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Chance für eine neue Renaissance? Kultur in Zeiten der Pandemie

Danziger Reflexionen

Wir sind gegenwärtig Zeugen und Akteure einer Transformation von historischer Tragweite. Eine Pandemie verändert uns und die Welt. Unsere Zivilisation wird nach den Infektionswellen nicht mehr dieselbe sein. Die Konfrontation mit dem Coronavirus ist ein Kampf ums Überleben, aber genauso ein Test für politische und wirtschaftliche Systeme.

Zugleich verlangt die Pandemie von uns, auf jeder Ebene des Lebens zu reagieren: der individuellen und kollektiven; der lokalen, nationalen und internationalen. Die Pandemie ist eine Zeit des globalen Notstands, die sowohl Bedrohungen als auch Chancen für eine Erneuerung mit sich bringt. Die Erholung von diesem Ausnahmezustand wird nicht von heute auf Morgen erfolgen, und unsere Gesellschaften werden noch jahrelang mit den negativen psychologischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Folgen beschäftigt sein.

Basil Kerski: Chance für eine neue Renaissance? Kultur in Zeiten der Pandemie. Danziger Reflexionen
Denkmal für Nikolaus Kopernikus in Toruń mit einer Maske während der Covid-19 Pandemie. Foto © A. Budz / Wikimedia Commons

Unerwartete globale Herausforderungen erzeugen Ängste, Unsicherheiten, Gefühle der Bedrohung. Unsere tägliche Realität ist die Angst vor Krankheiten. Negative Gefühle werden ebenso durch die Isolation ausgelöst, und die Einschränkung des öffentlichen Lebens hat die größte Rezession der jüngeren Geschichte verursacht. Diese schwierigen emotionalen und wirtschaftlichen Erfahrungen schaffen einen Nährboden für Populismus, Autoritarismus, Engstirnigkeit und Verschwörungstheorien.

Dies ist eine herausfordernde Zeit für die Demokratie. Demokraten sollten jetzt nicht passiv bleiben, vielmehr ihre Phantasie nutzen, um den Feinden der Freiheit mit Maßnahmen zuvorzukommen, die den Pluralismus, die Partizipation und das effektive Funktionieren des demokratischen politischen Systems stärken. Ein Schlüsselthema ist dabei der Ausbau der Digitalisierung. Wie können solche Bedingungen geschaffen werden, damit die globale Digitalisierung der Wahrheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und dem Schutz der Bürger dient und nicht der Kontrolle, dem Konsumismus, der kulturellen Verwüstung, der Lüge, den Interessen internationaler Konzerne und autoritären Regime? In Zeiten des Übergangs brauchen wir eine empathische Demokratie, die auf sozialer Sensibilität basiert. Beim Wiederaufbau einer durch die Pandemie zerstörten Wirtschaft lohnt es sich, nicht nur die ökologischen Herausforderungen zu berücksichtigen, sondern auch eine stärkere Verbindung als bisher zwischen sozialer Gerechtigkeit und dem freien Markt in Betracht zu ziehen.

Vor vierzig Jahren war Danzig ein Zentrum der Reflexion über die grundlegende Transformation Polens. In der Olivia-Halle fand im Herbst 1981 die erste Delegiertenversammlung der Unabhängigen Selbstverwalteten Gewerkschaft „Solidarność“ statt. Der mehrtägige Kongress war eine Zeit der kollektiven Einübung von Demokratie in einer Diktatur und der Erarbeitung eines Programms zur Öffnung des politischen und wirtschaftlichen Systems Polens. Demokratisierung des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, Einführung eines Systems zum Schutz der Menschenrechte, Redefreiheit und Solidarität mit den Nachbarländern – dies waren die Hauptthemen der Kongressdebatten. Das Kriegsrecht stoppte die Umsetzung des ersten Programms der Solidarność, doch die kreative Energie der Delegiertenversammlung überlebte und wurde acht Jahre später zu einer Quelle des Wandels für die polnische Republik.

