert werden könnten.

 

Kollektivismus ist ein weiterer wichtiger Faktor. Es hat keinen Zweck, an dieser Stelle über dessen abschätzige Konnotation zu sprechen, stattdessen soll er als Fähigkeit der Bürger aufgefasst werden, sich zu einem gemeinsamen Ziel zusammenzuschließen. An erster Stelle muss betont werden, dass die belarussische Gesellschaft entgegen den Stereotypen viel weniger kollektivistisch ist, als es den Anschein hat. Regierungsverlautbarungen im Stile von „gemeinsame Anstrengung der gesamten Nation im Dienste eines besseren Morgen“ sind nicht mehr als postsowjetische Anachronismen und gehören zur Staatsideologie, an die weder Staat noch Bevölkerung glauben. Die Belarussen sind gewöhnlich sehr individualistisch oder sogar ichbezogen, sie müssen lediglich unter solchen beengten Bedingungen funktionieren. Egoismus und vorgetäuschter Kollektivismus sind ebenfalls Charakteristika des Homo postsovieticus.

 

Kollektivismus erwies sich als der Katalysator, der Menschen zusammenbrachte, um bei einer der zahlreichen Gelegenheiten für ihre Rechte zu kämpfen. Im Frühjahr 2016 durchlief das Land eine Welle des Protests, der sich gegen das sogenannte „Sozialparasitengesetz“ richtete, aufgrund dessen Arbeitslose besteuert werden sollten. An den Demonstrationen nahmen tausende Menschen teil, nicht nur Oppositionelle, sondern auch einfache Arbeiter, die sich zum Protest gegen die Gesetzesvorlage zusammentaten. Nicht Oppositionspolitiker organisierten die Proteste, sondern die Hinnahmebereitschaft der einfachen Leute war schlicht überschritten worden. Die Behörden erschreckten über das Ausmaß der Proteste. Und dann geschah das Unvorstellbare ‒ die Regierung zog den Entwurf unter dem Druck der Gesellschaft zurück. Der postsowjetische Kollektivismus kann sich also jederzeit in sozialen (nicht politischen!) Aktivismus verwandeln und daher sollte der negative Kollektivismus als Faktor bei der möglichen Herstellung von Gemeinschaft gesehen werden.

 

Verschwommene Identität und falsche Religiosität

 

Die trennscharfe Unterscheidung zwischen einer belarussischen nationalen Identität und der Identifikation mit dem Staat ist noch nicht hinreichend erforscht. Der belarussische Forscher Aleh Latyschonak stellte einmal die provokante Frage: „Gibt es überhaupt Belarussen in Belarus?“ Aus seiner Sicht stellt sich die Frage nach der belarussischen Identität nur dann, wenn man zu beantworten versucht, was es bedeutet, Belarusse zu sein. Manche verstehen unter einem echten Belarussen jemanden, der die Zeiten des Großherzogtums Litauen beschwört, belarussisch spricht und die weiß-rote Fahne verehrt. Für andere sind die Beziehungen zu Russland und die Einheit der Slaven viel wichtiger. Wieder andere sehnen sich in die Sowjetzeit zurück.

 

Zweifellos ist die belarussische Identität noch verschwommen, kompliziert und vielschichtig. Die moderne Identität ist häufig an verschiedene Ebenen gebunden, auf denen unterschiedliche Identitäten (zum Beispiel eine belarussische und eine polnische) einander überlagern oder ergänzen, aber sich nicht gegenseitig ausschließen. Und genau das ist das Hauptcharakteristikum der Mentalität des belarussischen Homo postsovieticus. Die Selbstidentifizierung geschieht in Belarus meist über den Staat und nicht die Nation. Belarusse zu sein bedeutet, Bürger eines Staates zu sein und nicht Angehöriger einer bestimmten ethnischen Gruppe. Auch wenn in den letzten Jahren die Bereitschaft zugenommen hat, sich zu einer nationalen Zugehörigkeit zu bekennen, besonders bei der jungen Generation, dominiert immer noch eine staatsbezogene Identität. Das ist wenig überraschend, weil über die 25 Jahre der belarussischen Transformation hinweg weder die Regierung noch die Gegenelite das Vakuum zu füllen vermochten.

 

Die Frage der verschwommenen Identität hängt zusammen mit einem weiteren wichtigen Charakteristikum der Mentalität des belarussischen Homo postsovieticus: der Abwesenheit eines Heimatlandes. Ein emotional aufgeladenes Heimatgefühl ist viel weniger ausgeprägt als in der Ukraine oder in Russland. Viele Experten sehen in der Abwesenheit einer fixierten Identität und eines genau umrissenen Heimatlandes eine negative Erscheinung. Ich meine jedoch, dass die gegenüber der nationalen Identität dominierende Identifizierung mit dem Staat vielleicht das Konfliktpotential von Nationalität und nationalistischen Tendenzen reduziert. Ein fehlendes Heimatgefühl kann sich in verstärkte Mobilität auf dem globalen Arbeitsmarkt umsetzen, besonders bei der jungen Generation. Bürgernationen sind viel besser darauf vorbereitet, mit globalen Herausforderungen umzugehen, als ethnokulturelle.

