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Alles Umsonst?

Ein kritischer Blick auf Ostpreußen in der Literatur und Popkultur der Gegenwart

Niemand interessiert sich mehr für Königsberg. Zumindest in Deutschland nicht. Jemand wie ich, der in seiner Arbeit viel über Familiengeschichte schreibt, Geschichte, die unwiderruflich mit dem Land verbunden ist, aus dem meine Familie stammt, hat sicher ein sehr klares Bild von Ostpreußen vor 1945; historisch, politisch und kulturell. Ich frage mich aber oft: Welche Bedeutung hat der Begriff „Ostpreußen“ in der Popkultur und der weiteren öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland heute?

Ostpreußen in Kunst und Popkultur
Blick auf Königsberg, die frühere Hauptstadt Ostpreußens, seit 1946 Kaliningrad.

Ostpreußen wird von der zeitgenössischen deutschen Kunst und Kultur außer Acht gelassen. Auch gibt es keine unbeschwerte (pop-)kulturelle Auseinandersetzung mit dem Begriff selbst, denn für viele deutsche Künstler ist es sicher ein altmodisches Thema, das nach preußischen Junkern und Nationalsozialisten müffelt. Es scheint fast so, als ob eine unbeschwerte künstlerischer Herangehensweise an das Land und seinen kulturellen Einfluss durch 75 Jahre Fahnenschwingen und das Singen des Ostpreußenliedes unmöglich gemacht wurde. Der einzige Bereich, in dem sich Ostpreußen noch im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland hält, ist die Kulinarik – gemeint sind natürlich die berühmten Königsberger Klopse und der Tilsiter Käse.

Ein Blick auf deutsche Bücher, Filme und Musik, die das Thema in den letzten 10 bis 15 Jahren behandelten, genügt, um zu erkennen, dass Ostpreußen keinen Einzug in die deutsche Gegenwartskultur gefunden hat: Die Mehrheit sind entweder Sachbücher wie die von Historiker Andreas Kossert oder Romane wie Walter Kempowskis „Alles Umsonst“, die Werke von Arno Surminski oder Klaus-Jürgen Liedtkes „Nachkrieg“ – alles Werke von Männern, die entweder in Ostpreußen geboren wurden oder in direktem Bezug zum Land stehen. Es gibt eine Handvoll Fernseh- und Dokumentarfilme, die sich hauptsächlich mit den Erlebnissen der Flucht und Vertreibung von 1945 befassen, und seit diesem Jahr die „Masuren-Krimis“ in der ARD; aber für mich fühlen sich diese Produktionen immer altbacken und abgestanden an. Sie konzentrieren sich entweder nur auf die deutsche Tragödie im Winter 1944/45 oder Ostpreußen als ländliche Idylle, als ein Sehnsuchtsort in weiter Ferne. Was die Musik angeht, sieht es besonders düster aus: Zwei Klicks führen von der YouTube-Suche sofort zu Webseiten von Liedermachern der Identitären Bewegung.

Es ist eine Tatsache, dass Ostpreußen als politische Einheit für immer verschwunden ist. Die Orte meiner Familiengeschichte sind heute polnische Orte mit polnischen Namen und einer gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte. Wie viele öffentliche und feuilletonistische Diskussionen der letzten Jahre zeigen, tun wir Deutsche uns schwer mit der Akzeptanz von multiplen Identitäten und der Definition von „Heimat“. Das ist ein Hauptproblem des Umgangs mit der kulturellen Bedeutung Ostpreußens heute: Sämtliches darüber produzierte deutschsprachige Material kann nur auf etwas verweisen, das auf immer vor 1945 eingefroren ist. Alle wissenschaftlichen Leistungen der Alumni der Albertina, alle Gedichte, Lieder und Romane, die über die Landschaft und Menschen hier geschrieben wurden, sind – aus der Sicht des Mainstreams – veraltet. Ein anderes Problem ist die Vorstellung, das Land sei „verloren“, für immer verschwunden. Auch zeitgenössische Schriftsteller wie etwa Klaus-Jürgen Liedtkes, bedient dieses Klischee in „Nachkrieg“ bis zu einem gewissen Punkt. Aber für jemanden wie mich, ein Enkelkind ohne Familienbezug zu ostpreußischer Folklore, ist das schwer zu ergründen. Das Land ist nicht verschwunden: Ich kann dorthin gehen und es mir ansehen. Teile meiner Familie wohnen noch immer dort, derselbe See, in dem meine Großmutter immer schwimmen ging, wird vom örtlichen Anglerverband gepflegt, und in einem überwiegend landwirtschaftlich und ländlich geprägten Gebiet wie Ermland-Masuren sind die Orientierungspunkte fast immer noch dieselben wie vor 100 Jahren: Kirchtürme und Burgmauern aus rotem Backstein.

