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Deutschland nach der Zeitenwende: „Wir sind blank“ – militärisch wie mental

Arkadiusz Szczepański: Nach all den Umbrüchen des vergangenen Jahrhunderts konnte man noch bis vor kurzem meinen, dass wir immer noch im Schatten von München 1938 leben, gerade was das Verhältnis westlicher Regierungen gegenüber Mittel- und Osteuropa betrifft: „die Mächtigen dominieren, die Schwachen müssen weichen“. Das hat sich nach dem 24. Februar 2022 geändert. Für die Ukraine ist der russische Angriffskrieg ein Kampf um ihre Existenz, aber der Krieg hat auch gravierende Veränderungen für andere Länder nach sich gezogen. Was bedeutet der Krieg für Europa? Was für die Bundesrepublik?

Albrecht von Lucke: Auch für die Bundesrepublik hat sich fast alles fundamental geändert. Man könnte sagen, der 24. Februar ist das deutsche Nine Eleven, ein Supergau in der bisherigen deutschen Außen-, Sicherheits- und auch Wirtschaftspolitik, weil sich sämtliche Vorzeichen der bundesrepublikanischen Geschichte schier in Luft aufgelöst haben. In erster Linie der feste Glaube daran, dass solch ein Krieg, wie ihn Russland gegen die Ukraine führt, nicht noch einmal auf europäischem Boden möglich sei. In Syrien oder im wilden Kaukasus konnte solch ein Krieg stattfinden, so die deutsche Realitätswahrnehmung, aber doch nicht in Europa; schließlich wurde nach 1989 mit der Charta von Paris eine neue Friedensordnung etabliert, die die Unverletzlichkeit der Grenzen garantiert. Der russische Angriffskrieg hat den Glauben an diese neue Ordnung und an die vermeintliche „Friedensdividende“ nach dem Ende des Warschauer Paktes nun radikal zerstört. Zwar begann der Krieg bereits 2014, aber damals hegte man in Berlin noch die Hoffnung, der Krieg ließe sich eindämmen, Putin werde sich beschwichtigen lassen, es könne Zeit gewonnen werden – in gewisser Weise klassische Appeasementpolitik, insofern stimmt hier durchaus die Parallele zu 1938. Doch all das ist seit dem 24. Februar 2022 passé. Nun ist uns klar geworden, dass wir wieder auf Abschreckung, auf Frieden nicht mit, sondern gegen Russland setzen müssen. Doch, und das hat der oberste General des deutschen Heeres, Alfons Mais auf den Punkt gebracht: „Wir sind blank“ – und zwar beileibe nicht nur sicherheitspolitisch. Fast alles, was die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag verankert hatte, als sie als „Fortschrittskoalition“ die Regierungsverantwortung übernahm, ist von einer Sekunde zur anderen Makulatur geworden. Diese Erkenntnis dringt jetzt immer deutlicher in das gesamtdeutsche Bewusstsein.

Der brutale Angriffskrieg Russlands dauert nun über ein Jahr. Während die Ziele Russlands klar sind und weltweit von Experten breit diskutiert wurden, auch die Ziele der Ukraine bekannt sind, stellt sich immer noch die Frage, wie die westlichen Unterstützer der Ukraine ihr Ziel definieren, um den Krieg zu beenden. Wir haben oft von amerikanischer und deutscher Seite gehört, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren darf. Auf der anderen Seite ermöglicht das Ausmaß der militärischen Unterstützung durch den Westen der Ukraine jedoch nicht, den Krieg schnell zu gewinnen. Wie verstehen Sie diesen politischen und strategischen Widerspruch? Wäre es nicht an der Zeit, dass der Westen eine klare Zielsetzung bekanntgibt?

