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Nach Bratislava: Frankreichs neue (?) Ostpolitik

Emmanuel Macrons Anwesenheit in Bratislava Ende Mai, anlässlich des GLOBSEC 2023, war an sich schon ein Ereignis, hatte doch bislang kein französischer Staatspräsident an dieser bereits seit 2005 bestehenden, jährlichen und mittlerweile hochkarätigen internationalen Sicherheitskonferenz teilgenommen. Noch bemerkenswerter war die Tatsache, dass er die Abschlussrede des Forums hielt. Am wichtigsten jedoch waren zweifelsohne die neuen Akzente, die er in seiner Aussage bezüglich der Gegenwart und Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur setzte. Macrons Vortrag in der slowakischen Hauptstadt wurde inzwischen schon in allen Einzelheiten kommentiert. Angesichts sowohl der Entwicklung der Lage in der Ukraine als auch in Rückblick auf den jüngsten NATO-Gipfel in Vilnius gewinnt die Stimme des Élysée-Palasts im breiteren europäischen Kontext und vor dem Hintergrund der französischen Europapolitik – gestern und heute – allerdings noch an Bedeutung.

Die ersten Monate nach Beginn der russischen Großoffensive 2022 gegen die Ukraine hatten zunächst den Eindruck geweckt, Paris sei daran gelegen, Moskau möglichst auf diplomatischem Wege zu einem Kompromiss zu bringen, indem durch wiederholten telefonischen Kontakt zwischen Macron und Wladimir Putin versucht wurde, auf den Kreml deeskalierend einzuwirken. Ergebnislos, wie man weiß. Was blieb, waren unzählige Memes zu den französisch-russischen Telefonaten und vor allem das Bild einer gewissen Zögerlichkeit vonseiten der französischen Diplomatie im Ukrainekrieg. In den folgenden Monaten mag sich Frankreich zwar tatsächlich immer klarer für die Verteidigung der Ukraine positioniert haben, wovon nicht zuletzt die Zunahme französischer Waffenlieferungen zeugte. In Bratislava aber bekannte sich Präsident Macron zum ersten Mal mit solcher Deutlichkeit im Namen Frankreichs und anderer westlicher Staaten dazu, man hätte in der Europäischen Union die zutreffende Einschätzung der ostmitteleuropäischen Partner in Hinblick auf die russische Bedrohung nicht genug – und zu spät – gelten lassen. Anders als bei Bundeskanzler Olaf Scholz gleich nach dem russischen Überfall beschwor Macrons Rede keine „Zeitenwende“ herauf, doch sein Kundera-Zitat vom „gekidnappten Westen“ bewies, dass seine Sicht auf die internationale Konstellation und die Risiken für Europa einen tiefgreifenden Wandel durchgemacht hatte: Russland habe „seit fünfzehn Jahren versucht, die gesamte europäische Sicherheitsarchitektur umzustürzen, um sie nach eigenen Maßstäben umzugestalten“. Dieses bis vor wenigen Monaten noch vorwiegend in den ostmitteleuropäischen Hauptstädten geltende Narrativ zur russischen Europapolitik ist nun auch in Paris angekommen und als legitim angenommen worden.