All diese Aspekte werden interessanterweise von den polnischen oder russischen Einwohnern der Region nicht außer Acht gelassen. Vielleicht ist es die direkte, tägliche Auseinandersetzung mit den deutschen „Resten“, die Ablehnung des kommunistischen Versuchs entweder ganz von vorne anzufangen wie in Kaliningrad oder ein großes künstliches Kulturerbe zu schaffen wie im Fall von Ermland-Masuren, die die Menschen hier heute sich mit dem Land und der gemeinsamen Kultur auf eine Weise beschäftigen lässt, die den Deutschen seit langem verloren gegangen zu sein scheint. In der norddeutschen Stadt Lüneburg hat Ostpreußen, wie alle ehemaligen deutschen Ostprovinzen, ein eigenes Landesmuseum. Es wurde von 2014 bis 2018 komplett modernisiert und die Ausstellung bietet ein fast vollständiges Porträt des Landes wie es einst war. Besonders ostpreußischen Schriftstellern und Künstlern wie Siegfried Lenz, der Dichterin Agnes Miegel (eine lebenslange Anhängerin der Nationalsozialisten) oder Ernst Wiechert ist ein großer Teil der Ausstellung gewidmet. Die Worte der Künstler sind an den Wänden und Postern in diesem Bereich angebracht, ihre Bücher und andere Veröffentlichungen ausgestellt. Hier wird jedoch nur Deutsch gesprochen. Es gibt keine Erwähnung von polnischen oder litauischen Künstlern und Dichtern, die zur gleichen Zeit wie die deutschsprachigen Schriftsteller aktiv und erfolgreich waren. Die ermländische Dichterin Maria Zientara-Malewska oder der ermländische Komponist Feliks Nowowiejski werden nicht erwähnt.

Ich finde Maria Zientara-Malewska jedoch direkt neben anderen Schlüsselfiguren der Geschichte des Ermlands wie Johannes von Leysen oder Erich Mendelsohn im englischsprachigen Touristenstadtplan von Olsztyn 2.0, einer Gruppe junger Menschen aus Allenstein/Olsztyn, die sich kreativ für ihre Stadt engagieren. In Kaliningrad geben junge Urban Explorer Besuchern und Einheimischen inoffizielle Führungen in der Hoffnung, das deutsche architektonische Erbe angesichts von Großkapitalinvestoren am Leben zu erhalten, die vieles hier abreißen und mit Neubauten überkleistern wollen.

Eine kreative Auseinandersetzung mit Ostpreußen in der Gegenwart scheint zur Zeit nur polnischen oder mehrsprachigen Künstlern möglich: Der in Polen geborene Autor Artur Becker veröffentlichte 2019 mit „Drang nach Osten“ einen fantastischen Roman über die chaotischen Jahre in Ostpreußen unmittelbar nach 1945, der polnische Regisseur Wojciech Smarzowski porträtiert in seinem beeindruckenden Film „Róża“ („Rose“) aus dem Jahr 2011 die gleiche Zeit mit all ihren Schrecken für die polnische und die deutsche Bevölkerung, und die Künstlerin Eva Pohlke aus Allenstein/Olsztyn setzt sich in ihren Bildern und Skulpturen mit der deutsch-polnisch-jüdischen Geschichte der Stadt auseinander, genauso wie der Dichter Kazimierz Brakoniecki – und all das weit entfernt von einem verstaubtem Idyll. Erwähnt werden sollten auch Karolina Kuszyk, Autorin des Buches Poniemieckie (Ehemals Deutsch), die sich in ihrem Buch mit dem polnischen Umgang mit den deutschen „Resten“ auseinandersetzt, und  Filip Springer, der sich in seinem Buch „Kupferberg: der verschwundene Ort“ behutsam und zeitgemäß der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte des titelgebenden Ortes annähert – wenn auch in Niederschlesien.

Vielleicht können Königsberger Klopse und Tilsiter Käse weiterhin einen Beitrag zum Erhalt des Begriffs Ostpreußen in Deutschland leisten, aber die jüngere Generation, die Ostpreußen – oder Prusy Wschodnie – am Leben erhält, sind heute die jungen Polen und Russen, die sich respektvoll, auf spielerische Weise und ohne ideologische Einschränkungen mit ihrer lokalen Geschichte und Architektur auseinandersetzen.

Die ostpreußischen Erfahrungen und die Kultur des Landes sollte uns Deutschen eigentlich reichlich Material liefern, um wichtige Themen der Gegenwart wie Migration, Identität und Heimatverlust zu erörtern, und es uns ermöglichen, einen Zugang, insbesondere zu den polnischen Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung, zu erlangen.  Aber solange wir versuchen, diese Erfahrungen durch einen ausschließlich auf Deutschland ausgerichteten Fokus und nicht durch einen breiteren europäischen Kontext zu erfassen, werden alle zeitgenössischen deutschsprachigen Ansätze niemals ein breiteres Publikum erreichen oder Auswirkungen außerhalb bereits etablierter Zielgruppen haben. Wenn es jemals einen wilden Gonzo-Roman über Ostpreußen geben soll, sieht es im Moment so aus, als müssten Dorota Masłowska oder Ziemowit Szczerek diesen schreiben.

Marcel Krueger

Marcel Krueger

Marcel Krueger ist Schriftsteller und Übersetzer. 2019 hat er als offizieller Stadtschreiber von Allenstein/Olsztyn im Rahmen eines Stipendiums des Deutschen Kulturforums östliches Europa über das Leben in Ermland-Masuren berichtet. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Von Ostpreußen in den Gulag“ (2019).

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