Die Ukraine ist natürlich bestrebt, sämtliche besetzten Gebiete zurückzuerobern, inklusive der Krim. Aus ukrainischer Perspektive ist diese Forderung ein notwendiges Ziel, alles andere wäre das Eingeständnis eines massiven Verlusts, um nicht zu sagen einer Niederlage. Die Unterstützer der Ukraine müssten dagegen ehrlicherweise klar kommunizieren – und ich vermute, sie tun das längst im Hintergrund –, dass die Ziele des Westens davon durchaus abweichen. Es geht zunächst und im Kern darum, die Ukraine vor weiteren Gebietsverlusten zu bewahren und den russischen Imperialismus zu stoppen, und erst sekundär um die Rückeroberung verlorener Gebiete. Das ist ein erheblicher Unterschied. Bundeskanzler Olaf Scholz sagt deshalb nicht, dass die Ukraine siegen muss, denn es gilt der oberste Grundsatz, dass sich die NATO nicht am Krieg beteiligen und der Krieg nicht auf NATO-Gebiet ausgeweitet werden darf. Das verlangt äußerste Vorsicht im Hinblick auf eine mögliche Eskalation der Kampfhandlungen. Die Regierungschefs der westlichen Unterstützer sind qua Verfassung in erster Linie dazu verpflichtet, Schaden von ihrer eigenen Bevölkerung fernzuhalten. Speziell die Rückeroberung der von Russland besetzten Krim könnte eine unabsehbare Eskalation – auch eine atomare – und eben auch direkte Ausweitung des Krieges auf die NATO nach sich ziehen. Das wird weder der Kanzler in Kauf nehmen noch der US-Präsident. Es gibt insofern keine völlige Übereinstimmung zwischen den ukrainischen und westlichen Interessen. Das ist – leider – die brutale Realität.

Auf der anderen Seite müsste gerade der Bundeskanzler der deutschen Bevölkerung viel deutlicher mitteilen, dass die Ukraine auch einen Kampf für ganz Europa austrägt, denn die russischen Expansionsbestrebungen gehen weiter als nur bis zur polnisch-ukrainischen Grenze. Daher ist es in unser aller Interesse, die Ukraine zu unterstützen, die tagtäglich einen immens hohen Blutzoll für die Freiheit Europas zahlt.

Und dass deshalb Waffenlieferungen auch im deutschen Interesse sind…

Ganz genau. Die mangelnde Kommunikation mit der eigenen Bevölkerung hinsichtlich der Dimension dieses Krieges hatte bislang zur Folge, dass in Deutschland endlose Debatten geführt wurden und die Waffenlieferungen viel zu langsam vonstattengingen, wie es soeben auch Wirtschaftsminister Robert Habeck in Kiew eingestanden hat (obwohl gerade er schon frühzeitig die Lieferung von Waffen zur Verteidigung gefordert hatte). Auch dadurch hat die Ukraine 2022 viel Territorium verloren, das jetzt mit hohen Verlusten wiedergewonnen werden muss – ein Kardinalvorwurf der Ukrainer an uns, der berechtigt ist. Hätte man schneller reagiert, hätte man auch stärker die Ukraine von Anfang an unterstützt, wäre möglicherweise ein erheblicher Teil der Gebiete nicht an Russland verloren gegangen.

Nicht nur Deutschland, auch andere NATO-Staaten haben zu Beginn des Krieges nicht damit gerechnet, dass die russische Armee derart schlecht organisiert sei und die ukrainischen Streitkräfte einen solch heroischen Widerstand leisten würden. Am Anfang setzten die Unterstützer-Staaten darauf, Waffen für einen Partisanenkampf zu liefern – Maschinengewehre und Panzerfäuste. Das schwere Gerät kam erst, nachdem Kiew nicht gefallen war, nachdem die Ukrainer gezeigt haben, dass man die „zweitbeste Armee“ der Welt aufhalten kann…

In der Tat gab es am Anfang bloße Zurückhaltung seitens des Westens in Erwartung einer schnellen Niederlage der Ukraine. Wobei man den Amerikanern zugutehalten muss, dass sie konsequenterweise nach 2014 die Ukraine so ausgestattet haben, dass sie heute überhaupt verteidigungsfähig ist. Deutschland dagegen hat bis zuletzt gezögert, die Ukraine mit schwerem Gerät zu versorgen. Doch der Glaube daran, man könnte den Krieg letztlich durch Verhandlungen verhindern, hat sich als absolut falsch erwiesen. Und ich würde dem Westen noch einen weiteren Vorwurf machen: Wir haben die Ukraine auf halber Strecke hängen lassen. Erst wurde der Ukraine insbesondere seitens der USA die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt – dieses Ziel fand dann sogar Eingang in die ukrainische Verfassung –, aber das Angebot hat der Westen nie konkretisiert. Daher wäre eine stark militärisch abgesicherte Neutralität für die Ukraine vermutlich besser gewesen. So aber blieb die Ukraine quasi im geostrategischen Niemandsland und wurde umso mehr zum Objekt russisch-imperialer Ambitionen. Dass wir in Deutschland den Putinschen Revisionismus nie wirklich ernst genommen haben, ist eine ganz bittere Erkenntnis der letzten 20 Jahre.

