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Stalinismus ohne Todesstrafe

Die seit den Wahlen von 2020 andauernden Repressionen und die russische Invasion der Ukraine haben aus Belarus etwas in der Art eins größeren Abchasiens gemacht, auch wenn das Land international anerkannt ist. Minsk besitzt die Attribute eines souveränen Staates und hat in der Innenpolitik freie Hand, befindet sich aber außen‑ und verteidigungspolitisch völlig unter der Kontrolle Wladimir Putins. Aljaksandr Lukaschenkas sich merklich verschlechternder Gesundheitszustand wirkt sich ebenfalls nicht gerade zum Vorteil seiner politischen Entscheidungsfreiheit aus.

Die Enthüllung, der seit 1994 regierende belarusische Präsident sei in kritischem Zustand ins Krankenhaus eingeliefert worden, erreichte uns zu Sommeranfang, oder eher im Sommerloch, wenn man die Glaubwürdigkeit dieser Nachricht bedenkt. Die Meldung stammte von Waleryj Zepkala, dem umstrittenen Oppositionellen, bekannt für seinen hemmungslosen Drang zur Öffentlichkeit und sein lautstarkes Lamentieren, er sei zu wenig in den belarusischen Medien präsent. Folglich stürzten sich die Medien im Ausland auf die Nachricht von Lukaschenkas Erkrankung, während die belarusischen Journalisten Zepkala zu gut kannten, um ihm aufs Wort zu glauben. Zumal er schon im ersten Satz den Vorbehalt geäußert hatte, seine Informationen bedürften „weiterer Verifizierung“, was ja wohl auf einen Euphemismus für ein vollkommen unbestätigtes Gerücht hinweist. So empfing Lukaschenka wenige Tage nach seinem jeden Augenblick zu erwartendem Tod die Leiterin der Zentralbank Russlands, Elwira Nabiullina, und Zapkala musste einräumen, der Diktator sei zwar noch am Leben, aber seine Tage seien sicher gezählt. Das ist nichts Neues; das russische Internet hat Lukaschenka bereits viele Male für tot erklärt.

Vielleicht gibt es aber doch ein Körnchen Wahrheit in dieser Geschichte; denn Lukaschenkas Gesundheitszustand verschlechtert sich unübersehbar. Nächstes Jahr wird er siebzig. Immer öfter ist er für mehrere Tage nicht öffentlich zu sehen, und wenn er dann wieder auftaucht, hat er zuweilen Probleme beim Gehen, hat Schweißausbrüche, spricht undeutlich, und an den Armen trägt er Bandagen, die einen Infusionskatheter verbergen, so wie zuletzt während der Feiern zum Tag des Sieges am 9. Mai in Moskau. In autoritären Staaten besteht stets die größte Gefahr für das Weiterbestehen des Regimes im Augenblick der Machtübergabe. Diktatoren haben die Wahl: Entweder sie herrschen bis zum bitteren Ende, oder sie bringen eine kontrollierte Veränderung auf den Weg. Erstere Variante ist riskant, weil das Regime gemeinsam mit dem Diktator untergehen kann. Dessen Entourage muss schließlich die Anordnungen des Führers, ist dieser erst verstorben, in Bezug auf seine Nachfolge nicht respektieren. Gewöhnlich trägt jeder zweite Minister schon den Feldherrenstab im Tornister. Die zweitere Variante ist allerdings auch nicht völlig gefahrlos. Was Nursultan Nasarbajew, dem kasachischen Präsidenten, geschah, ist eine Mahnung, dass selbst die kontrollierte Machtübergabe an einen uneingeschränkt loyalen Anhänger darauf hinauslaufen kann, dass der Expräsident in demütigender Weise jeden Einfluss verliert.

