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Atomare Wahlverwandtschaften? Frankreich-Polen (2008-2022)

Unmittelbar nach Bekanntgabe der Entscheidung der polnischen Regierung, den US-amerikanischen Konzern Westinghouse mit dem Bau der ersten Kernkraftwerke für Polens Einstieg in die zivile Atomenergie zu beauftragen, veröffentlichte die französische Botschaft in Warschau im November 2022 ein kurzes Kommuniqué zum Angebot, das Frankreich im selben Zusammenhang über den Konzern EDF (Électricité de France) unterbreitet hatte. Wochenlang hatten die polnischen Medien immer wieder davon berichtet, dass man in Warschau unmittelbar davor stünde, eine Wahl zwischen den vorliegenden Offerten aus den USA, Frankreich und Südkorea zu treffen. Die Stellungnahme der Botschaft las sich aus dieser Sicht wie ein defensiver Versuch, hinsichtlich der dominierenden polnischen Berichterstattung gegenzusteuern und zu unterstreichen, dass Frankreich nach wie vor fest im Sattel sitze und weiterhin imstande sei, dem sich angesichts des bereits angekündigten Kohleausstiegs abzeichnenden polnischen Bedarf in Sachen Atomenergie zu entsprechen.

Polens Interesse am Bau von Atomkraftwerken ist nicht neu, und Frankreich hatte bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts seine Bereitschaft kundgegeben, zum Entstehen des ersten polnischen AKW beitragen zu wollen bzw. zu können. Ein wesentlicher Schritt und Meilenstein auf dem Weg zur polnisch-französischen Zusammenarbeit in dem Bereich sollte die Unterzeichnung des bilateralen Abkommens über die „strategische Partnerschaft“ zwischen beiden Staaten darstellen. Der Abschluss dieses Vertrags zur Stärkung und Intensivierung der Beziehungen zwischen Polen und Frankreich sollte ab 2008 insbesondere dazu dienen, den Austausch in Handel, Technologie und Forschung zu fördern. Dabei kam vor allem der Kooperation im Energiesektor und in der Raumfahrtindustrie eine wichtige Rolle zu, was bei gegenseitigen offiziellen Besuchen in Paris und Warschau in den folgenden Jahren stets unterstrichen wurde. Bereits im September 2011 konnte der damalige französische Ministerpräsident François Fillon zufrieden feststellen, dass etwa die engere Zusammenarbeit zwischen dem Commissariat à l’Énergie atomique und seinem polnischen Partner im Rahmen des Programms „Polonium“ zu einer Verdoppelung des Austauschs zwischen Forschern beider Länder geführt hatte. Auch zwischen Universitäten und Forschungseinrichtungen wurden Kontakte geknüpft und ausgebaut, die es u.a. polnischen Studenten und jungen Forschern ermöglichten, in Frankreich Know-How im Sektor der Kernenergie zu sammeln. Eine wesentliche Rolle spielte darin auch der Großkonzern Areva, wobei neben Aspekten der Fortbildung und Spezialisierung zukünftiger Ingenieure ein nicht unwichtiges Moment der Lobbyarbeit für den französischen Atomsektor mitschwang.