Heute leben wir in einer anderen Welt, dennoch lohnt es sich, auf die Erfahrungen des Kongresses zurückzugreifen, zu den grundlegenden Fragen der Demokratisierung Polens und der Transformation des Wirtschaftssystems zurückzukehren, sie in das 21. Jahrhundert zu übertragen. Es lohnt sich, daran zu erinnern, von welchem Land Polens Bürgerinnen und Bürger damals geträumt haben, und gleichzeitig die Frage zu stellen, welches Polen heute unser Ideal wäre. Wie wollen wir in Zukunft den Wohlstand mehren und die Gesundheit unserer Bürgerinnen und Bürger schützen? Wie können wir für Frieden und Sicherheit auf unserem Kontinent sorgen?

Die Solidarność-Revolution veränderte Europa, sie führte vor genau drei Jahrzehnten zum Zusammenbruch der Sowjetunion, was wiederum zur Unabhängigkeit der polnischen Nachbarstaaten führte. Aber ohne die gesamteuropäische Revolution hätte es keinen dauerhaften Erfolg für die Solidarność, keine Souveränität für die polnische Republik gegeben. Heute werden die demokratischen Veränderungen der Jahre 1989–1991 vom autoritären Russland abgewertet. Moskau stellt den Weg seiner Nachbarn zur Demokratie und Unabhängigkeit von Russland offen infrage. Der Krieg in der Ostukraine ist ein Konflikt um die gesamte politische Ordnung in Europa. Die neoimperialistische Politik Putins bedroht den Frieden auf unserem Kontinent.

Infolge der Migration hat sich Danzig in den letzten Jahren zu einer multikulturellen Stadt entwickelt. Die aus Osteuropa stammenden Einwohnerinnen und Einwohner von Danzig haben uns Polen direkt mit dem Schicksal der Ukraine, Belarus‘ und Russlands verbunden. Als Bewohner einer Stadt, die ein Symbol für Freiheit und Solidarität ist, und als Nachbarn können wir nicht still und passiv bleiben. Für den Frieden in Osteuropa und die weitere Demokratisierung der postsowjetischen Staaten tragen auch wir eine Verantwortung.

Wir können diese Herausforderungen nicht allein bewältigen. Starke Allianzen sind gefragt. Neben den Vereinigten Staaten sind die wichtigsten Verbündeten des demokratischen (und nicht populistischen) Polens Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland. Vor drei Jahrzehnten hat die junge polnische Demokratie ihre strategischen Allianzen neu definiert. 1991 wurde der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag unterzeichnet und das Modell der deutsch-französisch-polnischen Zusammenarbeit im Rahmen des Weimarer Dreiecks geschaffen. Gute Beziehungen zu den Nachbarn zu pflegen, bringt nicht nur wirtschaftliche Vorteile. Sie sorgen auch für starke Bündnisse, die die polnische Unabhängigkeit stärken und den Frieden in Europa sichern.

Ich schreibe diese Worte in Zeiten der Pandemie aus der Perspektive eines Bürgers, aber auch als Verantwortlicher für eine Kultureinrichtung, in der die europäische Geschichte auf die Zukunft trifft. Das Europäische Solidarność-Zentrum (ECS) in Danzig erinnert an die Freiheitsrevolutionen von 1989–1991 und versucht, die Werte von Solidarität und Freiheit in die heutige Sprache zu übersetzen. Die Revolutionen von 1989 wurden von Professor Aleida Assmann treffend als die zweite Geburt des politischen Europas nach 1945 bezeichnet. Das Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 und der Fall des Kommunismus 1989 waren zwei Ereignisse, die den Prozess der Integration des Kontinents auslösten. Diese erste Phase bedeutete jedoch nur die Integration des westlichen Teils. Erst nach dem Fall der Diktaturen Südeuropas und des Sowjetblocks wurde die Vision einer weiteren Öffnung möglich. Das Hauptziel der politischen Integration wurde der Aufbau von politischen und wirtschaftlichen Systemen, die uns vor Kriegen, Nationalismen und Diktaturen schützen und das Gefühl der Verbundenheit und Solidarität zwischen den Europäern vertiefen sollten.

