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Die Frage nach dem Wesen Mitteleuropas verliert nie an Aktualität. Wir werden selbst dann noch versuchen, unserer Identität auf den Grund zu gehen, wenn wir spüren, dass wir damit eigentlich zum Scheitern verurteilt sind. Denn handelt es sich nicht etwa um ein künstliches politisches Konstrukt? Ist Mitteleuropa nicht einfach ein grauer, ständig im Schatten liegender Landstreifen? Oder ist doch etwa, nicht ganz zum Osten, nicht ganz zum Westen, noch Norden, noch Süden zu gehören, vielleicht eine eigene Daseinsweise?
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1984 veröffentlichte der tschechische Schriftsteller Milan Kundera in der „New York Review of Books“ seinen berühmten Essay „A Kidnapped West. The Tragedy of Central Europe“ [dt. Erstausgabe: Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas, wieder abgedruckt als: Die Tragödie Mitteleuropas. Rekonstruktion eines versunkenen Kontinents, Anm. d. Ü.]. Der Titel spielt auf den griechischen Mythos von der Entführung der Europa durch Zeus in Stiergestalt an; ähnlich wie das nie erschienene, da nie vollendete Tagebuch Józef Wittlins von seiner Flucht aus Europa in den ersten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs, das unter dem Titel „Raptus Europae“ veröffentlicht werden sollte. Hierzu ist anzumerken, das raptus sowohl „Entführung“ als auch „Vergewaltigung“ heißen kann.
Kundera schrieb in seinem Essay: „Geographisch war Europa (das vom Atlantik bis zum Ural reicht) immer in zwei Hälften geteilt, die sich getrennt voneinander entwickelten: War die eine mit dem alten Rom und der katholischen Kirche verbunden (mit dem Kennzeichen des lateinischen Alphabets), so war die andere in Byzanz und der orthodoxen Kirche verankert (mitsamt dem kyrillischen Alphabet). Nach 1945 verschob sich die Grenze zwischen diesen beiden Teilen Europas um einige hundert Kilometer nach Westen, und einige Nationen, die sich immer als westlich verstanden hatten, erwachten eines schönen Tages und stellten fest, daß sie sich im Osten befanden. Folglich bildeten sich nach dem Krieg in Europa drei grundlegend verschiedene Zustände heraus: der von West- und der von Osteuropa und, am kompliziertesten von allen, der jenes Teils, der geographisch im Zentrum, kulturell im Westen und politisch im Osten liegt.“
Kunderas Text bezieht sich auf eine konkrete geopolitische Situation, spricht aber auch ausführlich von der im Titel genannten „Tragödie“ als solcher, nämlich als einer nicht in einem bestimmten zeitlichen Kontext angesiedelten Konstellation des moralischen Konflikts. Als Kundera seinen Essay schrieb, lautete seine vielleicht wichtigste Frage: „Ist nun nach alledem der Kommunismus die Negation der russischen Geschichte oder eher ihre Vollendung?“ Ist also Sowjetrussland einfach Russland oder eher ein Anti-Russland? Und damit auch: Sind die Länder, die unter den politischen und kulturellen Einfluss des Kommunismus geraten sind, damit für immer dem Wirkungsbereich des Ostens unterworfen? Haben sie dort ihren Ort? Heute, da der Ostblock im politischen Sinne der Vergangenheit angehört, stellt sich die Frage nach der Identität jener „verwaisten“ Länder. Die Frage ist umso drängender, als Russland, nunmehr bereits das postsowjetische Russland, unvermindert auf diese Regionen Anspruch erhebt.
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Ich will an dieser Stelle den Text von Kunderas ausgezeichnetem Essay nicht weiterverfolgen (obwohl ich darauf nochmals zurückkommen werde), nicht erwägen, was an diesem Text für immer an Aktualität verloren hat und was nicht, und was überraschenderweise brandaktuell sein mag nach dem Ausbruch des russisch-ukrainischen Kriegs 2022. Mich interessiert vielmehr die Aporie, auf die der Autor in den oben zitierten Absätzen hinweist: Es geht um eine Region, die in zwei zueinander nicht passenden Systematiken unterzubringen ist. Die erste definiert zwei verschiedene Europas, West‑ und Osteuropa, das lateinische und das griechische Europa. Die zweite kennt drei Europas: Westeuropa, Osteuropa und Mitteleuropa. Reicht letztere Unterteilung aber wirklich nur bis zum Jahr 1945 zurück? Im politischen Sinne vielleicht. Und 1984 zeichnete sie sich ganz deutlich ab. Und was ist schon Politik anderes als die Oberfläche der Geschichte? Heute verlaufen Europas Grenzen anderswo: Der Beitritt Polens und weiterer Länder zur Europäischen Union vollzog eine Revolution. Erstmals seit vielen Jahrzehnten ist es leichter, Unterschiede zwischen Regionen oder zwischen Stadt und Land innerhalb eines Landes zu beschreiben als Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern, die sich einst auf verschiedenen Seiten des Eisernen Vorhangs befanden. Heute haben es die Polen und Tschechen näher nach Deutschland als nach Russland. Um wieviel näher!
