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Wissenschaft und Zivilcourage

Laudatio auf Professor Krzysztof Ruchniewicz, Historiker, Direktor des Willy Brandt Zentrums für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau, der am 1. Juni 2023 mit dem Viadrina-Preis 2023 der Europa-Universität Viadrina geehrt wurde.

 

Die Verleihung des Viadrina-Preises ist jedes Jahr ein besonderes Fest hier in Frankfurt an der Oder, im Herzen des deutsch-polnischen Grenzgebietes. Wir ehren Jahr für Jahr verdiente Europäerinnen und Europäer, deren Wirken vor allem Inspiration für die akademische Gemeinschaft der Europa-Universität ist und manifestieren zugleich unsere Verantwortung für die Freiheit der Wissenschaft und für die Werte der Demokratie. Die Verleihung des Viadrina-Preises ist auch ein Fest, bei dem wir unsere Freude über den Sieg der friedlichen Revolutionen der Jahre 1989-1991 ausdrücken – Revolutionen, die uns Demokratie, die Unabhängigkeit Deutschlands und Polens sowie die Öffnung der Grenze und die Wiederbegründung der Viadrina ermöglichten.

Demokratien und offene Gesellschaften brauchen Rituale, diese Preisverleihung ist ein wichtiges Ritual unserer offenen Gesellschaft.

Krysztof Ruchniewicz mit dem 22. Viadrina-Preis geehrt. H. Fest / Fotografenmeister /Europa-Uni Viadrina

Im Mittelpunkt des heutigen Viadrina-Feiertages steht Professor Krzysztof Ruchniewicz, einer der profiliertesten Kenner der deutsch-polnischen Geschichte. Der Breslauer Historiker ist ein renommierter Hochschullehrer, Forscher, Pädagoge und seit drei Jahrzehnten leidenschaftlicher Protagonist des deutsch-polnischen Dialogs. Von herausragender Bedeutung ist sein Wirken als Direktor einer des wichtigsten interdisziplinären Forschungseinrichtungen in Mitteleuropa, des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau (historisch gesehen, der Nachfolgehochschule der ersten, Anfang des 19. Jahrhunderts aufgelösten Viadrina).

Unsere heutige Preisverleihung soll uns, den hier Versammelten, Kraft und Zuversicht geben. Doch sollten wir nicht verdrängen, dass wir uns in besonders dramatischen Zeiten treffen. Wir ehren einen Historiker in einer Zeit neuer historischer Wendepunkte. Mehrere hundert Kilometer von Frankfurt und Słubice entfernt, erreicht ein bereits 2014 begonnener europäischer Krieg seinen vorläufigen Höhepunkt. Putins faschistisches Russland hat letztes Jahr erneut die Ukraine überfallen und stellt damit gewaltsam die Unabhängigkeit einer großen europäischen Nation in Frage. Es geht im Osten Europas um viel mehr als um die Freiheit der Ukraine. Mit diesem Krieg bekämpft der russische Diktator die positiven Folgen des Epochenumbruchs der Jahre 1989-1991, eines Epochenwechsels, der Krzysztof Ruchniewicz geprägt hat, dessen demokratischen Werten und dessen friedlicher Kultur der Verständigung zwischen den demokratischen Nationen er sich verpflichtet fühlt.

Einen dramatischen Bruch Regierender mit den Werten der friedlichen Solidarność-Revolution erleben wir in diesen Tagen in Polen. Mit der Einführung einer Sonderkommission zur Klärung russischen Einflusses in der Republik Polen wird nicht nur Stimmung gegen die Opposition gemacht. Die Einführung dieses nationalistischen Revolutionstribunals setzt die Zerstörung des Rechtsstaates fort. Wenige Monate vor den Sejm- und Senatswahlen wird die Chance auf faire Wahlen wesentlich eingeschränkt, die Polarisierung der Gesellschaft verschärft.