Deutschlands Fehleinschätzung Russlands war in vielfacher Hinsicht fatal. Trotz Warnungen aus Polen, der Ukraine, den baltischen Staaten und den USA wurde der Bau von Nord Stream 2 abgeschlossen, Russlands Aggressivität in der Ukraine und Syrien weitestgehend ignoriert, die eigene Verteidigungsfähigkeit komplett vernachlässigt, gleichzeitig hat Deutschland immer wieder eine Führungsrolle in Europa beansprucht. Und nun stellen sich viele Partner in Europa die Frage, welche Ursachen dieser Missperzeption zugrunde liegen?

Das hängt mit der bundesrepublikanischen Mentalitätsgeschichte zusammen, mit der Verarbeitung der Erfahrungen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Nach 1945 wurde das Freund-Feind-Denken als eine der zentralen Ursachen für die deutschen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts erkannt. Daher sollte sich diese Denkkategorie nie wieder in Deutschland etablieren. Dabei hat man aber völlig verdrängt, dass andere Staaten – und insbesondere Russland – nie aufgehört haben, weiterhin nach solch einem Schema zu denken und ihre Politik zu betreiben. „Nie wieder Krieg von deutschem Boden“ lautete die deutsche Devise. Wir wollen nie wieder schuldig werden. Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte nach 1945 führte uns auf eine mentale Bahn, in der wir uns selbst als einzige Quelle des Bösen in Europa identifiziert haben. Wir dachten: Wenn wir nun gut würden, so verschwände das Böse und der Friede werde gesichert. Eine naive und ausgesprochen selbstbezügliche, um nicht zu sagen narzisstische Vorstellung. Denn wer den Frieden sichern und dabei, wie es der jetzige Bundeskanzler wie auch seine Vorgänger verkündet hat, eine Führungsrolle übernehmen will, der muss dies auf verschiedenen Ebenen tun, und zwar durchaus auch mit militärischen Mitteln. Unsere europäischen Partner haben immer wieder versucht, uns dies bewusst zu machen – etwa Polens ehemaliger Außenminister Sikorski, der ganz direkt mehr deutsche Verantwortung für die Sicherheit Europas einforderte. Ich glaube aber, dass Deutschland dies aufgrund seiner radikalen mentalen und militärischen Selbstpazifizierung nicht wollte und bis heute nicht wirklich will.

Jetzt ist das Grauen in Europa wieder da und es besteht die zwar geringe, aber doch potentielle Gefahr, dass der Krieg auch auf NATO-Bündnispartner übergreift. Wie stünde es in solch einem Fall um die deutsche Handlungsbereitschaft?

Ich will es deutlich formulieren: Ob in Deutschland eine derart mutige, aufopferungsvolle Verteidigungsbereitschaft vorhanden wäre, wie sie die Ukrainer zeigen, daran muss man große Zweifel haben. Polen wäre sicherlich viel bereiter, sich dem Aggressor entgegenzustellen. Wie schon gesagt, beide Weltkriege prägen das kollektive Bewusstsein der Deutschen, wir betrachten unsere pazifistische Einstellung als große Errungenschaft – was sie angesichts der deutschen Verbrechensgeschichte ja grundsätzlich auch ist! Und unser grundsätzliches Verhältnis zu Deutschland, insbesondere das der „aufgeklärten“ Eliten, ist ein postnationales. Wenn Du aber keine patriotische Einstellung mehr zu deinem Land hast, weil du eigentlich sagst, ich kann überall leben und fühle mich keinem Land zugehörig, dann ist deine Verteidigungsfähigkeit ausgesprochen reduziert. Dann schlägt das grundsätzlich positive, postnationalistisch aufgeklärte Bewusstsein in ein negatives wehrunfähiges um.