In Belarus kommt der russische Faktor noch hinzu. In Kasachstan halfen die Russen 2022 Qassym-Schomart Toqajew, die Rebellion niederzuschlagen, die dem neuen Präsidenten anschließend als Vorwand diente, um Nasarbajews Leute endgültig aus allen Machtpositionen zu entfernen. In dem viel weniger selbständigen Belarus wird Moskau sicherlich selbst den neuen Präsidenten aussuchen wollen, sobald der alte Präsident seinen Auftrag nicht länger erfüllen kann. Ein geeigneter Kandidat ließe sich in der weit definierten Gruppe der Siloviki, der Männer in Machtstellungen, finden. In Frage kämen gewiss der in Moskau gut angesehene Ministerpräsident Raman Haloutschanka und der Sekretär des Sicherheitsrats Aljaksandr Walfowitsch; allerdings müsste im Falle des Letzteren die Verfassungsvorschrift ignoriert werden, dass der Präsident nicht außerhalb der Grenzen von Belarus geboren sein darf (Walfowitsch kam in Kasan in der Autonomen Republik Tatarstan, Russische Föderation, zur Welt). Nicht ganz chancenlos ist der über eine gewisse Autorität in den Geheimdiensten verfügende älteste Sohn des Diktators, Wiktar Lukaschenka. Sollte der Vater das letzte Wort in der Nachfolgefrage haben, sind die Chancen Lukaschenka Juniors noch größer, auch wenn diesem das Charisma des amtierenden Staatsoberhaupts völlig abgeht. Der Autokrat hat vielmals zu verstehen gegeben, er würde vorziehen, seinen jüngsten Sohn Mikalaj zu salben, aber damit dieser Achtzehnjährige an die Macht gelangen könnte, müssten schon noch ein paar Jährchen ins Land ziehen.

Unterdessen hat die brutale Niederschlagung der Proteste von 2020 Lukaschenka um die letzten Reste seiner außenpolitischen Selbständigkeit gebracht. Die belarusische Armee war ohnehin schon in vieler Hinsicht nur noch eine Abteilung der russischen Streitkräfte (im Falle eines Angriffs unterstellen sich die Belarusen vertragsgemäß schlicht dem russischen Oberkommando). Nunmehr steht das Land unter völliger Kontrolle des Kremls. Dieser lässt sich seine Unterstützung des Regimes gegen die Proteste nach den Wahlen teuer bezahlen. Ohne diese Unterstützung wären die Demonstranten womöglich noch viel kühner aufgetreten und hätten Lukaschenka tatsächlich stürzen können. Doch so kam es nicht. Nach nichtmals zwei Jahren setzte Putin die Bedingungen seines ungeschriebenen Pakts mit Lukaschenka um und benutzte das belarusische Staatsgebiet zum Angriff auf die Ukraine über Land und aus der Luft. Lukaschenka hatte in der Sache nichts mitzubestimmen. Und jetzt wird eine Rechtsgrundlage dafür hergestellt, die belarusischen Streitkräfte im fortdauernden Krieg einzusetzen. Nicht unbedingt auf ukrainischem Staatsgebiet; der Kreml könnte die Belarusen ebenso gut gegen die Diversanten in der Oblast Belgorod einsetzen, anstatt eigene Truppen von der Ukrainefront abzuziehen.

Wie sehr auch die belarusische Propaganda Lukaschenka als Garanten von Unabhängigkeit und Frieden auf das Podest stellte, ist die Bilanz seiner 29-jährigen Herrschaft doch verheerend. Kein anderes Land, nicht ausgenommen theoretisch viel schwächere Staaten wie Kirgistan und Tadschikistan, ist dermaßen abhängig von Russland. Lukaschenka mag sich winden wie ein Aal – und sei es nur, um seine persönlichen Machtbefugnisse zu wahren, keineswegs die Unabhängigkeit seines Landes –, doch mit jedem Jahr schwindet sein Handlungsspielraum. Russland hat Belarus nur deswegen nicht förmlich annektiert, weil sich das nicht bezahlt macht. Denn es ist gut, einen Verbündeten an der Seite zu haben, der in der Generalversammlung der UNO zuverlässig abstimmt, der bei der Umgehung von Sanktionen zu Diensten steht oder bei Waffenlieferungen auf unlauteren Wegen und in dessen Renten‑ und Pensionskassen man andererseits nichts einzahlen muss. Doch sollten sich die politischen Geschicke drehen und der Kreml, sei es in ruhigem Kalkül oder in panischer Flucht nach vorn, eine Entscheidung treffen, könnte Minsk ein Problem haben, Moskau seinen Wunsch zu versagen.