Vor siebzig Jahren, im März 1953, hatte der damalige französische Außenminister Georges Bidault vor der Nationalversammlung den bekannten Satz formuliert, der den Tenor der europapolitischen Vorstellungen Frankreichs für die folgenden Jahrzehnte prägnant darstellte. So gälte es „Europa aufzubauen, ohne Frankreich aufzugeben“ (faire l’Europe sans défaire la France). Dies hieß je nach Gemengelage und Orientierung der jeweiligen Stellvertreter der französischen Exekutive mal mehr, mal weniger Souveränismus, doch die Tatsache blieb, dass jegliche Projekte europäischer Integration aus Paris betrachtet stets auch ein Mittel sein sollten, Frankreichs internationale Präsenz zu stärken. Das musste nicht gleichbedeutend sein mit dem Versuch, Europa für französische Zwecke zu instrumentalisieren, doch Frankreichs Ambitionen ließen aufgrund des auch viele Jahre nach dem Tod Charles De Gaulles nachwirkenden gaullistischen Narrativs langsamer nach als das tatsächliche internationale Durchsetzungsvermögen, das Paris zur Verfügung stand. Was dennoch als Grundstein der französischen Außenpolitik unter der Fünften Republik blieb, war der Anspruch auf mehr strategische Selbstständigkeit für Europa – nicht gegen die Vereinigten Staaten, sondern neben und mit ihnen. In dieser Hinsicht wies Macrons Rede in Bratislava Kohärenz mit der bereits zu Beginn seiner ersten Amtsperiode formulierten Vision für Europa auf – etwa in seiner Sorbonne-Rede von September 2017. Auch jetzt warb er erneut für mehr Zusammenarbeit und Integration in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU-Partner, wobei er diesmal viel stärker die transeuropäische Dimension seines Vorhabens betonte: Es sei ausschlaggebend, dass die ostmitteleuropäischen Akteure diese Politik mitgestalten.

Als ein Schritt in diese Richtung gilt es bestimmt, die unverhoffte Reaktivierung des Weimarer Dreiecks zu betrachten, das durch das Treffen vom 12. Juni in Paris aus dem Tiefschlaf geweckt wurde. Auch in dem Fall stand die europapolitische Agenda unter dem Zeichen des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine, der in der Stellungnahme der französischen, deutschen und polnischen Entscheidungsträger voller Beistand zugesichert wurde. In Paris traf das deutsche Motiv der Zeitenwende unter polnischer Teilnahme auf die französischen Autonomisierungspläne für Europa, die sich auch Bundeskanzler Scholz während der gemeinsamen Pressekonferenz zumindest im Allgemeinen zu eigen machte, indem er „ein noch einigeres, noch stärkeres und noch souveräneres Europa“ herbeiwünschte. Der polnische Präsident, Andrzej Duda, wiederum machte sich für die Aufnahme der Ukraine in die EU und die NATO stark.

Letzteres ist übrigens seit etwa Mitte Juni auch für Paris kein Tabu. Hatte Präsident Macron in Bratislava noch eher unverbindlich darauf hingewiesen, es sollte innerhalb des europäischen Sicherheitssystems einen Platz für die Ukraine geben, so spricht er sich nunmehr eindeutig für deren Aufnahme in das atlantische Bündnis aus – eine Position, die er auch vor wenigen Tagen in Vilnius vertreten und mit der beachtenswerten Ankündigung, Frankreich werde der Ukraine unverzüglich Langstrecken-Marschflugkörper SCALP liefern, bekräftigt hat. Für die NATO selbst sei der russische Überfall übrigens, so Macron, ein Elektroschock gewesen, der ihr gewissermaßen aus dem Ende 2019 von ihm monierten Hirntod herausgeholfen hätte. Komplizierter gestaltet sich aufgrund der geltenden Aufnahmekriterien die Frage nach der EU-Mitgliedschaft der Ukraine, für die im Übrigen nicht nur Macron eine zufriedenstellende Vorstufe sucht. Dabei muss er allerdings darauf achten, nicht den Fehler zu wiederholen, den sein Amtsvorgänger François Mitterrand Anfang der 1990er Jahre gemacht hatte, als er durch mangelnde Sicherheitsgarantien und eine allzu langfristige Beitrittsperspektive mit seinem Projekt einer Europäischen Konföderation verfehlt hatte, die ostmitteleuropäischen Partner zu überzeugen. Die Macronsche Konzeption einer Europäischen Politischen Gemeinschaft hat insofern bessere Chancen, als sie im Bewusstsein vom währenden russischen Bedrohungspotenzial entstanden ist und diesen Faktor mitdenkt.

