Als Sebastian Kurz 2017 die Führung der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) übernahm und sie anschließend zum Wahlsieg führte, schickte ihm Ministerpräsident Viktor Orbán einen herzlichen Glückwunschbrief, in dem er betonte, wie sehr er sich auf die Zusammenarbeit mit der „erneuerten“ Volkspartei freue. Den Kanzler erwartet nun eine Anklage, weil er vor einem parlamentarischen Ausschuss gelogen hat. Der Ausschuss untersucht jene Affäre, welche seine vorherige Regierungskoalition mit der extremen Rechten zu Fall gebracht hat. Kurz-kritische Kommentatoren, sowohl in Österreich als auch in Deutschland, fragen sich immer mehr, ob Kurz bereits endgültig in die Fußstapfen von Orbán getreten sei, der seine politischen Erfolge mit so viel Enthusiasmus begrüßte. Immer häufiger wird behauptet, Kurz sei einer der Politiker, die in Europa einen rechten Block bilden – einen, der euroskeptisch und fremdenfeindlich ist und den demokratischen Meinungspluralismus untergräbt.
Wie genau sind diese Vergleiche? Führt der Kanzler Österreich wirklich auf den Weg, den zuvor die rechten Regierungen in Ungarn und Polen beschritten haben?
Flüchtlinge statt Kommunismus
Kurz gehört zu einer ganz anderen Generation als Orbán und Kaczyński. Er ist nicht, wie der ungarische Premierminister, ein Flüchtling aus dem liberalen Lager, der irgendwann beschloss, dass der Liberalismus mit seiner Bindung an individuelle Rechte und freie Marktwirtschaft kein nützliches Werkzeug mehr ist, um Macht zu erlangen und den politischen Einfluss in Gesellschaften auszuweiten, die der Härten der politischen Transformation müde sind. Anders als Jarosław Kaczyński musste er die Geschichte der antikommunistischen Opposition nie umschreiben, um seine eigene und die Schlüsselrolle seines politischen Lagers darin zu betonen. Kurz‘ Hauptbezugspunkt war nie die Überwindung des Kommunismus und die damit verbundenen Versprechungen und Enttäuschungen. Der Zeitraum, der seine Politik diktiert hat, ist viel kürzer – geprägt von den politischen Spielchen in der „Großen Koalition“ aus Volkspartei und Sozialdemokraten, deren Herrschaft der jetzige Kanzler 2017 faktisch untergraben hat, und vor allem von der Krise, die durch den Zustrom von Flüchtlingen in die EU-Länder 2015 und 2016 ausgelöst wurde.
Ohne die Schließung der sogenannten Balkanroute um den Preis der Schaffung riesiger Lager für Menschen, die an den geschlossenen europäischen Grenzen festgehalten werden, wäre der damals jüngste Außenminister wohl nie Parteivorsitzender der Volkspartei und dann Kanzler geworden. Kurz wurde dann für eine Weile zum Gegenspieler von Bundeskanzlerin Merkel. Er bot Lösungen an, die der extremen, fremdenfeindlichen Rechten nahestanden, rechtfertigte sie aber in einer Sprache, die weit vom Rechtsradikalismus entfernt war. Er sprach nicht von der Verteidigung der europäischen Identität oder „unserer Lebensart“, sondern argumentierte, der unkontrollierte Zustrom von Flüchtlingen und die Zustimmung zur Unterstützung von Flüchtlingen durch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) seien Wasser auf die Mühlen von Schleusern.
Seine radikalen Handlungen, die das nationale Interesse über humanitäre Erwägungen stellten, aber in einer Sprache vermittelt wurden, die weit von Fremdenfeindlichkeit entfernt war, hoben ihn in der Beliebtheitsskala nach oben und eröffneten ihm den Weg, das Land zu regieren. Sie brachten ihm Anhänger unter diesen Bürgern, die nicht die extreme Rechte wählen wollten, sondern große Angst vor den Menschenmassen hatten, die aus dem Nahen Osten und Nordafrika in die europäischen Städte kamen. Zudem bewirkten sie, dass jene Machthaber, die behaupteten, Europa vor der Flut von „Ausländern“ zu schützen, wie etwa Viktor Orbán, Sebastian Kurz als ihren natürlichen Verbündeten behandelten.
Mit seinem Handeln und seiner Rhetorik in der Flüchtlingsfrage hat Kurz auch zur Normalisierung des flüchtlingsfeindlichen Diskurses in Ländern wie Ungarn und Polen beigetragen. Die Regierenden der Länder, die Pläne zur Entsendung von Neuankömmlingen in verschiedenen EU-Ländern ablehnten, konnten ihn in Diskussionen mit Brüssel immer als bequemes Beispiel anführen.
