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Die kaputte Nachbarschaft

Diese Situation ist eine Premiere für die deutsch-polnischen Regierungskontakte. Was polnische Politiker über den westlichen Nachbarn im Ausland sagen, ist etwas ganz anderes, als was sie den Leuten im Land selbst sagen. In den letzten Tagen haben sich die Vorwürfe gegen Berlin verstärkt. Dies schien schon darauf hinauszulaufen, dass die regelmäßigen Regierungskonsultationen schlicht abgesagt würden. Das ist jedoch nicht geschehen. Die polemische Rhetorik Warschaus diente offensichtlich vor allem innenpolitischen Zwecken. Das dürftige Ergebnis der Gespräche zeigt aber einmal mehr, wie schlecht es um die Beziehungen steht. Von den großen, noch vor wenigen Jahren verfolgten Gemeinschaftsprojekten ist nicht viel übriggeblieben, augenscheinlich haben die Nachbarländer einander nicht mehr viel anzubieten. Ein erstaunlicher Abschluss eines Vierteljahrhunderts sehr guter Kontakte und einer historischen Annäherung, wie die Beziehungen seit 1989 noch bis vor kurzem beschrieben wurden. Wie wird diese kaputte Nachbarschaft in Zukunft aussehen?

 

Nachbarschaft

Es mag einem übertrieben vorkommen, die Nachbarschaft als „kaputt“ zu bezeichnen. Doch ist das wirklich eine Übertreibung? Was ist bei heutiger Lage der Dinge die Folge von Faktoren, welche die polnischen Einwirkungsmöglichkeiten übersteigen, und was Folge der polnischen uni‑ oder bilateralen Politik? Es fällt einem eine Karikatur von Andrzej Mleczko ein: Gott als hämischer Demiurg, der Polen zwischen Deutschland und Russland plaziert und das für einen guten Witz hält. Die geopolitische Situation Polens ist in der heutigen Welt jedoch nicht mehr dieselbe wie in vergangenen Jahrhunderten. Selbst wenn einige polnische Politiker dies gern so sehen und die polnische Außenpolitik darauf ausrichten würden.

 

Noch vor nicht so langer Zeit wollte es scheinen, dass dieser Fatalismus der Lage überwunden sei. Nach dem Umbruch von 1989 unterschrieben Polen und Deutschland Verträge, die in den anschließenden Jahrzehnten die bilateralen Beziehungen bestimmten. Deutschland, und dies kann nicht häufig genug wiederholt werden, unterstützte aktiv Polens Bemühung um den Beitritt zu NATO und Europäischer Union. Natürlich im eigenen Interesse, aber auch im polnischen und europäischen. Zum Nutzen der eigenen Wirtschaftsbeziehungen war diese Politik für Berlin im Großen und Ganzen unerlässlich.

© istock/Tzogia Kappatou

 

Gewissermaßen ein Versuchslabor für die veränderte Rolle Polens sollten das 1991 begründete Weimarer Dreieck und die auf verschiedenen Ebenen stattfindende, engere Zusammenarbeit zwischen Warschau, Berlin und Paris sein, also eine geradezu demonstrative Westverschiebung Polens. Auch die Kontakte zwischen den Gesellschaften wurden intensiver. Die großen Animateure spielten dabei die Deutsch-Polnischen Gesellschaften, die Städtepartnerschaften, der Kultur‑ und Wissenschaftsaustausch usw.

 

Verankerung in Europa?

Der polnische Beitritt zur EU sollte eigentlich für immer die Verankerung des Landes in einem demokratischen, liberalen und wohlhabenden Europa garantieren. Polen konnte sich in Zusammenarbeit mit den EU-Ländern entwickeln und seine Beziehungen zu den Nachbarn, insbesondere zu Deutschland enger gestalten.

 

Warschau nutzte diese Chance bestens. In kurzer Zeit wurde es zu einem wichtigen Akteur, konnte über die Zukunft des Alten Kontinents (mit-)entscheiden und als Vermittler bei internationalen Konflikten auftreten, etwa im Falle der Ukraine. Selbstverständlich wurden nicht alle Ziele erreicht, nicht überall galt etwas, was Warschau zu sagen hatte. Aber ist das überhaupt möglich? Setzen etwa alle anderen Länder ihre politischen Programme und Pläne ohne jeden Abstrich um?

