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Eisbrecherin

Mit Ruslan Schoschyn, Autor der Biografie von Swetlana Tichanowskaja sprach Dorota Danielewicz

 

Dorota Danielewicz: Was hat Sie dazu bewogen, eine Biografie von Swetlana Tichanowskaja zu schreiben?

Ruslan Schoschyn: Mit Swetlana Tichanowskaja habe ich einige Interviews geführt: Von dem Moment an, als sie 2020 nach der Verhaftung ihres Ehemannes beschloss, an seiner Stelle als Präsidentschaftskandidatin in Belarus anzutreten, bis zur ihrer erzwungenen Ausreise nach Vilnius, und dem Besuch in Warschau. Ausgerechnet in Warschau habe ich festgestellt, dass ich es nun mit einer anderen Swetlana Tichanowskaja zu tun habe, sie hatte sich sehr verändert. Mir ist ihre enorme innere und äußere Verwandlung aufgefallen. Schon diese Veränderungen sind es wert, sie zu beschreiben. Eine Person, die außerhalb nicht nur der politischen Szene, sondern des ganzen gesellschaftlichen Geschehens stand, eine vollkommen private Person, weil sie nicht mal in den sozialen Medien funktionierte, betritt eine ihr völlig fremde Welt. Zudem wurde ich auf ihr Umfeld aufmerksam. Es sind Menschen, mit denen sie schon in Minsk zusammengearbeitet hat, und die größtenteils mit ihr zusammen emigriert sind. Deswegen konnte ich diese Leute treffen und ihre Beobachtungen dokumentieren. Ich war mir dessen bewusst, wie einzigartig diese Wissensquellen waren, doch musste ich schnell handeln. Nach einem Jahr kann man sich noch gut an alles erinnern, nach zwei Jahren verschwindet ein Teil des Wissens, und nach drei Jahren fängt man an, Erlebnisse auszuschmücken und sich Neues auszudenken. 2020 kam es in Belarus zu dramatischen Ereignissen, zu Zäsuren, nicht alleine im Leben von Tichanowskaja, aber genauso bei jedem meiner Gesprächspartner und jeder Gesprächspartnerin.

Wir leben in Zeiten, in denen wir uns intensiver mit den Geschichten der Frauen befassen, mit deren Sichtweise. Uns interessieren ebenfalls die Verwandlungsprozesse bei Frauen, wie sie den Schritt aus der Privatsphäre in die Öffentlichkeit wagen, und hier ist die Geschichte von Tichanowskaja beispielhaft. Sie sind ein erfahrener Journalist, ein Mann, trotzdem konnten Sie Ihrer Heldin nachempfinden und sich in ihre Lage hineinversetzen.

Rusłan Szoszyn „Lodołamaczka. Swiatłana Cichanouska”, Wydawnictwo Literackie, Kraków 2022.

Dies war eine große Herausforderung für mich. Mit feministischen Kreisen habe ich nichts zu tun. Ich versuche einfach, aufmerksam zu sein, die Welt mit offenen Augen zu betrachten. Vor der Buchpremiere fragte mich einer der bekannten belarusischen Journalisten, ob das überhaupt von Bedeutung sei, dass es dabei um die Verwandlung einer Frau gehe. Ich antwortete ihm, er sollte nicht blind sein gegenüber den Ereignissen in Minsk 2020. Es war kein männliches Abenteuer, keine Revolution der Männer. So hatte es angefangen, mit der Unterstützung für den Präsidentschaftskandidaten Viktor Barbariko, Walerij Zepkalo und Sergej Tichanowskij, doch später änderte sich alles und die Hauptrollen übernahmen die Frauen. Möglich war der kollektive Widerstand in vielen Städten und in der Provinz, sogar dort, wo keiner bis jetzt reinschaute, nur dank des weiblichen Antlitzes in der Politik. Drei Frauen, Veronika Zepkalo, Maria Kolesnikowa und Swetlana Tichanowskaja an der Spitze, haben ein so großes Vertrauen der Belarusen gewonnen, wie es vorher noch nie ein Mann geschafft hat. In Belarus war die Opposition bis dahin männlich. Natürlich engagierten sich auch die Frauen, aber niemals in diesem Maße. Plötzlich tauchte ein Game changer auf, es passierte etwas, was die Spielregeln änderte und was sich nicht rückgängig machen ließ. Eine Frau hält Einzug in die Politik und beginnt, diese unwiederbringlich zu bestimen. Und gerade dieser entscheidende Moment wurde von vielen belarusischen Journalisten und Kommentatoren verneint oder als unbedeutend abgetan. Es wurde geschrieben, das weibliche Antlitz dieser Revolution sei zwar wichtig, jedoch nicht ausschlaggebend. Ich wiederum bin der Meinung, es war von größter Bedeutung, da die Belarusen keine sprechenden weißen Köpfe, Professoren oder professionelle Aktivisten sahen, sondern jemanden, der ehrlich ist, Unterstützung braucht und authentisch ist in dem, was er sagt. Als sich Swetlana Tichanowskaja mit Tränen in den Augen an ihre Landsleute wandte, weil ihr angedroht wurde, ihr die Kinder wegzunehmen, berührte sie alle Menschen. Keine andere Botschaft würde die Herzen von Hunderttausenden Belarusen derart berühren. Ein Denkmuster wurde aufgebrochen. Viele Menschen verdrängten die Realität und glaubten, die Diktatur sei gar nicht so schlecht. Allerdings stellte sich heraus, dass sie einer Frau drohen konnte, ihr die Kinder wegzunehmen. Und das war von entscheidender Bedeutung. In der belarusischen patriarchalen Gesellschaft versuchten sogar Oppositionelle diesen Aspekt zu übersehen oder ihn als zweitrangig zu betrachten. Oft wurde gesagt, die ganze Kraft, die Macht sei in den Händen der Männer, die im Gefängnis saßen.

