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Dreimal Belarus

Die nach den von Lukaschenka gefälschten Wahlen 2020 unerwartet ausgebrochene, unvollendete belarusische Revolution wurde im Blut der Protestierenden ertränkt und mit massenhaftem Terror zerschlagen. Aufgrund der selbst für belarusische Verhältnisse beispiellosen Repressionen kehrten zehntausende, vielleicht gar hunderttausende von Belarusen ihrem Land den Rücken. Zum Ziel ihrer Emigration wählten sie meist Nachbarländer wie Polen, Litauen und die Ukraine. Als der russisch-ukrainische Krieg im Februar 2022 in die heiße Phase überging, setzte das eine weitere Welle der belarusischen Migration in Gang. Wer in Kiew vor dem Lukaschenka-Regime Schutz gesucht hatte, musste sich erneut auf die Flucht begeben. Diesmal vor russischen Bomben, die wie zum Hohn von belarusischem Gebiet aus auf Kiew abgefeuert wurden. Die offene russische Aggression führte zu einer weiteren, noch einschneidenderen Veränderung. Nämlich zur Bildung von belarusischen Freiwilligenregimentern, die unter dem Namen Konstanty Kalinowski[1] und „Pahonja“[2] Seite an Seite mit den Ukrainischen Streitkräften gegen die russische Besatzung kämpfen. Zur gleichen Zeit verbleiben in Belarus, gegen das weitere Sanktionen verhängt wurden und das international völlig isoliert ist, Millionen von Menschen, die dem Regime des Satrapen Lukaschenka und seines Polizei‑ und Unterdrückungsapparates auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. So sieht die politische Landschaft in Belarus nach der Revolution aus, die gleichsam drei verschiedene Gestalten angenommen hat: jenseits der Westgrenze eine freiheitliche; an der ukrainischen Front eine militärische, gebildet von den national gesinnten Aktivisten; schließlich das Belarus des Aljaksandr Lukaschenka, eines Staatsapparates, der sich auf gewaltsame Unterdrückung und grobschlächtige Propaganda stützt. Doch haben die durch Realitäten, Grenzen und Weltanschauungen voneinander getrennten Belarusen überhaupt noch etwas miteinander zu tun?

Die zweite Garnitur

Im Westen wird Belarus vor allem in seiner politischen Emigration wahrgenommen, personifiziert von Swetlana Tichanowskaja und ihrem Umfeld. Sie wird als legitime Repräsentantin ihrer Nation von westlichen Regierungen empfangen, so auch von US-Präsident Joe Biden. Verlässt man sich auf die Aufnahmen von offiziellen Begegnungen und die bei der Gelegenheit gehaltenen Ansprachen, stellt sich der Eindruck ein, Tichanowskaja habe sich international bereits fest etabliert und besitze im Kampf gegen die Diktatur eine eigenständige Stimme, weil an ihrer Legitimierung durch die Wahlen von 2020 kein Zweifel besteht. Doch die politische Realität ist eine andere. Seit den belarusischen Massenprotesten sind zwei Jahre vergangen, die Oppositionspolitiker sind entweder in der Emigration oder im Gefängnis. Tichanowskaja hat mit ihren Aktivitäten keinen Einfluss auf die politische Lage in Belarus, es gibt Zweifel und Kritik an ihr. Dafür steht beispielhaft die Konferenz der belarusischen Opposition, die unter dem Titel „Neues Belarus“ im August diesen Jahres in Vilnius stattfand. Schon das Konferenzmotto „Streitigkeiten beenden und weiterarbeiten“ umreißt das Klima, das in der Oppositionsbewegung herrscht. Dazu muss gesagt werden, dass ausschließlich Aktive aus der Emigration teilnahmen, dagegen kein einziger Vertreter der im Land selbst wirkenden Organisationen. Bei den Beratungen sollte demonstrativ ein Konsens der verschiedenen Oppositionsgruppierungen unter Beweis gestellt werden, doch war das Ergebnis, dass Opposition innerhalb der Opposition laut wurde. Dies war die Stimme von einer der drei Musketierinnen der unvollendeten Revolution, Weranika Zepkalas, die das Forum der Demokratischen Kräfte von Belarus repräsentierte. Zepkala warf Tichanowskaja vor, die Medienöffentlichkeit für sich zu monopolisieren, und den Medien, sich einseitig über andere politische Richtungen hinwegzusetzen. Schließlich drohte sie, eine Informationskampagne in Gang zu setzten, orientiert auf die westlichen Geldgeber, die die unabhängigen belarusischen Medien finanzieren.

