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Frankreichs Abschied von Afrika?

In den vergangenen zwei Jahren hat Frankreich in afrikanischen Staaten, in denen es auch noch Jahrzehnte nach dem Dekolonisierungsprozess aufgrund gegenseitiger, wenn auch oftmals asymmetrischer Interessen sowohl wirtschaftlich als auch militärisch präsent geblieben war, immer deutlicher an Einfluss verloren. Der Trend hatte zwar bereits früher eingesetzt, doch diese allgemeine Entwicklung unterlag seit dem Rückzug der französischen Truppen aus Mali im Sommer 2022 einer nicht zu übersehenden Beschleunigung.

Die Geschichte der Beziehungen zwischen Frankreich und weiten Teilen des afrikanischen Kontinents reicht aus kolonialer Perspektive bis in die frühe Neuzeit zurück. Als inzwischen historisch zunehmend aufgearbeitetes Kapitel fiel Frankreichs Rolle im atlantischen Sklavenhandel insbesondere auf die Periode zwischen Ende des 17. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Mit dessen Abebben machte Frankreich allerdings einen zweiten kolonialen Anlauf, nachdem seine Niederlage im Siebenjährigen Krieg es um den größten Teil seiner bisherigen Kolonien zugunsten Englands gebracht hatte. Mit der Einnahme Algiers im Juli 1830 begann die Kolonisierung des afrikanischen Nordens und Nordwestens, die zur Eingliederung Algeriens und zur Schaffung Französisch-Westafrikas (1895) und Französisch-Äquatorialafrikas (1910) führte.

Während bereits der Erste Weltkrieg den kolonisierten Bevölkerungen Afrikas – durch die Teilnahme tausender afrikanischer Soldaten in den Reihen der britischen und französischen Armeen – vor Augen geführt hatte, dass die europäischen Kolonialmächte nicht unbesiegbar seien, stärkte der Zweite Weltkrieg wiederum die schon in der Zwischenkriegszeit aufkommenden zentrifugalen Unabhängigkeitsbewegungen. Diese kamen gerade im französischen Kolonialreich besonders zur Geltung, wo die Niederlage der Metropole 1940 und der langwierige Weg zur Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung die Legitimation der Kolonialmacht stark ins Schwanken brachten. Noch in der Euphorie der Kapitulation des „Dritten Reichs“ begann für Frankreich schon im Mai 1945 das schwierige und bis zu Beginn der 1960er Jahre auch blutige Kapitel der Dekolonisierung.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete für Frankreich nämlich noch lange nicht Frieden – zumindest in seinen Überseegebieten. Nach ersten Unruhen in Algerien gleich im Mai 1945, loderte es bereits 1947-1949 auf Madagaskar, während die französischen Kolonialtruppen in Indochina ab 1946 von den vietnamesischen Freiheitskämpfern unter der Führung Hồ Chí Minhs angegriffen wurden. Kaum endete der Dekolonisierungskrieg in Südostasien mit Frankreichs Rückzug und der Anerkennung der Unabhängigkeit der Nachfolgestaaten seines ehemaligen Kolonialgebiets aufgrund des Genfer Abkommens von Juli 1954, flammte nur ein paar Monate später das Unabhängigkeitsbestreben der Algerier noch kraftvoller auf. Damit begann wohl eines der dunkelsten Kapitel der unaufhaltsamen Dekolonisierung, das aufgrund geballter politischer Antagonismen innerhalb Frankreichs in Hinblick auf die Zukunft des französischen Kolonialismus die Vierte Französische Republik knapp vor den Abgrund eines militärischen Staatsstreichs drängte.