Der aggressive Neoimperialismus Russland, die Zerstörung der Demokratie durch nationalistische Politiker in Polen und Ungarn, aber auch die antieuropäische, fremdenfeindliche Politik extremistischer Parteien auf unserem Kontinent, auch in Deutschland, sie alle bedienen sich der Geschichte, um ihren autoritären Machtanspruch zu legitimieren. Mit einem neuen nationalistischen Eifer produzieren sie historische Lügen, Legenden und Stereotype, nicht nur um an die Macht zu kommen, sondern auch um die im Rechtsstaat so wesentliche Gewaltenteilung und die Kontrolle der Regierenden einzuschränken.

Ein ganz wichtiges Instrument neoautoritärer Politik ist die ideologische Kritik des Westens, in Polen vor allem der Europäischen Union. Die Autorität der EU als politische und rechtliche Gemeinschaft soll untergraben werden, um die Kompetenzen der Justiz und des Parlaments im eigenen Staat einzuschränken. Die Zurückweisung der europäischen Gemeinschaft ist in einem Land wie Polen, in dem die Europäische Union einen sehr hohen Zuspruch erfährt, nicht leicht. Diese Zustimmung zur Verankerung Polens in westliche Gemeinschaft ist durch die russische Aggression noch stärker geworden. Für die in Polen Regierenden ist es daher schwer, europäische Verträge, die Polen in den letzten zwei Jahrzehnten mitgeprägt hat, in Frage zu stellen. Die Distanz zur EU wird über den Aufbau eines antideutschen Feindbildes hergestellt. Ein Instrument der historischen Manipulation und der antideutschen Propaganda ist die Forderung der PiS-Regierung nach Kriegsreparationen.

Mit einer negativen Deutschland-Politik will die Regierungsmehrheit mit Hilfe der von ihr kontrollierten Medien, Kulturinstitutionen, Stiftungen und wissenschaftlichen Einrichtungen nicht nur Misstrauen gegenüber dem Nachbarn mehren, sondern vor allem die politische Autorität der Gründungsmütter und -Väter der Dritten Republik beschädigen, also derjenigen, die auch für die Neubegründung der deutsch-polnischen Nachbarschaft nach 1989 eintraten. Also die politische Glaubwürdigkeit von Lech Wałęsa, Tadeusz Mazowiecki, Bronisław Geremek, Krzysztof Skubiszewski, von Aleksander Kwaś niewski oder Donald Tusk.

Dieser nationalistische Kulturkampf geht aber weit über die politischen Akteure hinaus. Von der nationalistischen Propaganda werden auch gesellschaftliche Protagonisten des deutsch-polnischen Dialogs angegriffen: Journalisten, Publizisten, deutsche Korrespondenten in Polen, aber auch prominente Wissenschaftler, die sich mit den deutsch-polnischen und polnisch-jüdischen Beziehungen auseinandersetzen.  Die kritisierten Wissenschaftler versuchen mit ihren Forschungsergebnissen und publizistischen Einmischungen, ein von der staatlich gelenkten Propaganda unabhängiges Bild der Geschichte, vor allem der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, zu vermitteln. Neben den dunklen Kapiteln der deutsch-polnisch-jüdischen Beziehungsgeschichte erforschen viele von ihnen auch den Widerstand gegen die autoritären Regime, sowie die Bemühungen um Versöhnung und Verständigung zwischen den Nationen. Sie sind für die populistischen Ideologen eine Konkurrenz, weil sie versuchen, dieses Wissen in die breite Gesellschaft zu transferieren. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der demokratischen Kultur.

Zu den in den letzten Jahren am heftigsten angegriffenen Kennern der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte zählen Professor Anna Wolff-Powęska, Professor Robert Traba, der vor zwei Jahren viel zu früh verstorbene Professor Włodzimierz Borodziej und auch unser Preisträger, Krzysztof Ruchniewicz, ein Wegbegleiter und Freund Borodziejs. Sie alle wurden und werden als Anwälte „deutscher“, sprich „antipolnischer“ Politik beschimpft.