Inkompetenz und Rhetorik der inneren Okkupation

Im Gefolge der Konferenz von Vilnius und nicht zuletzt, um die internen Konflikte zu überwinden, wurde das sogenannte Vereinigte Übergangskabinett gebildet, in das die verschiedenen Oppositionsgruppierungen ihre Vertreter entsandten. Doch bereits im August diesen Jahres äußerten Mitarbeiter des polnischen Centre for Eastern Studies Zweifel an der realen Bedeutung dieser Initiative, zumal sie keinen Einfluss auf die dezimierten Oppositionsgruppen im Lande selbst habe. Es sieht so aus, als sollte die Einrichtung eines Kabinetts nur die politischen Ambitionen von Leuten des Zuschnitts von Pawel Latuschka befriedigen, eines vormaligen hohen Lukaschenka-Beamten [2009 – 2012 belarusischer Kulturminister, anschließend Botschafter in Frankreich; A.d.Ü.], und dem Westen das Signal geben, Tichanowskajas Büro sei aktiv und in der Lage, die Opposition zu einen. Anfangs berief Tichanowskaja vier Männer in ihr Kabinett. Kurz darauf stieß noch Tazjana Sarezkaja dazu, die das Ressort für Finanzen und Wirtschaft übernehmen sollte. Sarezkaja ist eine junge Unternehmerin, Chefin eines Startups, die sich auf der Forbes-Liste „30 Under 30“ befand. Augenscheinlich hatten die Schlagwörter Startup und Forbes sowie das Image der energischen Erfolgsfrau für diese Personalentscheidung gesorgt. Doch eine gründliche Überprüfung des Werdegangs der Ministeramtskandidatin war wohl ausgeblieben. Diese lieferte Lukaschenkas Sicherheitsapparat nach, der mittels Fakeplattformen im Messengerdienst Telegram Informationen zu Kompromittierung von Sarezkaja verbreitete, um ihre Erfolge als Geschäftsfrau in Zweifel zu ziehen. Nach nichtmals zwei Monaten trat Sarezkaja von ihrer Kabinettsposition mit der Erklärung zurück, man habe ihre Familienangehörigen eingeschüchtert und ihr Unternehmen sei in Gefahr. Doch sie verweigerte jeden Kommentar zu dem Vorwurf, sie habe ihre Firmen manipuliert und Bilanzen gefälscht. Auf diese Weise versetzte Lukaschenka der um Tichanowskaja gescharten Opposition einen heftigen Schlag, kaum dass diese sich zu vereinen begonnen hatte. Andererseits stellte sich heraus, dass auch noch zwei Jahre nach der unvollendeten Revolution das Oppositionslager aufs Geratewohl und ohne Plan handelt, was es selbst für die wenig subtilen Provokationen seitens des Regimes anfällig macht.