 

Insgesamt fiel die Bilanz für Polen positiv aus. Diese polnischen Erfolge waren dadurch möglich, das Innen‑ und Außenpolitik konsistent waren. Eine wichtige Rolle spielten dabei die persönlichen Kontakte polnischer und ausländischer Politiker (diesen Umstand hat mit Blick auf Deutschland unlängst der vormalige Außenminister Radosław Sikorski thematisiert). Das deutsch-polnische Verhältnis trat natürlich ein wenig in die zweite Reihe zurück, es wurde teilweise durch die multilateralen Beziehungen ersetzt, wie sie sich innerhalb der wechselnden Konstellationen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten entwickelten. Dennoch blieb Berlin ein wichtiger Bezugspunkt und Akteur einer Politik, an der auch Warschau beteiligt war.

 

Die Offensive des „guten Wechsels“

Doch Warschau verzichtete nach 2015 auf die Rolle des flexiblen Akteurs, der bei unterschiedlichsten europäischen Initiativen als möglicher Partner in Frage kam. Dies war nicht das Resultat von ständigen Misserfolgen und schwerer Krise, sondern eine Entscheidung der neuen polnischen Regierung. Was zuvor für wichtig erachtet und als Erfolg oder auch als durch den Nutzen aufgewogene Kosten eingeschätzt worden war, das wurde nunmehr als wenig nützlich, gar als schwerer Nachteil oder Demütigung hingestellt. In tatsachenwidriger Weise machte man sich daran, neue europäische Phantasmagorien zu entwickeln (so wurden etwa die alte Pläne für ein Intermarium unter polnischer Führung entstaubt), in offiziösen Erklärungen ging man so weit, die Leistungen der Europäischen Union und der gut zehn Jahre der polnischen EU-Mitgliedschaft in Frage zu stellen.

 

Man konnte den Eindruck gewinnen, die Regierungspartei habe nie aufgehört, Wahlkampf zu machen, bei dem sie besonders die euroskeptischen Wähler im Blick hatte, sondern darin steckengeblieben zu sein, um immer waghalsiger politischen Zündstoff aus Attacken auf die europäische Integration zu gewinnen. Nationale, ja nationalistische Rhetorik färbt fast alle offiziellen Äußerungen. Die unablässige Betonung der Würde Polens, die von anderen Ländern nicht ausreichend geachtet werde, wurde aus der Geschichte in die Gegenwart übertragen.

 

Die Parolen, „Polen aus den Ruinen“ wiederaufzubauen und „sich von den Knien“ zu erheben, sollten fortan die polnische Regierungspolitik ständig begleiten, wobei sie des öfteren ins Absurde abglitten und Polens Prestige erst wirklich beschädigten, so bei Konstellationen wie Polen gegen den Rest der EU-Mitglieder.

 

Unterdessen nahm die neue Regierung verschiedene Fach‑ und Beratungsinstitutionen im Sturm, und die Stiftungsräte, die über die Vergabe von Mitteln für deutsch-polnische Projekte entscheiden, wurden personell umbesetzt. Deutschlandfeindliches Gemurre und offene Animosität kamen geradewegs in Mode, was weniger von einem Gefühl des Mangels an Anerkennung und Wertschätzung durch den westlichen Nachbarn zeugte als vielmehr von tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplexen in Teilen der polnischen Politik und Wissenschaft.

 

Medienpropaganda

Diese weitreichenden und vorerst anscheinend unumkehrbaren Veränderungen waren von einer entsprechenden Propagandakampagne in den Medien begleitet. Rasch wurden die, wie wir irrtümlich annahmen, längst begrabenen Dämonen der Geschichte reaktiviert. Diese wurde zu einem Mittel der Tagespolitik; ein Beispiel war die Frage der Kriegsentschädigungen und ‑reparationen, die ausgesprochen instrumentell behandelt wurde, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, dies habe irgendeinen anderen als einen politischen Zweck. Um die staatlichen Einwirkungsmöglichkeiten noch zu erweitern und angeblichen historischen Manipulationen entgegenzuwirken, wurde das Gesetz zum Institut des Nationalen Gedächtnisses (IPN) novelliert, was in Israel und den USA berechtigten Widerspruch auslöste.