Wenn die Politik das letzte Wort zu bestimmten Sachverhalten hätte, wären Grenzziehungen kein Problem: Man müsste einfache nur solide Abkommen verfassen und sich an sie halten; und wieso sollten sich Regierungen nicht daran halten? Doch leider ist dem nicht so. Der Staat ist eine relativ neue Schöpfung und, so ist hinzuzufügen, überaus artifiziell; und daher ist er auch sehr fragil, wovon sich Europa in nicht so ferner Zukunft noch überzeugen wird. Und der Staat spiegelt nur selten die Realität wider. Vielleicht haben es hierbei Inseln am leichtesten; mit einiger Vereinfachung lässt sich sagen, dass sich bei Inseln Kultur‑ und Staatsgrenzen decken. Kehren wir jedoch auf den Kontinent zurück, wird die Sache ziemlich unentwirrbar. Man müsste schon mit der Laterne diejenigen zwei benachbarten Staaten suchen, die nicht in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft Auseinandersetzungen um ihre Grenzgebiete geführt haben oder führen. Sie begründen ihre Ansprüche meist ethnisch oder kulturell: Hier lebten unsere Vorfahren!
Mitteleuropa dagegen ist real. Es existierte schon viele Jahrhunderte vor den Kommunisten. Es gibt viele Beweise für seine Existenz; der stärkste ist: Viele von uns, von unseren Verwandten und Nachbarn sehnen sich nach Mitteleuropa. Viele Ukrainer, Polen, Deutsche, Österreicher, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Serben, Kroaten und viele andere. Geht das vielleicht auf die Zeiten Österreich-Ungarns zurück? Oder vielleicht noch weiter? Vielleicht war es unter den Habsburgern schon ein vollentwickeltes Land? Vielleicht reicht die mitteleuropäische Identität aber bis in das Altertum zurück: Als von beiden Ufern der Donau her die Anrainer des Mittelmeers und die sogenannten Barbaren aufeinandertrafen? Doch vielleicht nahm diese Geschichte noch früher ihren Anfang, in prähistorischen Zeiten, als an den Karpatenhängen die ersten Hirtenkulturen entstanden?
Ein erschwerender Faktor, um das eigentliche Wesen Mitteleuropas zu bestimmen, ist das Verharren vieler seiner Einwohner in nationalstaatlichen Denkweisen. Solange Polen und Ukrainer, Slowaken und Tschechen, Ungarn und Rumänen sich weiter auf ihre wechselseitigen Animositäten konzentrieren, wird ihnen das Gesamtbild entgehen. Ob es jedoch gelingen wird, diese Nachbarschaftskonflikte zu überwinden, erscheint mehr als zweifelhaft.
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Wieviele Europas gibt es also? Ein einziges. Oder aber unendlich viele. Wo liegt Polen? Im Westen, im Osten und in der Mitte. Zu wem hat es den kürzesten Weg? Das kommt darauf an. Danzig und Posen haben es am kürzesten nach Deutschland, Lublin und Rzeszów in die Ukraine und Krakau nach Österreich und Ungarn.
Ich zitiere nochmals Kundera: „Mitteleuropa ist kein Staat: es ist eine Kultur oder ein Schicksal. Seine Grenzen sind imaginär und müssen in jeder neuen geschichtlichen Situation neu gezogen werden.“ Diese Aufgabe stelle sich Kundera zufolge in einer jeden historischen Situation neu. Als Beispiel nennt er das Prag des 15. Jahrhundert; damals schon zog die Karls-Universität Professoren und Studenten aus ganz Europa an, aus Böhmen, Österreich, Bayern, Sachsen, Polen, Litauen, Ungarn und der Walachei, und schon damals wurde eine Vorstellung einer multinationalen Gemeinschaft gepflegt, in der jeder ein Recht auf seine eigene Sprache hatte. Der böhmische Reformator Jan Hus war damals Rektor der Prager Universität, unter deren Einfluss die ersten Bibelübersetzungen in das Ungarische und das Rumänische entstanden.
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Eine Reise in die Tiefen unserer Geschichte ist eine Reise ohne Ende. Jeder Versuch zu begreifen, was Mitteleuropa ausmacht, ist wertvoll, und vielleicht ist allein schon diese unermüdliche Suche das stärkste Argument für Mitteleuropa? Doch sich darauf zu einigen, dass Mitteleuropa existiert, ist erst der Anfang: Wie die Sache angehen? Welcher Zugang ist zu suchen? Ein politischer? Ein historischer? Einer über die Religionen? Ein sprachlicher? Wie weit sollen wir schauen? Von Berlin bis Kiew und von Danzig bis Triest? Weiter oder enger? Was ist zu berücksichtigen? Das österreich-ungarische, das preußische, das russische Erbe? Die Kultur der aschkenasischen Juden? Der historische Raum, der literarische Raum oder der erträumte Raum?