Für Frankreich war die Kernkraft schon seit General Charles de Gaulles Plan, das Land mit der Atombombe auszustatten, sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich ein Attribut der Souveränität und energetischen Unabhängigkeit; auch in einem veränderten europäischen und internationalen Umfeld bleibt sie es sechzig Jahre später immer noch. Im Laufe der Jahrzehnte ist der französische Atomsektor zu einem der international führenden geworden, und man unterstreicht in Paris immer wieder, dass man das französische Savoir-faire in diesem Bereich auch bereit ist, zu exportieren. Allerdings ist aus der Sicht potenziell interessierter ausländischer Partner die Entscheidung, sich für den Aufbau des eigenen AKW-Netzes mit Frankreich auf eine engere technologische Zusammenarbeit einzulassen, in der Tat eine strategische, setzt sie doch voraus, dass eine solche bilaterale Kooperation – wie für Großinvestitionen in diesem Wirtschaftszweig üblich – von der Konzeption zur Realisierung mindestens zehn bis zwanzig Jahre in Anspruch nimmt. Für Warschau stellt sich also bei der Wahl seines Partners die Frage nach langfristigem Engagement in einem Bereich, der gerade in Hinblick auf Polens geografische Lage in Europa abgesehen von der energiepolitischen Bedeutung nicht zuletzt sicherheitspolitische Implikationen hat, wie zuletzt der Krieg in der Ukraine verdeutlicht. Ein wichtiges Element der Entscheidung beruht auf der gegenseitigen Wahrnehmung und dem Vertrauen bezüglich der Erwartungen an den zukünftigen bilateralen Beziehungen im internationalen Kontext.

So waren denn im Laufe der seit rund fünfzehn Jahren bestehenden strategischen Partnerschaft zwischen Polen und Frankreich die Teilerfolge und Enttäuschungen der französischen Atomindustrie in Polen auch stets ein Spiegelbild des Stands der polnisch-französischen Beziehungen. Erfuhren diese eine Besserung, wie etwa zu Beginn von François Hollandes Präsidentschaft 2012, zeichnete sich ebenso eine Annäherung der Interessen zwischen beiden Ländern in Sachen Kernkraft ab. Allerdings lässt sich die Dynamik in dem Bereich der Zusammenarbeit nicht ausschließlich auf die bilaterale Ebene zurückführen. Vielmehr war sie immer auch ein Ausdruck der polnischen Wahrnehmung internationaler Risiken, allen voran vonseiten Russlands. Polens Partnerwahl für den Bau seiner ersten AKW bestätigt die Logik seiner sicherheitspolitischen Prioritäten – und dies nicht erst in den vergangenen Jahren, sondern grundsätzlich schon seit 1989. Aus der Entscheidung, Ende 2022 die Vereinigten Staaten Frankreich vorzuziehen, lässt sich eine unübersehbare Kontinuität in der polnischen Perzeption sicherheitspolitischer Erfahrungen und Perspektiven herauslesen: So wie der Beitritt zur NATO in den 1990er Jahren das Herzstück der polnischen Staatsräson darstellte, der auf der Wahrnehmung basierte, im Ernstfall sei nur auf die USA Verlass, so gestaltete sich beispielsweise in Sachen Bewaffnung 2016 die Zurückweisung der Caracal-Hubschrauber zugunsten US-amerikanischer Black Hawks.

Im engeren Sinne hat in vielerlei Hinsicht die Entwicklung der französisch-russischen Beziehungen im Laufe des vergangenen Jahrzehnts die Qualität der Kontakte zwischen Warschau und Paris geprägt und dazu beigetragen, das Aufkommen von Unstimmigkeiten und Spannungen zu fördern. Von der unwillig akzeptierten höheren Notwendigkeit, aufgrund der Annexion der Krim (März 2014) den geplanten Verkauf zweier Mistral-Hubschraubträger an Russland im August 2015 schließlich unter dem Druck der westlichen Partner doch zu stornieren, über den Versuch Emmanuel Macrons, im Sommer 2019 Vladimir Putin wieder salonfähig(er) zu machen und den bilateralen Beziehungen zwischen Paris und Moskau zu neuen Impulsen zu verhelfen, bis hin zu den sich im Frühling 2022 nach der russischen Großoffensive in der Ukraine wochenlang und effektlos wiederholenden Telefonaten zwischen den beiden Präsidenten auf der Suche nach einem eventuellen konfliktschlichtenden Kompromiss im russisch-ukrainischen Krieg, all diese Signale einer traditionsreichen Tendenz Frankreichs, Russland mit milderen Blicken zu betrachten, als es Polen (und andere ostmitteleuropäische Akteure) taten, verdeutlichte für Warschau die Distanz zwischen französischen und polnischen Sicherheitsinteressen in Europa. Dass sich Frankreich sehr wohl – insbesondere in den vergangenen Monaten seit dem 24. Februar – mehrmals deutlich vom Kreml distanziert hat und auch weiterhin der Ukraine beisteht, ändert nichts an dieser polnischen Wahrnehmung, die gerade in den Reihen der aktuellen Regierungsparteien in Warschau ebenso zu den Grundperzeptionen der internationalen Politik gehört wie auch die Einschätzung des deutschen Partners.