Durch den erneuten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wurde nun das bisherig Kräfteverhältnis in Europa deutlich ins Wanken gebracht. Einerseits wurden wir Zeugen, wie die deutsche Russlandpolitik krachend gescheitert ist, auf der anderen Seite erlebt Mittel- und Osteuropa eine starke politische Aufwertung. Welche Konsequenzen für Europa – die EU – ergeben sich aus dieser Kräfteverschiebung?

Was der 24. Februar 2022 für Deutschland bedeutet, eine „Zeitenwende“, so Bundeskanzler Scholz, oder auch einen „Epochenbruch“, so Bundespräsident Steinmeier, trifft in gewissem Maße für ganz Westeuropa zu. Wir Westeuropäer haben jahrzehntelang von der vermeintlichen Friedensdividende nach 1989/90 gelebt und die EU als große Zivilmacht aufgebaut, die die Welt um sich herum durch ihre Soft Power zum Besseren verändern wollte. Und die EU hatte ja tatsächlich in den letzten 30 Jahren eine enorme Ausstrahlungskraft. Der Krieg ist insofern eine fundamentale Zäsur, weil nun allen bewusst geworden ist, dass wirtschaftlicher Wohlstand, eine Win-Win-Politik und Soft Power in ihrer Wirkmächtigkeit begrenzt sind, wenn ein Akteur wie Putin nach seiner ganz eigenen kriegerischen, aus unserer Sicht aber irrationalen Logik handelt. Wir sind nun quasi dazu gezwungen, uns dieser Logik selbst militärisch entgegenzustellen, was unser Selbstverständnis als Friedensmacht Europa zerrüttet. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass ein postheroisches Europa ohne militärische Verteidigungsbereitschaft den Frieden und die Demokratie auf dem Kontinent mit rein zivilen und wirtschaftlichen Mitteln sichern kann. Den Beweis dafür führen uns die Ukrainerinnen und Ukrainer mit ihrem Heroismus tagtäglich vor Augen.

Aber genau dieser Heroismus scheint die bundesrepublikanische Wohlstandsgesellschaft, in der seit 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt ist, hochgradig zu irritieren. Diametral anders ist dagegen die Wahrnehmung im östlichen Teil der EU – vielleicht mit Ausnahme Ungarns –, dessen Gesellschaften aufgrund ihrer historischen Erfahrung diesen Krieg und das, was auf dem Spiel steht, viel besser verstehen und daher bereit sind, die Ukraine militärisch zu unterstützen. Der Osten der EU hat den russischen Revanchismus von Anfang an richtig eingeschätzt. Dadurch erfährt er jetzt eine enorme Aufwertung. Die Konsequenz aber ist, dass ein neuer Riss durch Europa geht: Der Einbruch des Krieges in seiner ganzen Dimension und Bedeutung hat die östliche EU auch mental voll erreicht, Westeuropa dagegen bis heute noch nicht.

Obschon die globalen wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges Deutschland immens betreffen. Ist es nicht so, dass das Geschäftsmodell der Bundesrepublik vor unseren Augen zu Ende geht? Dieses basierte grob vereinfacht auf zwei Faktoren: Der Pax Americana, was nach 1989 die zweite Globalisierung ermöglichte, sowie günstiger Energie aus Russland, die Deutschland als Industrie- und Exportmacht so konkurrenzfähig machte. All das bricht nun weg. Ich habe das Gefühl, dass gerade dieser neue Zustand noch keinen Eingang in das kollektive Bewusstsein in Deutschland gefunden hat. Würden Sie dem zustimmen?