 

Immer wieder belegen Äußerungen aus dem Regierungslager, dass dieses Deutschland als geeigneten Prügelknaben sieht. Ein Beispiel dafür sind die bereits ans Absurde grenzenden jüngsten Behauptungen, Berlin beeinflusse die Ergebnisse der polnischen Regionalwahlen mittels seiner Medien. Folgsame Soldaten an dieser Propagandafront sind Leute, die schon seit Jahren für nichts anderes bekannt sind als ihre antideutschen Phobien. Kein Wort darüber, dass die auflagenstärkste Tageszeitung, eine populäre, kommentarjournalistische Wochenzeitung und das gern geschaute Fernsehen keine deutschen Eigentümer haben. Die Art und Weise, wie Angela Merkel von einigen Politikern und Publizisten behandelt wird, hat längst die Grenzen normaler Kritik überschritten.

 

Monolog statt Dialog

Vor noch nicht so langer Zeit hielten wir die deutsch-polnische Nachbarschaft für reif. In den vergangenen Jahren gab es Dutzende kleinerer und größerer Gemeinschaftsprojekte. Bereits die vorletzten Regierungskonsultationen ließen jedoch erkennen, dass davon nicht viel übrigbleiben würde. Ich erinnere daran, dass vor zwei Jahren in Berlin die beiden Regierungen lediglich beschlossen, das Projekt des deutsch-polnischen Schulgeschichtsbuchs weiterzuführen, das bereits seit 2006 (!) läuft, und eine Schule für Flüchtlinge aus Syrien zu bauen. Das Schulbuch ist da (bisher sind zwei Bände veröffentlicht), aber die Veränderungen in der polnischen Bildungspolitik lassen Zweifel aufkommen, ob es auch in weitem Umfang benutzt werden wird. Und ist die genannte Schule für Kinder, die Unterricht so dringend brauchen, gebaut worden?

 

Die jüngsten Konsultationen haben buchstäblich zu nichts geführt. Man plauschte miteinander, trank einen Kaffee und machte das Familienfoto. Wurde nur Unverbindliches heruntergeleiert? Wie mager das Ergebnis dieses Treffens gewesen sein muss, zeigt ein Eintrag auf der Internetseite des polnischen Ministerpräsidenten, der außer den üblichen Platitüden nichts enthält. Bei den Gesprächen wurde keine einzige der für beide Länder wichtigen Fragen angegangen, die man in naher Zukunft gemeinsam hätte lösen können. Nichts war von einer in den Ministerien erarbeiteten road map zu hören. Auch die öffentliche Erklärung der beiden Außenminister fiel vage aus. In der Diplomatie ist so etwas immer ein Symptom dafür, dass es um die Zukunft der Wechselbeziehungen nicht zum besten steht. Ist das jedoch zu verwundern? Polen kann sich beispielsweise hinter die Haltung Deutschlands in der Frage der Nordstream 2-Pipeline zurückziehen, Deutschland kann behaupten, das rechtsstaatliche Prinzipien verletzende Polen wolle gar keine Kooperation. Im Grunde ist die Lage doch für beide Seiten ganz bequem, weil sie keine konkreten Beschlüsse und Maßnahmen erfordert und noch dazu innenpolitisch instrumentalisiert werden kann; letzteres gilt allerdings eher für Polen.

 

Es ist kein Geheimnis, dass zu den bereits bestehenden, teils imaginären bilateralen Problemen rasch neue dazukommen. Vor einigen Tagen hat der Sejm einen neuen Ausschuss gebildet, der den deutsch-polnischen Vertrag überprüfen soll. Zu den Tagesordnungspunkten zählen der polnische Sprachunterricht in Deutschland und das Polnische Haus in Bochum. Diese beiden Fragen sollen das Gesamtergebnis der Abkommen und allgemein die deutsch-polnische Nachbarschaft in sich schließen? Vielleicht könnte ich den neuen Ausschuss dahin deuten, sich auf den 30. Jahrestag der Unterzeichnung der Verträge vorbereiten zu wollen, der in wenigen Jahren anliegt. Doch die Zusammensetzung des Ausschusses zeigt, dass es nicht darum geht.