Basil Kerski. H. Fest / Fotografenmeister /Europa-Uni Viadrina

Welche Dimension diese Angriffe auf die historische Forschung und den deutsch-polnischen Diskurs erreichen können, verdeutlichte Anfang der Woche ein schockierendes Ereignis im Deutschen Historischen Institut in Warschau. Der rechtsradikale, antisemitische Sejm-Abgeordnete Grzegorz Braun zerstörte die Rednertribüne und das Mikrofon des Instituts, um einen Vortrag von Professor Jan Grabowski, eines international angesehenen Holocaustforschers, zu verhindern. Braun setzte seine Gewalt auch verbal ein, indem er Wissenschaftlern des DHI die Kompetenz und das Recht absprach, sich am polnischen Diskurs zur europäischen Geschichte zu beteiligen. Demokraten in Polen sind unter Schock, denn die Bilder aus dem DHI wecken Erinnerungen an die autoritären und faschistischen Revolutionen der 1930-Jahre.

Professor Krzysztof Ruchniewicz habe ich in den letzten Jahren als einen mutigen Wissenschaftler mit Zivilcourage erlebt. Auf die nationalistische Wiederbegründung Polens nach 2015 reagierte er nicht mit einem Rückzug in weit von der Öffentlichkeit agierende akademische Zirkel oder Forschungsvorhaben. Professor Ruchniewicz hat sich als Historiker nicht von der Gegenwart abgewandt. Mit einer beeindruckenden Produktivität als Publizist, Vortragender, Blogger, Fotograf, Initiator von Debatten, Konferenzen und Publikationen, setzt er seine wissenschaftlichen Kompetenzen ein, um zu wichtigen Fragen der Demokratieentwicklung und der deutsch-polnischen Beziehungen (gegen den nationalistischen Gegenwind) öffentlich Stellung zu nehmen.

Bedeutsam ist seine Stimme als Experte für Reparations- und Entschädigungsfragen, ein Thema, das er in seiner Habilitationsschrift erforscht hat. Für den öffentlichen Europadiskurs in Polen sind auch seine Kenntnisse der deutschen Widerstands- und Demokratiegeschichte relevant, die seine Publikationen und Ausstellungen zum Kreisauer-Kreis, Konrad Adenauer und Willy Brandt dokumentieren. Von großer Bedeutung für den Kampf gegen nationalistische Geschichtsverfälschung ist seine Kenntnis der deutsch-polnischen Nachbarschaftsgeschichte, vor allem des Epochenwechsels der Jahre 1989 und 1990, als durch den Zwei-Plus-Vier-Vertrag und den Nachbarschaftsvertrag die rechtlichen Grundlagen für die neue politische Ordnung Europas gelegt wurden.

Gemeinsam mit Professor Jan Barcz konnte Professor Ruchniewicz nachweisen, wie unrealistisch und rechtlich wirkungslos Forderungen nach Kriegsreparationen im Lichte der europäischen Rechtsgeschichte sind. Zudem verwies Ruchniewicz darauf, dass eine Politik, die das staatliche Engagement auf individuelle Entschädigung richtet, erfolgreicher sei. Diese Politik sei auch in den Beziehungen zwischen Deutschland und Polen nach dem Krieg praktiziert worden. Rechtlich und politisch sei auch heute noch die Frage nach der individuellen Entschädigung polnischer Opfer sinnvoller als der symbolische Streit um staatliche Reparationen, so Ruchniewicz und Barcz.

Für die Entwicklung der Wissenschaft und Erinnerungskulturen sind aus meiner Perspektive von besonderer Bedeutung auch Professor Ruchniewicz‘ Arbeiten zur schwierigen Nachbarschaftsgeschichte der Bundesrepublik, der DDR, der Volksrepublik Polen und der polnischen Exilregierung. Neben den Beziehungen zwischen diesen staatlichen Akteuren erforscht Professor Ruchniewicz auch die Rolle nichtstaatlicher Akteure, also derjenigen, die sich auf deutscher Seite früh für die Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen und für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze einsetzten, sowie derjenigen Polen und Deutschen, die sich vor 1989 für Aussöhnung und für eine politische Gemeinschaft der Demokraten einsetzten. Mit diesem Forschungsschwerpunkt trägt Professor Ruchniewicz wesentlich zum Entstehen eines Bewusstseins für die demokratischen Traditionen im deutsch-polnischen Beziehungsgeflecht bei.