Der Image-Meister
Kanzler Kurz kümmert sich viel weniger um die Vergangenheit als die politischen Führer Ungarns und Polens, aber er ist genauso wie sie darauf fokussiert, sein Image in den nationalen Medien zu kontrollieren und seine Version der politischen Realität durchzusetzen. Jarosław Kaczyński und andere führende Politiker der polnischen Vereinigten Rechten achten sehr darauf, dass die Medien so wenig wie möglich über die Auseinandersetzungen und Verhandlungen im Lager der Macht erfahren. Regierungskritische Journalisten spekulieren daher über Konflikte und Spaltungen anhand von Personalentscheidungen, Tonfall, Phrasen und Symbolen, ein bisschen so, wie Sowjetologen früher die Anordnung der Stühle bei den Plenarsitzungen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion verfolgt haben.
Genauso überempfindlich wie die beiden anderen ist Sebastian Kurz, wenn es um den Verlust der Kontrolle über sein Image und die Medienberichterstattung geht. Als er 2017 Gespräche zur Bildung einer Koalitionsregierung mit der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) begann, durften die Medien nicht darüber berichten, und die einzigen Fotos der Verhandlungen, die an die Öffentlichkeit gelangten, wurden von einem lizenzierten Fotografen aufgenommen. Darüber hinaus greifen der österreichische Bundeskanzler und seine Entourage, genau wie polnische Politiker aus dem herrschenden Lager, eifrig zu den sogenannten SLAPP, Strategic Lawsuits Against Public Participation (Strategische Klage gegen öffentliche Beteiligung), das heißt Klagen, die darauf abzielen, Journalisten von Kritik abzuhalten.
Im April 2021 verlor der Kanzler einen Prozess gegen Florian Klenk, Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung „Falter“, der die vorsätzliche Verletzung von Wahlkampffinanzierungsregeln durch die Volkspartei im Jahr 2019 beschrieben hatte. Klenk erhielt allerdings weitere Klagen von Claus Reitan, einem Vorstandsmitglied des Friedrich Funder Instituts für Publizistik, Medienforschung und Journalistenausbildung (FFI) der Volkspartei und Chefredakteur des Blogs ihres Parlamentsklubs. In Polen sind solche Klagen bereits an der Tagesordnung; ein aktueller Bericht der Journalistischen Gesellschaft in Polen zählte 187 Fälle auf, die Politiker aus dem Regierungslager zwischen 2015 und 2021 gegen kritische Journalisten vor Gericht brachten.
Ein selbstloser Schirmherr der Korruption
Die ersten systematischeren Analysen, die die von Orbán in Ungarn und Kaczyński in Polen geschaffenen Regierungssysteme verglichen, wiesen auf einen grundlegenden Unterschied hin. Orbáns primäres Ziel war es, ein klientelistisches System der Abhängigkeit aufzubauen und seinen eigenen Reichtum zu vergrößern, während die rechtsextreme Rhetorik nur ein Werkzeug sein sollte, um dieses im Grunde banale Ziel zu erreichen. Währenddessen sollte sich Kaczyński in erster Linie um den Aufbau eines neuen, rechten Polens kümmern, dabei war er viel mehr an Macht als an Reichtum interessiert. Eine solche These stellte zum Beispiel Bálint Magyar auf, der Autor des berühmten Buches „A posztkommunista maffiaállam“ (2013, Ein postkommunistischer Mafia-Staat). Mit der Zeit zeigte sich jedoch, dass die politischen Prioritäten von Jarosław Kaczyński der Sorge um die Mehrung des Parteivermögens oder der Erweiterung des Netzes der Begünstigten von Parteinominierungen für prominente Positionen in staatlichen Unternehmen und Institutionen nicht im Wege stehen.