Solches politische Unvermögen wäre vielleicht vor dem 24. Februar 2022 ohne Folgen geblieben. Dieser Tag änderte jedoch alles. Der belarusischen Opposition wurde klar, dass alte Fehler nunmehr auf sie zurückfallen und neues Gewicht bekommen würden, weil Belarus auf Seiten des Aggressors stand und selbst zum Aggressor wurde. Das war für die Belarusen eine neue Lage, denn bislang gehörte zum belarusischen Selbstbild die Friedfertigkeit, die Auffassung, die belarusische Nation habe in ihrer Geschichte niemals jemanden angegriffen und sich höchstens verteidigt, sie sei im Grund immer nur Opfer der Kriege gewesen, die sich durch die belarusischen Gebiete wälzten. Im Kontext des mit belarusischer Beteiligung geführten russisch-ukrainischen Kriegs wurde eine Aussage Tichanowskajas von 2020, die Krim sei faktisch russisches Gebiet, zu einer echten Belastung und verschloss ihr die Türen vieler wichtiger Amtszimmer in Kiew. Dieser politische Balanceakt von vor zwei Jahren bestimmt das Verhältnis Tichanowskajas zu Präsident Wolodymyr Selenskyj, genauer gesagt, das nichtexistente Verhältnis zwischen beiden. Das ukrainische Präsidialamt ignoriert die aus Vilnius gesandten Signale; Tichanowskaja wird nicht als Gesprächspartnerin ernstgenommen. Das ist für die Gruppe um Tichanowskaja ein erhebliches Problem, denn für diese ist nicht nur wichtig zu zeigen, die belarusische Opposition zu bilden, es ist für sie auch von existentieller Bedeutung, unter Beweis zu stellen, mit der ukrainischen Regierung vom Lukaschenka-Regime unabhängig Beziehungen pflegen zu können. Doch solche Beziehungen bestehen schlicht nicht.

Als Politikerin hat sich Tichanowskaja in den Jahren 2020 bis 2022 weiterentwickelt. Sie hat ein paar Sachen dazugelernt, vor allem, dass für Belarus ein Opportunist mehr als ausreichend ist, nämlich Lukaschenka, und dass man nicht auf zwei Stühlen gleichzeitig Platz nehmen kann. Sie hat begriffen, dass sie sich mit ihren lauwarmen Erklärungen zur Krim der Möglichkeit beraubt hat, mit der Ukraine ins Gespräch zu kommen. Letztlich musste auch sie begreifen, dass Russland kein verbrüdertes Land ist, dessen Zustimmung zur demokratischen Transformierung von Belarus zu gewinnen sei. Die Tichanowskaja von heute ist reifer und weiß, dass es Situationen gibt, in denen Zwischentöne nicht gefragt sind, sondern klare Ansagen. Daher wird sie neuerdings nicht müde, sich um die Aufmerksamkeit und Anerkennung der ukrainischen Führung zu bemühen. Vor kurzem schrieb sie einen offenen Brief an Wolodymyr Selenskyj, in dem sie betonte, wie notwendig der Dialog zwischen der ukrainischen Regierung und der demokratischen Opposition in Belarus sei. In Interviews äußert sie sich unter Bezug auf diesen Brief geradezu radikal: Belarus sei kein Staat, weil das Land von Russland besetzt sei und das Lukaschenka-Regime mit Putin kollaboriere; daher kämpfe die Opposition nicht nur gegen das Regime, sondern auch gegen die russische Okkupation. Es allen auch solch markante Sätze: Sollten vom belarusischen Gebiet aus erneut Raketen Richtung Ukraine starten, so habe diese das Recht, mit einem Angriff zu antworten. Dies ist eine völlig neue Rhetorik, die aber auch in anderen Gruppierungen der belarusischen Opposition zu hören ist. Diese Argumentationsstrategie ist auch bei der Opposition gegen Putin zu erkennen. Sie läuft auf eine radikale Abgrenzung des Regimes und seiner Unterstützer von der, nennen wir es einmal so, Nation hinaus, als Kollektive, zwischen denen es keine Überschneidung gibt. Diese Einschätzung operiert mit der Logik der inneren Okkupation. In Belarus haben wir es also mit Putinanhängern zu tun, mit Z-Patrioten, andererseits mit Leuten, welche die weiß-rot-weiße Fahne[3] hochhalten, die Frieden und Antimilitarismus symbolisiert. Es gibt auch Tschetschenen, die sich nicht mit den Kadyrow-Anhängern identifizieren wollen. In Belarus gibt es demnach Lukaschenka-Anhänger, gleichsam Putin-Knechte, die die Besatzungstruppen versorgen, während sich die belarusische Nation in Unfreiheit befindet.