Kommen wir auf die Tichanowskaja zurück. Wie oft haben Sie sie getroffen?

Das erste Gespräch fand statt, nachdem sie ihre Präsidentschaftskandidatur anstelle von ihrem Mann bekannt gab und die Welt von ihr erfuhr. Ich rief sie damals an; sie war sehr überrascht, dass sie ein polnischer Journalist kontaktiert. Ich spürte, wie wenig sie bis dahin mit den Medien zu tun hatte, sie wusste nicht ganz, wie sie damit umgehen sollte. Ich führte einige Interviews mit ihr, auch gleich nach ihrer Ausweisung aus Belarus. Sie kam dann direkt nach Warschau und hier hatte ich die Möglichkeit, sie persönlich zu treffen. Ich sah tausende Belarusen, die ihre Heimat verloren hatten und sich in Emigration befanden, ich sah, wie sie Tichanowskaja weinend begrüßten, wahrlich gerührt. Das fehlt in der Politik. Um an dem Buch weiterzuschreiben, fuhr ich nach Vilnius, wo ich sehen wollte, wie ihr Kreis von innen ausschaut, mit wem sie jetzt verkehrte. Diese Gespräche nahm ich auf, dennoch wurden im Nachhinein nicht alle veröffentlicht. Trotzdem waren die Unterlagen doppelt wichtig und nützlich, um die Biografie zu schreiben.

Wie sieht gegenwärtig ein Tag im Leben von Swetlana Tichanowskaja? Hat sie einen vollen Terminplan?

Ich wusste, sie hat kein einfaches Leben, bloß war es mir nicht bewusst, wie schwierig es ist, wie anstrengend, sowohl psychisch als auch körperlich. Wenn das Interview nur etwas länger dauerte, wurden wir dringend gebeten, die Zeit nicht zu überschreiten. In den letzten fünf Minuten erzählte sie alles, was ich hören wollte, was mir am meisten brachte. Swetlana Tichanowskaja hat einen Kalender, der von ihren Mitarbeitenden organisiert wird. Die Termine werden auf ein Jahr im Voraus eingetragen. Darüber hinaus bekommt das Team um Tichanowskaja Einladungen aus der ganzen Welt. Die Buchvorstellung etwa mussten wir mit einem großen zeitlichen Vorlauf planen, damit sie persönlich daran teilnehmen konnte. Bei Swetlana ist jeder Tag so verplant, dass es keine Pausen gibt, die Zeit wird voll genutzt. Diese Arbeitsweise wäre nicht möglich, wenn sie es nicht hinnehmen würde. Es scheint mir, als ob sie tief in ihre Aktivitäten eintauche, damit ihr niemand vorwerfen könne, sie ruhe sich auf ihren Lorbeeren aus und tue nicht mehr viel. Die Lukaschenka-Propagandisten behaupten, sie sei eine politische Touristin, die in teuren Hotels übernachte und ansonsten nicht viel tue, während ihr Ehemann im Gefängnis sitzt.

Sie haben mit vielen Personen gesprochen, die Swetlana Tichanowskaja von früher oder heute kennen. Haben Sie in den Gesprächen unterschiedliche Darstellungen der Heldin des Buches „Eisbrecherin“ wahrgenommen, oder waren sie einer Meinung?

Meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen haben Folgendes wiederholt: Belarus müsse ein freies, demokratisches, unabhängiges Land werden, und die Diktatur Lukaschenkas solle möglichst schnell stürzen. Des Weiteren waren sie sich darüber einig, was 2020 passierte: Von da an begannen die endgültigen Veränderungen, die mit Gewalt nicht aufzuhalten seien, daher würde die Diktatur nicht ewig währen. Einerseits sprach ich mit Menschen, welche die Protestbewegung mitgestaltet hatten, manche von ihnen äußerten sich kritisch, manche nicht. Dessen ungeachtet haben sie Tichanowskaja begleitet und haben jedes Recht, ehrlich und offen darüber zu sprechen. Andererseits führte ich Gespräche mit Leuten, die heute eng mit ihr zusammenarbeiten, und diese sehen ihre Aufopferung, ihr Engagement und ihre Beharrlichkeit. Aus diesem Grund trägt das Buch den Titel „Eisbrecherin“; Swetlana Tichanowskaja strebt Schritt für Schritt nach ihren Träumen. Sie glaubt, sie würde nach Belarus zurückkehren, und dann wird ihr Land anders, wird frei sein. In ihren Augen sieht man die große Hoffnung und den Glauben daran, dass all dies nicht umsonst gewesen sei und sie ein Happyend erleben würde.