Wird die Pandemie eine neue Geburtsstunde für die europäische Gemeinschaft sein, oder wird sie uns Europäer eher voneinander distanzieren? Das wissen wir noch nicht. Die Corona-Krise ist sicherlich eine einschneidende zivilisatorische Erfahrung. Sie wird in den kommenden Jahren ein wichtiger gemeinsamer Bezugspunkt für alle Europäer sein. Die Pandemie ist so nachhaltig, dass sie die Aufmerksamkeit von früheren Meilensteinen in der Geschichte unseres Kontinents ablenken wird. Dies kann eine Gefahr und eine Chance zugleich sein. Es mag sich als große Anstrengung erweisen, sich über die Bedeutung der immer weiter entfernten historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu verständigen. Andererseits wird die Pandemie zu jener historischen Erfahrung, die uns zusammenbringt, uns näherbringt, zu einem gemeinsamen Ort wird, um in die Zukunft und in die Tiefen der Geschichte zu blicken. Wir werden Nähe und Unterschiedlichkeit erleben.

Distanz und Nähe sind zwei extreme Gefühle, die Kulturinstitutionen im Lockdown erfahren haben. Durch die Schließung von Museen, Galerien, Theatern, Opern und Philharmonien wurde die Kultur unzugänglich. Im Europäischen Solidarność-Zentrum hat uns der Anblick des leeren Gebäudes, der leeren Ausstellungsflächen, des Auditoriums, der Bibliothek oder der Seminarräume enorm getroffen. Die Pandemie hat deutlich gemacht, was unsere Aufgabe ist: jeden Tag Menschen zusammenzubringen, einen nicht-kommerziellen Raum der Begegnung, des Dialogs und der Auseinandersetzung, der Verbundenheit und der Distanz zu schaffen. Die für uns so wesentlichen Funktionen wurden ausgesetzt.

Diese traumatische Erfahrung haben sowohl Museen als auch künstlerische Institutionen gemacht. Schließlich besteht die grundlegende Aufgabe von Kultureinrichtungen sowohl darin, Kunstwerke zu interpretieren und zu vermitteln, als auch ein ästhetisches Erlebnis zu bieten. Unsere Aufgabe ist der Dialog mit dem Menschen. Wir schaffen einen Raum für Begegnung, Interaktion, in dem Menschen sich selbst und andere kennenlernen. Wir bringen Menschen zusammen, wir versuchen, in ihnen ein Gefühl der Verbundenheit oder gar der Solidarität zu wecken. Bei uns erleben die Menschen ihre Identität als Bürgerinnen und Bürger, als Akteure der Zivilgesellschaft. Ohne die Begegnung der Bürgerinnen und Bürger verlieren unsere Institutionen ihre Ausstrahlung.

In der Zeit der Pandemie, in dieser Zeit voller Paradoxien, erlebten wir eine intensive Nähe, nicht bloß virtuell, auch metaphysisch. Jeder von uns in den Kultureinrichtungen fühlte eine große Sehnsucht nach unserem Publikum, und unser Publikum nach uns und unserem Programm. Online-Aktivitäten konnten und werden positive kollektive Emotionen im offenen Raum unserer Institutionen nicht ersetzen, doch sie sind zu noch wichtigeren Instrumenten der Bindungsbildung geworden. Die Pandemie ist eine Zeit der Krise, aber zugleich des Siegeszuges der Kultur.

Die Pandemie beraubte die freischaffenden Künstlerinnen und Künstler ihrer Auftrittsmöglichkeiten und Einnahmequellen. Kultureinrichtungen befinden sich in einer historischen Finanzkrise. Jeder von uns Leiterinnen und Leitern der Einrichtungen kämpft um den Erhalt des Teams und dessen Finanzierung. Uns fehlt Geld für das Programm, für Investitionen. Die negativen Auswirkungen der Pandemie sind für uns keinesfalls nur Budgetlücken. Unsere kreative und ideelle Unabhängigkeit wird gerade durch Eigenmittel gestärkt.