In seiner Besprechung von Alfred Döblins „Reise in Polen“, die in den 1920er Jahren verfasst wurde, merkte Józef Wittlin an, dem deutschen Autor sei es hervorragend gelungen, das Wesen des damaligen Polen zu erfassen: dieses, wie er es nannte, „Konglomerat aus Latein und Kyrillisch“. Das ist sicher im weiteren Sinne zu verstehen: Polen war immer schon ein Ort, an dem Welten unterschiedlicher Identität aufeinandertrafen. Das hat Döblin begriffen; das begriff auch Wittlin in seinen Texten sehr gut. Und diese Grenzlage Polens ist gewiss anwendbar, wenn wir über die gesamte Region nachdenken. Unabhängig davon nämlich, ob in seinen damaligen oder seinen heutigen Grenzen, befindet sich Polen sozusagen immer in der Mitte der Mitte und ist ihr schlagendes Herz. Polen ist natürlich nicht dasselbe wie Mitteleuropa. Es ist eine seiner Verkörperungen, vielleicht durch seine Lage und Geschichte die repräsentativste; doch nur eine von mehreren. Wo (worin?) wären also die Grenzen dieses Mitteleuropa zu suchen, dieses Raumes, und gibt es sie überhaupt? Inwieweit sind sie verschiebbar? Inwieweit decken sie sich mit Staatsgrenzen oder Regionsgrenzen? Ist es überhaupt notwendig, Grenzen zu ziehen? Wenn ja, für wen und wozu?
Ja, die Frage nach der Identität Mitteleuropas wird nie an Aktualität verlieren. Was ist diese Welt an der Grenze von Welten? Wie ist der Raum zwischen West und Ost und zwischen Nord und Süd zu definieren? Wahrscheinlich steckt darin eine große Weisheit, dass die Chinesen immer schon fünf Himmelsrichtungen zählen: Norden, Süden, Osten, Westen… und die Mitte.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
„Der Titel spielt auf den griechischen Mythos von der Entführung der Europa durch Zeus in Stiergestalt an“
Die griechische Mythologie ist extrem bedeutsam, was die Entstehung und Entwicklung Europas betrifft. Die Geschichtsschreibung lautet so, dass die minoische Kultur die erste Hochkultur Europas war. Diese Kultur wurde nach dem mythischen König Minos benannt, einem Sohn der Europa und des Zeus -> https://www.mythologie-antike.com/t163-minos-mythologie-sohn-des-zeus-und-der-europa-konig-auf-kreta
Minoische Kultur, Zitat:
„Es handelt sich um eine Kultur der Bronzezeit. In Mitteleuropa umfasst diese Epoche in etwa den Zeitraum von 2200 bis 800 vor unserer Zeit. Beschrieben wird die minoische Kultur als früheste Hochkultur Europas. Frühminoisch I ist die älteste Phase der minoischen Kultur. Diese Phase verläuft parallel zur ersten bis vierten Dynastie Ägyptens. Die minoische Kultur steht konkret im Zusammenhang mit Kreta. Die etwa gleichzeitige Kultur des griechischen Festlandes wird helladische Kultur bezeichnet.“
die Frage West- oder Osteuropa führt zum Kern: Europa ist KEIN geographischer Kontinent, hat nur ein eine willkürlich vereinbarte und sekundär geographische Dimension. Europa ist ein Konstrukt. Ein ideelles, und geistesgeschichtliches Konstrukt . Ein Produktmythologischer, philosophischer, religiöser, soziokultureller, politischer und gesellschaftlicher Denkfiguren. Europa ist und war stets ein Kulturraum mit einer spezifischen Kultur. Eine multi-ethnische und vielstaatliche Weltregion, innerhalb derer sich trotz aller Vielfalt etwas wie eine gemeinsame und spezielle Metakultur entwickelte: Das Abendland, das lateinische Christentum, der “Westen”. Russland gehörte nie und gehört auch heute NICHT dazu. Der Balkan mit seinem osmanischen Hintergrund in einer Sonderrolle jedoch sehr wohl.
Und nicht der zweifache Ural, sondern eher der Don und die Newa bilden die Grenze zu diesem “Europa”, mit dem einstigen Polnisch-litauischen Großreich im historischen Gedächtnis. Eine Teilung in Ost- und Westeuropa ist wohl eher ein gedanklich verfestigtes Nachfolgeprodukt an Sowjetunion und Kalten Krieg.
Vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel!
Und für beide Kommentare.
Die Chance zur Überwindung der gedanklichen und von westlicher Hybris perpetuierten Teilung in West- und Osteuropa sowie zur Anerkennung und Würdigung des in Mitteleuropa schlagenden Herzens war wohl noch nie so groß wie jetzt. Russland setzt unter Putin die Jahrhunderte währende Kontinuität als Imperialmacht fort und verortet sich selbst außerhalb der europäischen Zivilsation.
Interessant beim Reisen „in die Tiefen unserer Geschichte“ sind die Spekulationen Harald Haarmanns über die alteuropäische „Donau-Kultur“ als früheste Hochkultur Europas und Vorgängerkultur der minoischen und der mykenischen Kultur.