Bundeskanzler Kurz umgab zunächst ein ähnlicher Nimbus eines Politikers, dem die öffentliche Tätigkeit weit wichtiger sei als Geschäftemacherei. Gerne wurde darauf hingewiesen, Kurz lebe weiterhin in einer eher bescheidenen Wohnung im Wiener Bezirk Meidling, die er seit Jahren mit seiner Lebensgefährtin bewohnt. Der immer realer werdende Prozess, der ihm bevorsteht, weil er gelogen hat, um seinen Schützling in den Aufsichtsrat eines großen staatlichen Konzerns zu bringen, erschüttert das Bild eines Regierungschefs, der ausschließlich für die Politik lebt und sich nicht für Finanzielles interessiert. Dieses öffentlich gepflegte Image hatte bereits tiefe Risse bekommen, als bekannt wurde, dass die von Kurz geführte Volkspartei Gelder für den Wahlkampf 2019 sammelte, indem sie einer Reihe von Unternehmen versprach, für sie günstige Gesetzesänderungen durchzusetzen. Darum ging es im verlorenen Prozess gegen Florian Klenk. Hinter dem sorgfältig konstruierten Bild der Uneigennützigkeit, das dank teurer PR-Kampagnen und Druckausübung auf kritische Medien aufrechterhalten wird, verbergen sich im Fall von Kurz, wie auch bei Kaczyński, kalt berechnende Politiker, die im Austausch für Loyalität und Einfluss Gefälligkeiten und Vorteile verteilen.
Ausgebremste Ambitionen
Das Spiel mit den Ängsten vor Flüchtlingen, der Wunsch, die Medien zu kontrollieren, und schließlich die Selbstdarstellung als Erneuerer der innenpolitischen Szene, als ein Anführer, der alte Spaltungen überwindet und ein neues Kapitel in der politischen Geschichte seines Landes aufschlägt – all das verbindet Kurz mit Orbán und Kaczyński, aber sie machen ihn noch nicht zum Autokraten oder gar zum Populisten. Kurz bleibt ein aufstrebender Populist – es ist ihm weder gelungen, den Medienpluralismus zu untergraben noch unabhängige Kontrollinstitutionen zu zerstören. Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass Österreichs jüngstem Bundeskanzler trotz aller imagefördernden Bemühungen und großen politischen Ambitionen nun eine Klage droht. Gewiss, der Kreis seiner Unterstützer ist nach wie vor sehr groß, aber die große Mehrheit der Bürger ist der Meinung, er solle zurücktreten, wenn es tatsächlich zu einem Prozess kommt. Kurz‘ populistische Ambitionen bleiben also in mehrfacher Hinsicht und durch eine Reihe von Institutionen gehemmt, die in Polen und Ungarn abgebaut worden sind oder nur noch pro forma bestehen.
Als polnische Medien die Information verbreiteten, dem österreichischen Bundeskanzler drohe ein Strafverfahren, weil er über die Stellenbeschaffung für seinen Kollegen in einem Staatskonzern gelogen hat, reagierten viele Kommentatoren der polnischen Politik spöttisch: „Amateure!“ Es ist wahr, dass in Polen und Ungarn viel schwerwiegendere Fälle von Korruption und Klientelismus ohne Reaktion bleiben. Dies ist jedoch nicht auf eine typisch polnische oder ungarische Billigung des Machtmissbrauchs zum persönlichen Vorteil oder Einfluss zurückzuführen, sondern auf das Fehlen von Institutionen, die solche Handlungen effektiv untersuchen und bestrafen könnten.
In Sachen Ehrgeiz, Größenwahn oder politischem Talent steht Kurz Orbán und Kaczyński wahrscheinlich in nichts nach. Allerdings bewegt er sich in einem völlig anderen institutionellen Kontext. Er mag von seinem eigenen Image besessen sein, aber er ist nicht in der Lage, sich das unkritische Wohlwollen der öffentlich-rechtlichen Medien zu sichern, denn er entscheidet nicht selbst über deren Finanzierung und die Besetzung von Führungspositionen. Er kann politischen Einfluss aufbauen, Unterstützer und Spender belohnen, aber er wird von unabhängigen Gerichten und Parlamentsausschüssen, die sich aus Abgeordneten der Opposition zusammensetzen, zur Rechenschaft gezogen werden. Im jüngsten Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International liegt Österreich auf Platz 15, Polen auf Platz 45 und Ungarn auf Platz 69. Im Pressefreiheitsranking von „Reporter ohne Grenzen“ liegt Österreich auf Platz 17, Polen auf Platz 64 und Ungarn auf Platz 92. Dies ist ein Beweis für die vollkommen andere Stärke und Effektivität der unabhängigen öffentlichen Institutionen in Österreich als in Polen und Ungarn. Und zugleich eine Lektion, dass selbst der ehrgeizigste Politiker mit populistischen Neigungen keine Chance hat, seine Visionen zur Untergrabung des demokratischen Pluralismus vollständig zu verwirklichen, wenn Kontrollinstitutionen vorhanden sind.
Aus dem Polnischen von Sabine Stekel