Deutschland hat sich im Rahmen der neuen Weltordnung nach 1989 wirtschaftlich und politisch sehr gut positioniert. Dieser Tatsache verdanken wir ganz maßgeblich unseren heutigen Wohlstand. Der russische Angriffskrieg – mit seinen globalen Implikationen – hat nun auch hier eine völlig neue Lage geschaffen. Indem das billige russische Gas auf unabsehbare Zeit ausbleiben wird, ist das deutsche Geschäftsmodell Deutschland weggebrochen, das darin bestand, mit billigen Rohstoffen hochwertige Industrieprodukte für den Export zu fertigen. Aber wir haben noch ein weiteres Problem: China. Genau wie im Fall der Geschäfte mit Putin ist es moralisch hoch zweifelhaft, dass wir in eine wirtschaftliche Abhängigkeit vom hoch autoritären China geraten sind. Allerdings führt die Einbindung Chinas in die globale Wirtschaft umgekehrt auch dazu, dass es Russland vielleicht nicht in dem Maße militärisch unterstützt, wie es das eigentlich könnte. Denn eine weitere Intensivierung des Krieges würde China wirtschaftlich vielleicht am härtesten treffen. Daher auch die Warnung Pekings vor einer atomaren Eskalation.

Zugleich aber erleben wir auch eine neue politische Systemauseinandersetzung zwischen dem autoritären Osten, China und Russland, und einem freiheitlichen Westen. Für Europa ist dabei nochmals ganz deutlich geworden, dass wir von der Schutzmacht USA fundamental abhängig sind. Wir haben es als europäische Gemeinschaft nicht vermocht, eine eigene kollektive militärische Sicherheit aufzubauen. Die Pläne einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft sind seit Adenauers Ambitionen in den 1960er Jahren immer wieder gescheitert, auch nach 1989/90. Wir haben es vielleicht auch nie ernsthaft genug versucht. Deshalb ist nicht nur Deutschland sicherheitspolitisch „blank“, wie zuvor gesagt, sondern ganz Europa. Das sehen wir an der fehlenden Fähigkeit, der Ukraine für einen vollumfänglichen Krieg Waffen zu liefern.

Europa befindet sich derzeit in einem höchst riskanten Moment seiner Geschichte: Unsere sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA bedeutet, dass die amerikanischen Wahlen im kommenden Jahr direkten Einfluss auf unsere Zukunft haben werden. Denn die Chancen auf einen Sieg der Republikaner sind groß und sie haben bereits angekündigt, sich langfristig nicht mehr in und für Europa engagieren zu wollen. Am Ende kann man nur beten, dass die Amerikaner bleiben, weil es fast unmöglich ist, dass Europa binnen weniger Jahre seine sicherheitspolitischen Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte aufholt – auch wenn der französische Präsident Emanuel Macron das Gegenteil behauptet und jetzt sogar von Europa als einer „dritten Supermacht“ fabuliert und eine fatale Äquidistanz zu den USA und China fordert.

Der Kalte Krieg ist längst vorbei, aber Europa hat sich daran gewöhnt, dass die USA im Falle des Falles ihre schützende Hand über uns halten…

In der Tat. Während des Kalten Krieges haben die USA durch ihre Militärpräsenz und Atomwaffen Sowjetrussland abgeschreckt, um ihre weitere Expansion zu verhindern. Und zugleich war es im amerikanischen Interesse, dass die beiden Blöcke stabilisiert werden. Deswegen wurde auch seitens der USA in keiner Weise interveniert, als die Sowjetunion in ihrem Einflussbereich immer wieder „Befriedungsmaßnahmen“ vollzog, sprich: Aufstände der Bevölkerung massiv unterdrückte, wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei oder 1981 in Polen, als das Kriegsrecht ausgerufen wurde. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus änderte sich die geopolitische Situation. Doch nachdem Russland sich anfänglich zurückgezogen hatte, begann es unter Putin damit, diesen Zustand schrittweise zu revidieren. Doch genau das das hat man in Westeuropa nicht verstanden. Wir haben verkannt – und wollten vielleicht auch nicht erkennen –, dass die Rückeroberung der einstigen Einflusssphären zur russischen Staatsräson geworden ist, obwohl dies von Putin mehrfach ganz klar gesagt wurde. Inzwischen gehen Putin und seine geopolitischen Strategen ja sogar noch weiter, indem sie sagen, sie kämpften gegen den „kollektiven Westen“, der dekadent und schwach sei und sich daher im Endstadium seiner Geschichte befände.