Seit seinem Studium war die deutsch-polnische Wissenschaftsgeschichte ein wichtiges Interessensfeld des Viadrina-Preisträgers. Der Geschichte der bilateralen Schulbuchkommission und den Bemühungen um eine grundlegende Reform des Bildungskanons, ganz im Sinne einer „Erziehung zur menschlichen Würde und nicht zum Hass“, wie es Leszek Kołakowski formuliert hat, sind viele grundlegende Arbeiten unseres Preisträgers gewidmet. Er selbst war viele Jahre an der Erarbeitung des neuen deutsch-polnischen Geschichtsbuches und anderer Lehrmaterialien beteiligt.

Bereits erwähnt habe ich Krzysztof Ruchniewicz‘ Faszination für mutige Menschen des Widerstands gegen die totalitären Regime. Eine Symbolfigur des antifaschistischen Widerstands, der europäischen Zusammenarbeit von Demokraten und der modernen Bundesrepublik ist ohne Zweifel Willy Brandt. Der sozialdemokratische Staatsmann, ehemalige skandinavische Publizist, norwegische Diplomat, Regierende Bürgermeister von West-Berlin und Bundeskanzler ist Namensgeber des von Professor Ruchniewicz 2002 mitgegründeten Zentrums für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau. Diese interdisziplinäre Einrichtung dient Dank der Arbeit von Professor Ruchniewicz und seines Teams nicht nur der Wissenschaftsförderung und Wissensvermittlung, sondern auch der Stärkung der kulturellen Bindungen in Europa. Europäische Solidarität, Empathie für die Nachbarn, das Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft entstehen auch durch Wissen, kulturelle Kenntnis und Begegnung zwischen den Menschen. Das Brandt- Zentrum ist somit ein Ort der Stärkung des europäischen Bewusstseins, der internationalen Solidarität.

Trotz der dunklen Wolken am europäischen Himmel bin ich zuversichtlich, dass Polen eine Demokratie bleibt. Die moderne polnische Kultur ist tief verwurzelt in der Idee der Freiheit und der Menschenrechte. Die Sehnsucht der Polen nach Freiheit hat der polnischen Nation nicht nur die Unabhängigkeit gebracht. Sie hat auch auf dem Kontinent die Räume der Demokratie erweitert und der europäischen Integration eine neue Richtung gegeben. Diese Zuversicht gibt mir auch das Wirken solch engagierter und couragierter Polinnen und Polen wie Professor Krzysztof Ruchniewicz.

Krzysztof, Du stehst hier heute für Millionen von Polinnen und Polen, für tausende von Wissenschaftlern und Hochschullehrern, die die Demokratie in Europa verteidigen.

Zuversicht geben mir die vielen Menschen in der Bundesrepublik, die die Lektionen des 20. Jahrhunderts verstehen, die sich couragiert politischen Extremisten entgegenstellen und mit der freien Ukraine sowie dem demokratischen Belarus soldarisieren.

Zuversicht gibt mir der Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer sowie der Demokratinnen und Demokraten aus Belarus. Dank Ihres Verteidigungskampfes können wir heute hier friedlich unser Viadrina-Fest feiern.

Der deutsch-polnische Dialog geht weiter, unter anderem dank Professor Krzysztof Ruchniewicz, dank seiner Mitarbeiter und dank Ihres Engagements, meine Damen und Herren, der hier versammelten Menschen.

Ihre Kompetenzen werden jetzt in der neuen Zeitenwende gebraucht. Durch den Krieg ist die politische Bedeutung der Ukraine und Polens enorm gewachsen, Deutschland muss seine Ostpolitik neu aufbauen. Der Frieden in Europa hängt wieder entscheidend von der deutsch-polnischen Zusammenarbeit ab, nicht nur auf der Staatsebene, sondern auch im wissenschaftlichen, universitären und im zivilgesellschaftlichen Bereich ab.

 

 

Basil Kerski

Basil Kerski

Basil Kerski ist Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig, Chefredakteur des zweisprachigen Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG und Vorstandsmitglied des polnischen PEN-Clubs. Er lebt in Danzig und Berlin.

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