 

Verantwortung

Die Beispiele des Reparationenausschusses und des Vertragsausschusses sind bezeichnend. Wie wäre anders zu erklären, dass diesen kein einziger Vertreter der Opposition angehört? Sind die deutsch-polnischen Beziehungen für diese nicht mehr wichtig? Gibt sie sich mit der Rolle des außenstehenden Kritikers zufrieden, der sich allenfalls einmal vor laufender Fernsehkamera oder in einem Tweet äußert? Oder zieht sie es vor, weiter tatenlos zuzusehen, wie die Anstrengungen tausender Menschen zunichtegemacht werden, die Beziehungen zu unserem westlichen Nachbarn aufrechtzuerhalten, in der Hoffnung, dies werde die Regierung noch stärker kompromittieren?

 

Diese Frage richtet sich auch an meine eigenen Kolleginnen und Kollegen. Haben wir uns nicht zu schnell damit abgefunden, wie sich die einseitig antideutsche Initiative des „guten Wechsels“ entfaltete?

 

Der eingangs erwähnte Andrzej Mleczko zeigte den Fatalismus, der aus der geopolitischen Situation Polens rührte, sich zwischen zwei mächtigen und dem Land übelwollenden, oft feindlichen Staaten zu liegen. Jenseits der Oder hat Polen jedoch zur Zeit keinen Feind, was nicht damit gleichzusetzen ist, dass dort ein gefügiger Partner zuhause ist, der auf immer vom Ballast der historischen Schuld niedergehalten wird.

 

Das käme uns wohl zupass, denn anscheinend wäre unsere Außenpolitik dann einfacher und würde den Wunsch befriedigen, in unseren eigenen Augen besser und edler zu sein. Die deutsch-polnischen Beziehungen der Gegenwart sind jetzt erst einem wirklichen Härtetest ausgesetzt. Es wird sich erweisen, ob sie erwachsen sind oder schon kaputt, noch bevor sie das mündige Alter haben erreichen können. Der Test besteht jedoch nicht nur darin, dass wir die Deutschen und ihre Geduld auf die Probe stellen, sondern dass auch unsere Fähigkeit geprüft wird, in Zusammenarbeit mit unseren Partnern eine für unser Land positive Außenpolitik zu betreiben. Eine Prüfung ist jedoch schwer zu bestehen, wenn nicht bekannt ist, wozu sie gut ist und was danach kommen soll. Auf einen warmen Regen an Reparationszahlungen sollten wir uns nämlich nicht verlassen…

 

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz

Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

2 Gedanken zu „Die kaputte Nachbarschaft“

  1. Ich wage gar nicht, mir vorzustellen, wie die weltweite Reaktion aussähe, wenn es in Deutschland auch nur annähernd nationalistische Aussagen gegenüber den Polen gäbe. Selbstverständlich ist es, dass in Deutschland nicht vergessen wird, was in der Zeit zwischen 1939 und 1945 den Polen angetan wurde. Glücklicherweise hat dann die erste frei gewählte polnische Regierung mit der Regierung des vereinigten Deutschlands ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis geschaffen. Es wäre eine Tragik ohnegleichen, wenn diese friedliche und auf vielen Gebieten auch erfolgreiche Nachbarschaft, durch Leute zerstört wird, deren Denken auf das Gewesene ausgerichtet ist. Es ist Aufgabe die Zukunft zu gestalten und,ohne die Vergangenheit zu vergessen, Freundschaft und Zusammenhalt zu begründen. Polen gehört zu Europa und hat nur in diesem auch eine erfolgreiche und friedliche Zukunft.

  2. Ein wunderbarer Beitrag, der ahnen lässt, was Deutschen und Polen durch politische Fahrlässigkeiten verloren gehen kann. Wir dürfen in der Mitte Europas keine neue Entfremdung zulassen.

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