Eine Reportage hat zwei Hauptaufgaben: Fakten sammeln und sie später zu einer Erzählung zusammenfügen. Sie erzählen von einer menschlichen Transformation. Welche Charaktereigenschaften haben Swetlana Tichanowskaja geholfen, diese signifikante Verwandlung hinter sich zu bringen? Meines Erachtens eignet sich ihre Geschichte sogar als Drehbuch für einen Hollywood-Film.

Meiner Ansicht nach liegt der Schlüssel für ihre Standhaftigkeit und Kraft in ihrem Kampf um die Gesundheit ihres älteren Sohnes, der Hörprobleme hatte. Die Diktatur hat Tichanowskaja als eine Frau ohne Erfahrung, ohne Kenntnisse, ohne irgendwas dargestellt. Man übersah dabei, was sie hinter sich hatte: nämlich einen harten Kampf um die Gesundheit ihres Kindes. Diejenigen, welche mit solchen Situationen zu tun haben, wissen um die Aufopferung einer Frau, die alles auf sich nimmt und kämpft – privat, nicht öffentlich. Und so antwortete sie, als sie nach einer Zukunftsvision gefragt wurde, nach einem Licht am Ende des Tunnels: Während ich um mein Kind kämpfte, wusste ich nicht, wann das endet, ich hatte keine Ahnung, wann wir gewinnen werden, ob in einem oder in zwei Jahren. Dann bekam der Junge ein Implantat und konnte hören, doch es war ein langer Kampf, der nicht einfach war, diese Phase in ihrem Leben war wirklich schwierig. Mit der gleichen Entschlossenheit kämpft sie gegen die Diktatur. Das ist kein Zufall. Jetzt will sie die kranke Macht heilen, das kranke Land. Die Diktatur sitzt schon zu lange in den Köpfen der Menschen, sie ist wie eine Krankheit. Man kann nicht davon ausgehen, alle Belarusen wollen die Freiheit. Die einen bestimmt, die anderen haben sich an die Situation gewöhnt, noch andere sind dem Stockholm-Syndrom verfallen und glauben, das Ganze sei nicht so schlimm. Demzufolge hat sie eine schwere Aufgabe zu bewältigen. Abends ist sie erschöpft, aber sie weiß, wenn sie am nächsten Morgen aufsteht, wird sie schrittweise diesen Marathon zur Freiheit absolvieren. Ich denke, auch die Kinder unterstützen und ermutigen sie. Obwohl die Familie getrennt ist, die Kinder weit von ihrem Vater entfernt sind, haben sie in ihrem Zimmer eine ganze ihm gewidmete Wand. Hier hängen ihre Zeichnungen für den Vater, Postkarten, die sie vom Vater bekommen. Das motiviert sie, weil der Untergang der Diktatur die Befreiung von Sergej Tichanowskij bedeuten würde. Er gibt nicht auf, er wurde nicht gezwungen, vor der Kamera des belarusischen Fernsehens seine Frau zu kritisieren. Zugegeben, er wird im Gefängnis gequält, gleichwohl will Lukaschenka ihn am Leben lassen. In der jetzigen Situation, wo Krieg herrscht, sieht man, welch wirksames Druckmittel er sich vorbehält. Tichanowskij ist eine sehr wertvolle Geisel. Lukaschenka wiegt die Manschen ab, und nach seinen Maßstäben wiegt Tichanowskij am meisten, da er der Ehemann seiner größten Rivalin ist und dazu vom Volk gewählten Anführerin. Einerseits hat sie das moralische Recht, ihn zu ersetzen. Lukaschenka weiß, Tichanowskij dürfe nichts Schlimmes passieren, weil dies seine potentielle Flucht aus dem Land unmöglich machen würde. Andererseits stärkt Sergejs Kampf im Gefängnis die Überzeugung seiner Frau, auf dem richtigen Weg zu sein.


Ruslan Schoschyn, Redakteur des Auslandsressorts der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ und fester Autor der Wochenzeitung „Plus Minus”, regelmäßig veröffentlicht er Artikel, Reportagen und Interviews zu sozialen, wirtschaftlichen und politischen Themen aus Belarus, der Ukraine, Russland, dem Kaukasus und aus den mittelasiatischen Staaten. Schoschyn kommt aus Belarus, im Alter von 18 Jahren musste er das Land verlassen, da er sich in der Oppositionsbewegung gegen das Lukaschenka-Regime engagierte.

 

 


Dorota Danielewicz, Schriftstellerin, seit ihrem 16. Lebensjahr lebt sie in Berlin, fast 20 Jahre lang arbeitete sie als Radiojournalistin für den RBB und schrieb für die deutschsprachige Presse. 2014 erschien ihr erstes Buch „Auf der Suche nach der Seele Berlins“ (Europa Verlag, 2014).

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