Aus dieser breiteren – geopolitischen – Perspektive liest sich Polens energiepolitische Wahl zwischen dem französischen, US-amerikanischen und südkoreanischen Angebot zum Bau der ersten polnischen AKW also durchaus als ein Hinweis auf Warschaus sicherheitspolitische Prioritäten. In dem Fall hat sich erneut gezeigt, dass Polen kontinentalen Lösungen die atlantische Option vorzieht. Die Entscheidung ergibt sich letzten Endes nicht nur aus dem Vergleich des Preisleistungsverhältnisses der verschiedenen Angebote und entspringt auch nicht – bzw. nicht ausschließlich – den Erwartungen in Hinblick auf das dargelegte Know-How der jeweiligen Anbieter. In dieser Hinsicht kann Frankreich nämlich problemlos mit den USA konkurrieren. Vielmehr aber speist sich Polens Beschluss an der historisch bedingten Unsicherheit und auf Erfahrung basierenden Zweifeln sowohl an der Bereitschaft als auch an der Fähigkeit der führenden europäischen Akteure im Allgemeinen und Frankreichs im Besonderen, in eventuellen Notsituationen für Polens Souveränität als Partnerland einzustehen. Diese Wahrnehmung in Bezug auf Frankreich wird auch zusätzlich dadurch genährt, dass die französische Außenpolitik – insbesondere angesichts der Beziehungen zu den ostmitteleuropäischen EU-Mitgliedstaaten, den östlichen Nachbarn der EU und Russland – vor allem in den letzten Monaten immer wieder durch gewisse Inkonsistenzen an Leserlichkeit eingebüßt haben mag. Mit seinem diplomatischen Pendeln zwischen entschiedener, auch militärischer Unterstützung der Ukraine und besänftigenden Worten an den Kreml sorgt die französische Außenpolitik unter der Präsidentschaft Emmanuel Macrons in Warschau ebenso für Irritationen wie aus Paris betrachtet der Versuch der PiS-Regierung, das polnische Justizwesen auf ihre eigenen parteipolitischen Interessen zuzuschneiden.

In Zeiten der grünen Energiewende mag es für Frankreich zwar ausschlaggebend sein, im Kontrast zur isolierten Entscheidung Deutschlands den Kreis der Befürworter der Kernkraft in Europa noch zu erweitern. Frankreichs Heraufbeschwörung der französisch-polnischen Freundschaft schafft es allein jedoch nicht (mehr), ein selbstbewusster gewordenes Polen für die eigene Sache zu gewinnen. Es wird wohl aus Paris betrachtet mitunter befremdlich wirken, doch heute wird in Warschau Frankreichs Anziehungskraft und Glaubwürdigkeit nicht zuletzt an dessen Haltung im Ukraine-Krieg gemessen. Über Kyiv führt auch der Weg zu einer strahlenden polnisch-französischen Zukunft.

 

 

 

Pierre-Frédéric Weber

Pierre-Frédéric Weber

Dr. habil. Pierre-Frédéric Weber ist Historiker und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität zu Szczecin (Polen). In seinem jüngsten Buch befasst er sich mit dem Phänomen der Angst vor Deutschland in Europa seit 1945 ("Timor Teutonorum", Schöningh, Paderborn 2015).

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