 

Schließlich ist ein weiteres wichtiges, die belarussische Gesellschaft prägendes Charakteristikum des Homo postsovieticus die verbreitete Areligiosität. Nach neusten Umfragen betrachten sich sechzig Prozent der Belarussen als gläubig. Doch sollte dabei bedacht werden, dass in solchen Fällen eine Konfessionsangabe meist nicht mit einem tiefen Glaubensbekenntnis einhergeht, sondern nicht viel mehr als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kirche, bei den Belarussen also der orthodoxen Kirche, bedeutet, was wieder damit zusammenfällt, sich eine soziale Norm von Dazugehörigkeit oberflächlich angeeignet zu haben. Dagegen hat der staatsoffizielle Atheismus als sowjetisches Erbe in Belarus überdauert. Folglich zählen zu den „Gläubigen“ in Belarus auch Agnostiker und Menschen, die an paranormale Kräfte glauben. Es gibt in Belarus eine vollständige Trennung von Kirche und Staat, und im Hinblick auf die Säkularisierung der Gesellschaft steht das Land Frankreich, der Tschechischen Republik oder Schweden näher als der Ukraine, Russland oder Polen.

 

Diese Säkularität bestimmt noch eine Reihe weiterer Faktoren wie etwa die Entwicklung von Medizin und naturwissenschaftlicher Forschung. Weder Gesellschaft noch Herrschaftselite dulden kirchliche Einmischung in staatliche Angelegenheiten; dies wird als Verletzung anerkannter Grenzen gesehen. Glaube und Religion gehören ausschließlich der Privatsphäre an. Zum Beispiel gelten im konservativen und sowjetischen Belarus Geschlechtsumwandlungen als normaler chirurgischer Eingriff; dieser ist von der staatlichen Versicherung abgedeckt und damit kostenlos. Nach dem Bekunden von Ärzteorganisationen ist das belarussische Modell für solche Operationen das beste in der Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten und eines der besten in ganz Europa im Hinblick auf die Achtung von Menschenrechten.

Der Faktor Globalisierung

 

“Nach Afrika kommt Santa Claus, Und vor Paris steht Mickey Maus, We’re all living in Amerika, Amerika ist wunderbar” singt Till Lindemann in einem Rammstein-Song (eine Band mit partiell ostdeutschen Wurzeln). Lindemann nimmt die Welt als globales Dorf wahr, wir benutzen alle dieselben Gadgets, und die Globalisierung ist auf ihrem Höhepunkt. Und er hat recht. Viele der Fachleute und Regionalspezialisten, die die postsowjetischen Staaten als „Länder verspäteter Globalisierung“ sehen und behaupten, letztere habe Belarus noch gar nicht erfasst, liegen schlicht falsch. Man kann den gleichen Kaffee in Minsk, Lissabon und New York bekommen. Die Belarussen benutzen dieselbe Hardware, dieselben Anwendungen und bewegen sich in denselben sozialen Netzwerken wie Westeuropäer. Selbst das staatliche Fernsehmonopol ist nicht mehr das große Hindernis wie noch vor wenigen Jahren. Belarus hat ein gut funktionierendes Internet und bislang machen die Behörden keine Anstalten, es abzuschalten.

 

Wieso ist der Faktor Globalisierung so wichtig? Weil die gegenwärtigen Lebens‑ und Arbeitsbedingungen in vielen postsowjetischen Gesellschaften einander ähneln ‒ es gibt fast keine Hindernisse für sozialen und politischen Aktivismus, wie sie Entwicklungsrückstände und fehlender Zugang zu Technologie früher bildeten. Das Problem besteht nicht darin, dass sie Gesellschaften des Homo postsovieticus wären. Das Problem liegt bei den jeweiligen Eliten. Statt also das Überdauern des belarussischen Homo sovieticus als Problem zu sehen, sollten wir ihn als Herausforderung und womöglich als Vorteil erkennen: Fügsamkeit und Passivität als Voraussetzungen für Offenheit; Kollektivismus als Chance für die Entstehung von Zivilgesellschaft; Anpassungsfähigkeit und Opportunismus als Findigkeit; vielschichtige Identität als Grundlage einer modernen Bürgernation.

 

Die westliche Zivilisation hat ihren Gesellschaften bürgerliche Freiheiten geschenkt; die sowjetische Zivilisation schenkte ihren Nationen die Freiheit von Politik. Das heutige Belarus kann noch als eine Gesellschaft im Zustand sozialer Anomie gesehen werden. In der Sprache des social engineering kommt es auf die Elite an, welche Art von Gesellschaft aus dieser noch im Fluss befindlichen Gemeinschaft entstehen wird: eine moderne, offene und tolerante oder eine geschlossene, abergläubische und xenophobe.

 

Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann

Der Artikel erschien zuerst im Magazin New Eastern Europe (Nr. 5/2017)

Maxim Rust

Maxim Rust

Maxim Rust - belarussischer Politologe, Doktor der Politikwissenschaften. Sein Forschungsschwerpunkt konzentriert sich auf politische Eliten und Transformationsprozesse im postsowjetischen Raum.

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