In den letzten Jahren hat sich das Europäische Solidarność-Zentrum, wie viele andere Kultureinrichtungen und Kulturschaffende, gegen die Zerstörung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Polen und anderen europäischen Ländern eingesetzt. Die Folge dieser Haltung war eine drastische Kürzung der öffentlichen Zuschüsse an das ECS. Viele andere Institutionen, Vereine, Künstlerinnen und Künstler haben ähnliche negative Reaktionen des Staates wegen ihrer antinationalistischen Aktivitäten erfahren. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie können dazu führen, dass die öffentlichen Gelder, die immer weniger werden, immer öfter an jene Kultureinrichtungen fließen, die gesellschaftlich und politisch unbequeme Herausforderungen vermeiden. Dies ist nicht allein ein Problem für polnische Institutionen, die sich um den Zustand der Demokratie kümmern. Die Wahrung der finanziellen und programmatischen Souveränität wird in den kommenden Jahren eine große Herausforderung für Künstlerinnen und Künstler sowie für Kulturmanager sein, da sie sich von der wirtschaftlichen Flaute erholen müssen. Die Solidarität der Kulturschaffenden allein wird unsere finanziellen Probleme nicht lösen, aber sie wird uns stärken und es uns ermöglichen, unsere geistige und künstlerische Souveränität zu verteidigen.

Stärke und Selbstwertgefühl werden uns durch den Erfolg der Kultur in Zeiten der Pandemie gegeben. In einer langen Zeit der Isolation wurden Musik, Bücher und Filme zu einer Zuflucht für die Menschen, sie gaben unserem Alltag einen Sinn. Wir konnten deutlich erfahren: Kultur ist ein elementarer Raum des Lebens, der grundlegenden menschlichen Erfahrung. Ohne Kultur würden wir eine existenzielle Leere erfahren.

Allerdings ist Kultur nicht nur ein Refugium. Unsere Aufgabe ist es nicht, die Wunden der Einsamkeit zu heilen. Die Kultur hat noch eine andere Mission, die in naher Zukunft an Dynamik gewinnen wird. Zu Beginn meiner (Danziger) Reflexionen äußerte ich meine Sorge darüber, wie sozial und politisch gefährlich die Zeit des Übergangs vom pandemischen Notfall zur neuen Realität sein könnte. Die globale Erfahrung einer Pandemie verbindet, kann unser Denken in transnationalen Dimensionen stärken. Sie kann jedoch gegenteilige Reaktionen provozieren: den Wunsch nach kollektiver Abschottung, Distanz zu anderen, Nationalismen, autoritäre Sehnsüchte.

Unsere Hauptaufgabe als Kulturinstitutionen wird es sein, die Menschen auf ihrem Weg durch die Zeit der post-pandemischen Transformation zu unterstützen. Wir sollten die Gesellschaften wie Wegweisende in eine demokratische, pluralistische Realität führen, die auf den universellen Menschenrechten und dem Schutz der Menschenwürde beruht.

Diese Werte sind immer bedroht, besonders in Zeiten des zivilisatorischen Wandels. Um diese Rechte auf unserem Weg ins 21. Jahrhundert zu verteidigen, müssen wir unser Gefühl für globale Verbundenheit und Mitverantwortung für die Welt stärken, Verantwortung für die gesamte Menschheit und nicht ausschließlich für unsere ethnische Gemeinschaft übernehmen.

Kultur dient dem Menschen und blüht auf, wenn sie universelle Werte verteidigt. Lassen Sie uns, Künstlerinnen, Künstler und Kulturschaffende, in diesen dramatischen Zeiten des Wandels unseren universellen Werten treu bleiben. Und seien wir mutig. Möglicherweise werden unsere Treue zur Idee der universellen Solidarität und unser Mut solche Bedingungen für die Entwicklung von Kunst und Kultur schaffen, dass bald eine Zeit der Wiedergeburt anbrechen wird, einer neuen Renaissance.

 

Aus dem Polnischen von Sabine Stekel und Basil Kerski

 

Der vorliegende Essay entstand für das Zentrum für Gegenwartskunst „Centrum Sztuki Współczesnej ŁAŹNIA“ in Danzig. Der Text erschien in polnischer und englischer Fassung in der Ausgabe Nr. 4 der Zeitschrift „Ręcznik“ des Kunstzentrums ŁAŹNIA.

Basil Kerski

Basil Kerski

Basil Kerski ist Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig, Chefredakteur des zweisprachigen Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG und Vorstandsmitglied des polnischen PEN-Clubs. Er lebt in Danzig und Berlin.

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