Ostmitteleuropa scheint also per se für Frankreich an Bedeutung gewonnen zu haben. Dabei geht es – auch der ausgeprägten französischen Lobbyarbeit für Atomenergie in Polen zum Trotz – nicht darum, wie zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, Deutschland zu „umzingeln“ bzw. „einzudämmen“. Vielmehr lässt sich diese Orientierung als eine neue Gewichtung der außenpolitischen Interessen Frankreichs interpretieren, durch welche der südliche Topos natürlich nicht aufgegeben wird, den östlichen Herausforderungen jedoch Rechnung getragen wird. Auch das kam in Bratislava zum Vorschein, als Macron die transeuropäische Reziprozität der Interessen unterstrich: Ostmitteleuropa könne sich auf Frankreich verlassen, Frankreich wiederum wüsste die Teilnahme der Ostmitteleuropäer an sicherheitspolitischen und militärischen Einsätzen in Afrika zu schätzen.

Man würde meinen, es sei höchste Zeit gewesen, die gegenseitigen Verflechtungen zwischen östlicher und südlicher EU-Nachbarschaftspolitik zur Geltung zu bringen, die doch bereits die syrische Flüchtlingskrise von 2015/2016 gezeigt hatte. Dieses Bewusstsein wird aber nicht nur in Paris deutlicher. Obwohl in den Medien noch weitgehend übersehen, setzt sich auch die polnische Diplomatie dafür ein, Osten und Süden einander näher zu bringen. Neben der bereits im November 2015 im Zuge des russischen Einmarsches auf die Krim (Februar 2014) auf polnisch-rumänische Initiative hin gegründeten Bukarester Neun, die von der Ostsee zum Schwarzen Meer alle Staaten der östlichen EU-Flanke zu sicherheitspolitischen Diskussionen zusammenführt, ist nun im Mai dieses Jahres während eines Treffens zwischen den Außenministern Polens, Rumäniens und Spaniens in Valencia ein neues Dreieck ins Leben gerufen worden. Das sogenannte „Valencia-Trio“, das zunächst in Hinblick auf die ab dem 1. Juli laufende sechsmonatige spanische EU-Ratspräsidentschaft entstand, stellte eine anspruchsvolle Agenda vor, deren insgesamt sechsunddreißig Punkte neben europapolitischen Plänen auch breitere sicherheits- und verteidigungspolitische Themen ansprechen, die ebenfalls eine Stärkung der EU innerhalb der NATO anvisieren. Die Offizialisierung einer – nicht auf Anhieb offensichtlichen – polnisch-rumänisch-spanischen Interessengemeinschaft zeigt erstens, dass die Formel des Weimarer Dreiecks trotz oft hervortretender Schwierigkeiten und Spannungen noch Anklang findet. Dadurch wird aber zweitens klar, dass dies nicht das einzig mögliche Trio darstellt, es also auch andere ähnliche Konfigurationen aushalten muss. Drittens aber bestätigt sich der Trend einer größeren Initiative- und Kooperationsbereitschaft vonseiten der EU-Staaten, die aus westlicher Perspektive bislang eher als Peripherie betrachtet wurden – sei es im mediterranen Süden oder in Ostmitteleuropa.

Mit dem Ukrainekrieg gleitet der Schwerpunkt der EU mehr nach Osten. Macrons Rede in Bratislava hat veranschaulicht, dass man sich auch in Paris dessen im Klaren ist. In den kommenden Monaten könnte sich zeigen, inwiefern neben der Deutungshoheit nun auch die Definitionsmacht innerhalb der EU neu aufgeteilt wird.

 

 

 

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Pierre-Frédéric Weber

Pierre-Frédéric Weber

Dr. habil. Pierre-Frédéric Weber ist Historiker und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität zu Szczecin (Polen). In seinem jüngsten Buch befasst er sich mit dem Phänomen der Angst vor Deutschland in Europa seit 1945 ("Timor Teutonorum", Schöningh, Paderborn 2015).

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