Die belarusische Front verläuft in der Ukraine

Der Ausbruch der heißen Phase des russisch-ukrainischen Krieges und die anschließende spontane Bildung belarusischer Regimenter haben enorme politische Konsequenzen. Tichanowskaja scheut in Interviews nicht vor Allgemeinplätzen zurück: „[…] ohne eine freie Ukraine wird es kein freies Belarus und kein freies Europa geben.“ Das stimmt zumindest nicht im Umkehrschluss. Denn selbst ohne ein freies Belarus wird es der Ukraine ganz gut gehen, nur dass die Ukraine ihre Freiheit erkämpfen muss. Es ist der Pragmatismus, der Selenskyjs Präsidialbüro von Kontakten mit Tichanowskajas Büro absehen lässt. Denn als Partner für die Ukraine kommt nur in Frage, wer imstande ist, effektive militärische Hilfe zu leisten, schließlich hängt davon das Sein oder Nichtsein des ukrainischen Staates ab. Tichanowskaja und ihre Entourage sind für die Ukrainer bestenfalls Schwatzköpfe. Die belarusische Opposition ist sich darüber im Klaren, deshalb bemüht sie sich darum, Nähe zu den belarusischen bewaffneten Formationen zu suchen: Oberstleutnant Waleryj Sachaschtschyk, der das Pahonja-Regiment aufgestellt hat, wurde als Mitglied für Verteidigung und Staatssicherheit in das Übergangskabinett berufen. Die Militärs wandeln sich schnell zu einem wichtigen Akteur der belarusischen Oppositionspolitik, von anderen Angehörigen der Opposition und den Militärs selbst nicht unbemerkt. Nicht ohne Grund suggerierten ukrainische Journalisten im Interview mit Tichanowskaja, einige ukrainische Politiker würden ihr Büro umgehen und direkte Gespräche mit Leuten aus dem Kalinoŭski-Regiment führen, weil die in der Ukraine kämpfenden belarusischen Militärs die zukünftige politische Elite seien. In letzter Zeit wird deutlich, dass diese Lage der Dinge den Kalinoŭski-Soldaten mehr öffentliche Präsenz erlaubt, wenn sie in Aufrufen auf „die durch die Welt tingelnde“ Tichanowskaja Druck ausüben, politische Effizienz zu beweisen und für die Entlassung belarusischer Soldaten aus russischer Gefangenschaft zu sorgen. So werden die Keimzellen einer belarusischen Armee in der Ukraine allmählich zum einflussreichsten Akteur der belarusischen Opposition in der Emigration, insbesondere im Verhältnis zu den unmittelbaren Nachbarn.