Dabei hat sich gezeigt, dass der Westen alles andere als altersschwach, „hirntot“ oder „obsolet“ ist, im Gegenteil, die NATO erinnert sich wieder daran, wofür sie gegründet wurde, nämlich als Verteidigungsbündnis gegen Russland…

Das stimmt einerseits, wenn selbst neutrale Staaten wie Schweden oder Finnland nun der NATO beitreten wollen. Andererseits löst es speziell in Deutschland ein massives Unbehagen aus, dass wir in Russland nun wieder einen Feind sehen müssen. Das stellt unsere Aufarbeitung der Geschichte in Frage. Wenn wir an den Zweiten Weltkrieg denken, so nimmt nach Auschwitz als Synonym für die Vernichtung der europäischen Juden der deutsche Überfall auf die Sowjetunion eine wichtige Stelle in der deutschen Erinnerungskultur ein. Deutschlands Krieg im Osten war ein totaler, an Zerstörungswillen und Brutalität unvergleichbarer. Wenn bis heute die Losung „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ lautet, so schwingt dabei auch die Erinnerung an den deutschen Vernichtungskrieg mit. Dass nun russische Soldaten mit deutschen Waffen von den Ukrainern getötet werden, stößt daher bei vielen auf Inakzeptanz. Es fällt manch einem, insbesondere im linken deutschen Milieu, schwer zu akzeptieren, dass das heutige Russland ein verbrecherisches Regime mit faschistoiden Zügen ist.

Weil dies nicht kompatibel ist mit der deutschen Geschichtsaufarbeitung nach 1945 ist?

Die bundesdeutsche Aufarbeitung der Geschichte konzentrierte sich nach 1945 – insbesondere nach 1968 – auf den Nationalsozialismus und die Vernichtung der Juden. Aufgrund der eigenen deutschen Schuld war das ja durchaus auch folgerichtig. Das Problem dabei: Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, genauer: mit dem Bolschewismus als dem Nationalsozialismus und Faschismus ebenbürtigen Totalitarismus fand nicht in einem Maße statt, dass er die gesamte Gesellschaft erreicht hätte. Selbst nicht nach der Wiedervereinigung. Der sowjetische Totalitarismus blieb in der bundesdeutschen Erinnerungslandschaft ein Nischenphänomen – insbesondere die Unterdrückung der osteuropäischen Staaten und Bevölkerungen.

Der seit den 1960er Jahren von der Linken betriebene öffentliche Diskurs basierte im Kern darauf, dass es einen großen Vorbehalt gegen die Totalitarismustheorie gab. Man befürchtete, durch die gemeinsame Nennung bzw. Vermengung der Verbrechen des Nationalsozialismus und Kommunismus – weniger des chinesischen, in erster Linie des sowjetischen – würde die Singularität des Holocausts nivelliert. Und somit auch die deutsche Schuld, die mit dem industriell organisierten Massenmord an den europäischen Juden zweifellos eine besondere, singuläre ist. Doch in der fatalen Konsequenz wurden die monströsen Verbrechen unter Stalin heruntergespielt. Daher löste es in Deutschland (wie übrigens auch in Frankreich und anderen Teilen Europas) auch keine größere Empörung aus, als Putin Stalin sukzessiv rehabilitierte.

Die mangelnde Auseinandersetzung der Linken mit dem kommunistischen System Sowjetrusslands hing auch damit zusammen, dass der Antikommunismus den Konservativen als willkommene Fortsetzungsideologie des Nationalsozialismus diente. Unter Konrad Adenauer wurde gleich nach dem Krieg die Sowjetunion als der zentrale Feind gekennzeichnet, wodurch es leichtfiel, ehemalige Nationalsozialisten für sich zu gewinnen. Und das waren bekanntlich nicht wenige. 1953 lautete ein berühmter Wahlslogan der Unionsparteien „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!“, womit jegliche linke Strömung, vor allem die Sozialdemokraten, in der deutschen Gesellschaft diskreditiert werden sollte.