Die schwierige politische Stabilisierung des Landes gelang nur durch die Einführung einer neuen Verfassungsordnung nach der Rückkehr des Generals Charles De Gaulle an die Macht. Die Aufgabe Algeriens und die Anerkennung der algerischen Unabhängigkeit markierten wiederum das Ende der gewaltsamen Phase des französischen Dekolonisierungsprozesses im internationalen System des Kalten Kriegs, in dem Frankreichs bisheriger spätkolonialer Konservatismus als Anachronismus erschien. Doch selbst Frankreichs darauffolgende, schrittweise und weitgehend friedliche Anerkennung der Souveränität seiner restlichen afrikanischen Kolonien im Laufe der ersten Hälfte der 1960er Jahre läutete nicht Paris’ vollkommenen Rückzug aus seinem umfangreichen geopolitischen Einflussgebiet ein. Sogar nach acht Jahren grausamen Kriegs schafften es Algerien und Frankreich aufgrund zusätzlicher Abmachungen im Rahmen der Verträge von Évian (März 1962), einen Kompromiss zu erreichen, durch welchen Frankreich Algerien technisch und wirtschaftlich zu seinem Neuanfang unterstützte, während Algerien sich dazu einverstanden erklärte, Frankreich privilegierten Zugang zu seinen Erdgasvorkommnissen zu gewähren, und sowohl Paris’ Atomtests in der algerischen Wüste als auch vorläufig (bis 1971) eine französische militärische Restpräsenz auf seinem Territorium tolerierte.

Das Ende der französischen Kolonialordnung verlief in den meisten anderen Ländern des afrikanischen Kontinents friedlicher und ermöglichte es Paris weitgehend, wenn auch unter anderen Anzeichen, weiterhin einen starken Einfluss auf das politische und wirtschaftliche Geschehen der postkolonialen Nachfolgestaaten zu behalten und als teilweise selbsternannte Schutzmacht zahlreiche militärische Stützpunkte in der Sahelzone, vom Atlantik bis zum Indischen Ozean (Dschibuti) aufrechtzuerhalten. Länder wie etwa Mali oder Niger hatten für die Versorgung der französischen atomaren Ansprüche – sowohl im zivilen, als im militärischen Bereich – einen hohen Stellenwert inne. Überhaupt lag der Zugang zu hochwertigen und zum Teil seltenen Erzen im strategischen Interesse Frankreichs – von De Gaulle bis heute. Allerdings hat im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts die französische Afrikapolitik einen Wandel durchgemacht. Die ersten rund dreißig Jahre standen noch unter dem berüchtigten Schlagwort „Françafrique“, das für Frankreichs politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung von bzw. Zusammenarbeit mit zum Teil diktatorischen Regimes (z.B. in der Zentralafrikanischen Republik) stand und die ehemaligen Kolonien de facto als pré carré erklärte, in dem Paris je nach Interessenlage den einen oder anderen Kräften vor Ort unter die Arme half oder auf eigene Faust durch (nicht unbedingt verdeckte) Operationen den französischen Interessen günstige Regimewandel hervorrief. In dieser Hinsicht handelten Frankreichs Regierungen und Staatspräsidenten jeder parteipolitischen Couleur unter Berufung auf die höhere Staatsräson auf ähnliche Weise.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs begann schrittweise eine Neuorientierung der französischen Afrikapolitik, eine klare Absage an die Praktiken des „Françafrique“ blieb jedoch noch lange aus. Immerhin aber legte Paris eindeutig mehr Wert auf die Unterstützung von Demokratisierungsprozessen und die Respektierung der Menschenrechte vonseiten seiner afrikanischen Partner. Der Wandel in Frankreichs Umgang mit den afrikanischen Staaten seines ehemaligen Kolonialreichs war zum Teil das Ergebnis eines inneren gesellschaftlichen Aufklärungs- und Lernprozesses, in dem auch die zunehmende Präsenz afrikanischer Einwanderer in Frankreich eine Rolle spielte. Nicht unerwähnt sollten hier allerdings externe Faktoren bleiben: Mit dem Aufstieg des islamistischen Terrors (beispielsweise in Kenia und Tansania im August 1998) gelangen die Interessen anderer Akteure, allen voran der Vereinigten Staaten, wieder stärker ins Blickfeld, was innerhalb des Westens auch gelegentlich zu Rivalitäten führte, aufgrund derer Frankreichs Position (etwa während des Bürgerkriegs in Ruanda, April-Juli 1994) kritisiert wurde. Aufgrund zunehmender Migrationen aus dem globalen Süden, in dem Afrika demografisch die Kernposition einnimmt, stieg auch das Interesse anderer europäischer Staaten an der Mitgestaltung der Beziehungen zwischen der EU und den afrikanischen Partnerstaaten. Zugenommen haben außerdem seit mehr als einem Jahrzehnt die devisenstarken Einflüsse der Volksrepublik China, deren Appetit auf Rohstoffe und Erze nicht nachlässt.