Stiller Horror

Unterdessen herrscht in Belarus ein vom Regime ausgeübter Terror wie nie zuvor, in seiner Brutalität nur vergleichbar mit Kadyrows Tschetschenien. Wie in jedem totalitären Land eine Umkehrung der Bedeutungen betrieben: Die Terrorpolitik des Regimes wird mit dem Kampf gegen den Terrorismus gerechtfertigt. Dies ist ein totaler Kampf, denn für Lukaschenkas Leute haben Raum und umso weniger Zeit keinerlei Bedeutung. Es klingt wie ein schlechter Witz, aber in Belarus ist einmal mehr Kastus’ Kalinoŭski zum feindlichen Oppositionellen geworden, der Kommissar des Januaraufstands von 1863/64 in Litauen und Belarus. Lukaschenkas Leute haben nämlich die Umbenennung der nach Kalinoŭski benannten Straßen beantragt, um ihnen für das Belarus der Gegenwart passendere Namen zu geben. Zu den Vorschlägen zählen der zarische Ministerpräsident Pjotr Stolypin (1862–1911) oder der Sowjetgeneral Wasilij Margelow, Schöpfer der sowjetischen Luftlandetruppen, oder gar Feliks Dzierżyński[4], der als stolzer Sohn der belarusischen Erde und Nationalheld hingestellt wird. In totalitären Systemen besteht zwischen Lächerlichkeit und Horror ein fließender Übergang. Als Beispiel sei ein notorisch gewordener Vorfall von Zwergenphobie genannt. Im Januar 2021 stellte der Physiker Juryj Jarosch in Hrodna einen Zwerg auf die Fensterbank, der in der Hand eine weiß-rot-weißes Fähnchen hielt, darauf ein winziges Pahonja-Wappen. An seinem Haus ging just zu diesem Zeitpunkt die Lukaschenka-Aktivistin Olha Bondarewa vorbei, bekannt von ihrem Einsatz gegen Regimegegner und in Hrodna bekannt als „Infospeznaz“ [also etwa: zum militärischen Sonderkommando gehörende Denunziantin; A.d.Ü.]. Sie machte ein Foto von dem Zwerg, und bereits am Abend schaute die Miliz beim Haus des Dozenten vorbei. Der Zwerg auf der Fensterbank wurde prompt als illegale Ein-Personen-Mahnwache und öffentliche Bekundung von mit dem Ausgang der Präsidentschaftswahlen nicht zu vereinbarenden Ansichten eingestuft. Für die Zwergenmahnwache drohten Jarosch Ermahnung, Geldbuße oder administrativer Arrest. Schließlich wurde nach dreimonatigen Untersuchungen die Sache fallengelassen, aber andere Opfer der Bondarewa hatten schlimmere Konsequenzen zu erdulden: Sie verloren ihre Arbeit und wurden verhaftet. Das Beispiel des Zwergs von Hrodna zeigt, wie die Absurdität des Systems dafür sorgen kann, dass sich eine Anekdote im nächsten Augenblick in reales Urteil verwandelt. Solche Fälle gibt es in Belarus in dieser Zeit zu tausenden. Die Anzahl der politischen Gefangenen in Lukaschenkas Gefängnissen wird auf 1400 geschätzt. Diese Zahl wächst mit jedem Tag.

Wenn man unabhängigen Portalen mit Nachrichten aus Belarus folgt, erhält man dort tagtäglich eine lange Liste der jüngsten Verhaftungen, der von den Staatsanwälten erhobenen Anklagen und der Verurteilungen. Dabei handelt es sich keineswegs um Repressionen von Oppositionellen. Denn wer heute nicht ausdrücklich seine Befürwortung Lukaschenkas bekundet, der wird automatisch zum Feind, genauer gesagt, zum Terroristen. Ich führe nur ein paar aktuelle Beispiele an. Im Sommer 2021 führte der belarusische KGB eine breit angelegte Verhaftungswelle gegen „Personen mit radikalen Anschauungen“ durch. In die Razzien gerieten unter anderem Aktivisten der Stiftung „Land zum Leben“, die sich mit der Fortentwicklung der Zivilgesellschaft und der Hilfe für ukrainische Flüchtlinge befasst. Der Vorwurf gegen sie war, sich zum Sturz der Regierung verschworen zu haben, Menschen für die Teilnahme an Protesten zu schulen und solche Proteste zu finanzieren. Anton Staschewskij wurde vor kurzem zu acht Jahren verschärften Straflagers verurteilt; Maria Dubrowskaja zu anderthalb Jahren Straflager, ohne Rücksicht darauf, dass sie Mutter eines kleinen Kindes ist. Gerade noch im November diesen Jahres wurde der 27jährige Wadim Wasilëŭ zu zwölf Jahren Straflager verurteilt, weil er zwei Telegram-Kanäle verwaltet hat, auf denen regierungskritische Posts aufgetaucht waren. Er wurde in sechs Punkten angeklagt, darunter wegen Terrorismus. Allein, die erwähnten Telegram-Kanäle wurden erst nach Wadims Verhaftung als terroristisch eingestuft. Gesetze werden in Belarus rückwirkend angewandt, so wie im Falle des „Oppositionellen“ Kalinoŭski. Um unter die Räder des Regimes zu geraten, muss man keinesfalls politisch aktiv oder Journalist sein. Ist die Repressionsmaschinerie erst in Gang gesetzt, lässt sie sich nicht mehr stoppen, daher sucht das System immer neue Feinde oder kreiert sie einfach selbst. Gerade in dieser Zeit finden Massenverhaftungen und Entlassungen aus der Belarusischen Akademie der Wissenschaften statt. Von den Repressionen sind vierzig Wissenschaftler betroffen, deren Schuld allein darin besteht, dass sie an einem internen Chat über Gewalt teilgenommen haben. Es werden gestern noch belobigte und mit Preisen ausgezeichnete Professoren, Dozenten und Erfinder entlassen. An die Spitze der Ermittlungen und Verhaftungen hat sich eine Abteilung des Innenministeriums gesetzt, die unter der Abkürzung HUBAZiK firmiert, was bedeutet „Hauptverwaltung für die Bekämpfung von organisiertem Verbrechen und Korruption“. „Hubazik“ klingt nett und unschuldig, doch die Funktionsweise dieser Einrichtung zeigt bestens den Punkt, an dem sich das Lukaschenka-Regime gerade befindet. In Belarus sind nach wie vor die alten KGB-Strukturen aktiv, doch die HUBAZiK-Beamten nennen sich gern die belarusische Gestapo. Wir haben es also mit einer Verdoppelung der Totalitarismen zu tun, und zusätzlichen habe die HUBAZiK-Leute von den Kadyrow-Schergen die Praxis übernommen, Videos mit verhafteten Regimegegnern aufzunehmen, in denen diese ihre Schuld bekennen und sich öffentlich von ihren Ansichten lossagen. Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass in den Untersuchungsgefängnissen Folter und unmenschliche Haftbedingungen allgegenwärtig sind.