Bestes Beispiel sind die taktischen Nuklearwaffen, die nach Ankündigung Russlands bereits im Juli in Belarus eintreffen sollen. Lukaschenka kann so oft er will behaupten, er habe selbst darum gebeten, ja Russlands Zustimmung buchstäblich erzwungen. Die Wahrheit ist eine andere. Schon ein Jahrzehnt lang hat sich Russland um die Einwilligung bemüht, in Belarus voll funktionsfähige Militärbasen aufzubauen. Lukaschenka ist dem ausgewichen, solange er konnte. Putin wird doch schließlich Nuklearwaffen nicht in fremde Hände abgeben. Und wenn die Russen schon mal irgendwo einmarschieren, dann wird man sie so schnell nicht mehr los. So kann man sich unschwer denken, dass beim nächsten Volksaufstand, etwa bei Unruhen zum Zeitpunkt der Machtübergabe, die Russen „zum Schutz der Stabilität und zur Gewährleistung der Sicherheit des Nuklearwaffenarsenals“ bewaffnet intervenieren würden. Auch die Söldner der Wagner-Gruppe könnten ein weiteres Element zur Absicherung russischer Interessen sein, die nach Prigoschins Aufstand aus Russland vertrieben wurden, wobei es derzeit unklar bleibt, wie viele von ihnen letztlich in Belarus ankommen werden und ob ihr Anführer mit an Bord sein wird.

Moskau hat Minsk in eine Falle getrieben, aus der Lukaschenka nicht mehr herauskommt. Aber solange es zumindest theoretisch noch nicht zu spät war, gab es zudem ideologische Hindernisse. Lukaschenka ist und bleibt ein russifizierter und sowjetisierter Mann, ein „Russe mit Gütezeichen“, wie er seinen Landsleuten einst bekundete. Er sah den Westen nie als Gegengewicht gegen Russland, sondern immer nur als Instrument, mit dessen Hilfe sich bessere Bedingungen im Verhältnis zu Russland aushandeln ließen.

Seit 2020 ist Belarus ein gewaltsam pazifiziertes, unter dem Stiefel gehaltenes Land mit einigen Tausend politischen Gefangenen und einigen Hunderttausend politischen Emigranten. Das erinnert stark an stalinistische Zeiten, mit dem Unterschied, dass es keine massenweisen Erschießungen gibt, und statt dem sibirischen GULag werden Lager in der Gegend von Mohylew gemutmaßt. Ob medial oder zivilgesellschaftlich – unabhängige Aktivitäten kommen nicht in Frage. Den regierungsunabhängigen Organisationen ist das Wasser abgegraben, und die bislang noch überlebenden wie der in der Stadt Homel ansässige Service Gomel Media zählen eher die Wochen bis zu ihrer Schließung, als Zukunftspläne zu machen. Die um Swjatlana Zichanouskaja gescharte Opposition verliert an Schwung und versinkt in internen Streitigkeiten, und auf die Grundsatzfrage, wie Lukaschenka zu stürzen wäre, ohne die Unabhängigkeit des Landes zu gefährden, hat niemand eine überzeugende Antwort. Die Oppositionsführer suchten einst den Segen im Westen, aber jetzt pilgern sie immer öfter nach Kiew, denn Hoffnungen auf einen belarusischen Frühling setzen sie einzig auf den Sieg der Ukraine. Selbst dann wird sich ein Fenster der Möglichkeiten nur öffnen, wenn Russland in inneren Wirren versinkt und auf längere Zeit mit sich selbst beschäftigt ist. Das ist ein wenig zu viel der glücklichen Umstände, um sich seinen Optimismus zu bewahren.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Michał Potocki

Michał Potocki

Michał Potocki ist Chef des Kommentarteils des „Dziennik Gazeta Prawna“ und Koautor vierer Bücher über die Ukraine und Belarus von heute.

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