Frankreich hat seine Einflüsse auf dem afrikanischen Kontinent zwar nicht ausschließlich mithilfe von Hard Power aufgebaut und unterhalten. Bereits Mitte der 1960er Jahre, unter der Präsidentschaft De Gaulles, war man sich in Paris wohl bewusst, dass parallel zu den diplomatischen Anstrengungen, die bipolare Weltordnung des Kalten Kriegs durch mehr westeuropäische Autonomie und Initiative – gerade in der Dritten Welt – aufzulockern, auch alternative Wege zur Aufrechterhaltung zumindest eines Teils von Frankreichs Einfluss auf das Weltgeschehen nötig waren. Das Bewusstsein, dass Frankreich insbesondere durch Sprache und Kultur weiterhin über eine nicht zu unterschätzende „Strahlkraft“ (rayonnement) verfügte, hat sich durch entsprechende Maßnahmen einer aktiven auswärtigen Kulturpolitik bis heute bestätigt. Sowohl über die Internationale Organisation der Frankophonie (OIF) als auch durch bereits seit 1973 regelmäßig gehaltene Gipfeltreffen mit den Staatsoberhäuptern – und zuletzt mit Vertretern der Zivilgesellschaften – der (u.a. französischsprachigen) afrikanischen Staaten kann die französische Außenpolitik immerhin auf der Ebene der Soft Power weiterhin punkten.

Allerdings geht die in den letzten Jahren zunehmende Kritik an Frankreich und die Abkehr von bislang gepflegten Partnerschaftsverhältnissen etwa mit Mali oder Niger bis hin zu einer offen feindseligen Haltung vonseiten neuer – durch militärischen Staatsstreich oder Wahlprozess – an die Macht gekommene Entscheidungsträger neben dem Verlust bisheriger militärischer und wirtschaftlicher Vorrechte für Frankreich nun auch langsam mit der Erfahrung einer Eindämmung französischer kultureller und sprachlicher Einflüsse einher. Unterfüttert wird diese Neuorientierung der Beziehungen zu Frankreich mit antikolonialer Rhetorik, die auch von Moskau unterstützt wird. Die Leere, die durch den Rückzug bzw. die Umverteilung französischer Streitkräfte in Afrika entsteht, wird zum Teil durch russische Söldnergruppen aufgefüllt.

Zwar wird Afrika auch in Zukunft zu den global relevanten Projektionsfeldern der französischen Außenpolitik gehören, doch das unerwartete Scheitern von Frankreichs langjähriger Stabilisierungsstrategie in der Sahelzone wirft die Frage auf, inwiefern dessen strukturelle Fixierung auf den globalen Süden einen Wandel durchmachen könnte. Den zu begrüßenden Neustart von Emmanuel Macrons europäischer Ostpolitik im Kontext des Ukrainekriegs und das zunehmende Interesse an Ostmitteleuropa, das vor allem seit dem Frühling 2023 in Paris zu verzeichnen ist, sollte man gewiss auch im Zusammenhang mit den Problemen der französischen Afrikapolitik betrachten. Dennoch wäre es – zumindest aus Frankreichs Perspektive – zu früh, um ebenfalls in diesem Bezug eine „Zeitenwende“ auszurufen.

 

 

 

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Pierre-Frédéric Weber

Pierre-Frédéric Weber

Dr. habil. Pierre-Frédéric Weber ist Historiker und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität zu Szczecin (Polen). In seinem jüngsten Buch befasst er sich mit dem Phänomen der Angst vor Deutschland in Europa seit 1945 ("Timor Teutonorum", Schöningh, Paderborn 2015).

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