Die Frage ist leicht zu beantworten, was die belarusische Opposition im Lande selbst tut. In Belarus kannst du heute kein Oppositioneller sein. Doch besteht die Paradoxie darin, dass du Oppositioneller sein musst, wenn du kein Lukaschenka-Anhänger bist. Das Regime betrachtet alle als Feinde, die nicht in ausreichender Weise ihre Loyalität bekunden. Darin besteht die Perfidie des von Lukaschenka geschaffenen Systems. Der Satrap ist sich darüber ganz und gar bewusst. Unlängst publizierte sein Pressedienst umfangreiches Material über die belarusischen Holzfällermeisterschaften. Lukaschenka spazierte zwischen dem ergebenen Volk umher und instruierte die Teilnehmer, wie ein mächtiger Stamm zu zerhacken sei. Mit einer finnischen Axt in der Hand erklärte er den Zuschauern: Wir stellen so einen Stamm hin und suchen einen Spalt. Wir lassen den Spalt nicht aus dem Auge, in den wir schlagen wollen und… wir schlagen zu.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

[1] Belarusische Namensform Kastus’ Kalinoŭski (1838–1864), einer der Anführer des Januaraufstands von 1863/64 gegen die russische Herrschaft in Litauen und Belarus; A.d.Ü.

[2] Die pahonja („Jagd“) war das von der Republik Belarus 1991–1995 benutzte Staatswappen des weißen Ritters auf rotem Grund, heute neben der damaligen weiß-rot-weißen Fahne ein Zeichen des Protests gegen die resowjetisierte Staatssymbolik und die damit verbundene Politik des Lukaschenka-Regimes; A.d.Ü.

[3] D.h. die 1991–1995 zuerst von der Republik Belarus benutzte Staatsfahne, die der jetzigen postsowjetischen Fahne vorausging; A.d.Ü.

[4] Russische Namensform Dsersinskij, Gründer der bolschewistischen Tscheka, der ersten sowjetischen Staatspolizei; A.d.Ü.

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Wojciech Siegień

Wojciech Siegień

Wojciech Siegień ist Ethnologe und Psychologe; er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Danzig und befasst sich seit Jahren mit kulturanthropologischen Kontexten in Osteuropa.

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