Adenauer hat es immerhin geschafft, die Bundesrepublik an den Westen zu binden, was später auch von den Sozialdemokraten weiterverfolgt wurde. Das Verhältnis zu den USA blieb dennoch immer schon ambivalent, die deutsche Abhängigkeit vom amerikanischen „Hegemon“ sorgt immer wieder für Kritik. Mit Blick auf den drohenden Konflikt der USA mit China rund um Taiwan sowie die bereits verfolgte wirtschaftliche Entkoppelung wird auch Deutschland wieder in eine Situation geraten, in der es vielleicht unbequeme Entscheidungen treffen muss…

Die USA bereiten sich seit Jahren auf einen möglichen Konflikt im Indopazifik vor, aber der russische Angriff auf die Ukraine hat vorerst dazu geführt, dass das amerikanische Engagement sich wieder auf Europa konzentriert. Wir können nur von Glück sprechen, dass Amerika wieder ein vitales Interesse an Europa zeigt, was in den vergangenen Jahren durchaus mit einem Fragezeichen versehen war. Wo nämlich stünde die Ukraine heute, wo stünde die EU, wenn die USA dieses Interesse nicht hätten?

Allerdings steht wohl außer Frage, dass die USA für ihren erneuten militärischen Schutz Europas im Gegenzug – und in vielleicht schon naher Zukunft – Unterstützung im asiatischen Raum einfordern werden. Das dürfte der Preis sein, den Europa für seine sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA zahlen wird. Allerdings, und an dem Punkt hat Macron durchaus Recht, sind die europäischen Interessen in Asien keineswegs deckungsgleich mit denen der USA. Amerika bleibt eine, ja noch immer die stärkste Weltmacht, Europa dagegen eine Regionalmacht. Amerika ist in großem Maße autark, gerade hinsichtlich seiner Energieversorgung, es ist technologisch immer noch allen anderen Staaten der Welt überlegen, und seine geographische Lage macht es nahezu unangreifbar. Eigentlich sind die USA eine große Insel. Um ihren aufstrebenden Rivalen China auszubremsen, wollen sie die globalen Lieferketten unterbrechen, ihre wirtschaftliche Verflechtung mit China reduzieren; all das ist bereits in vollem Gange.

Die Lage Europas und speziell Deutschlands als ausgewiesene Exportnation ist eine völlig andere. Der bundesrepublikanische Wohlstand basiert auf der Globalisierung, nach der Wiedervereinigung noch mehr als schon zuvor. China ist ein riesiger Absatzmarkt für deutsche Produkte; man schaue sich nur an, wie viele SUVs die deutsche Automobilindustrie nach China exportiert, womit insbesondere die sogenannten Premiumhersteller, Mercedes, BMW, Porsche, ihre Hauptgewinne machen. Insofern hätte eine Eskalation des Konflikts mit China fatale Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft und damit den deutschen Wohlstand. Bundeskanzler Scholz war jüngst in China und die ganz großen deutschen Industrievertreter waren Teil seiner Delegation. Weder die deutsche Wirtschaft noch Politik sind gegenwärtig dazu bereit, sich von China fundamental unabhängig zu machen – trotz des anders gearteten Kurses der Vereinigten Staaten.

Kann sich Deutschland einen Bruch der strategischen Partnerschaft mit den USA leisten? Und: Warum hat sich das vom ehemaligen Präsidenten George Bush einst verkündete „Partners in Leadership“ nicht bewährt?

Die Amerikaner haben nach 1989 zurecht darauf hingewiesen, dass das freie Europa als Partner der USA wieder die Verantwortung über seine Angelegenheiten übernehmen müsse. Speziell Deutschland, das den Anspruch als europäische Gestaltungsmacht stellte, hat hierbei versagt. Das gilt aber auch für Frankreich bzw. den vielbeschworenen deutsch-französischen Motor. Wir haben 30 Jahre lang kaum etwas für unsere Sicherheit ausgegeben und meinten, von der Friedensdividende von 1989 leben zu können. Vielleicht haben wir uns auch nach 1945 daran gewöhnt, keine wirkliche Verantwortung tragen zu müssen, wir hatten ja den atomaren Schirm der USA. Die Verteidigungsfähigkeit spielte für uns keine Rolle, weil wir davon ausgingen, eine Zeit des „ewigen Friedens“ erreicht zu haben. Das hat uns selbstgefällig gemacht, wir haben unser Gespür für die drohende Katastrophe in Europa verloren. Dass wir als Kollektiv im Verteidigungsfall wieder würden bereit sein müssen, ein Gewehr in die Hand zu nehmen, war nahezu undenkbar. Insofern ist die Behauptung, wir hätten in einer Phase politischer wie gesellschaftliche Dekadenz gelebt, nicht ganz unberechtigt.

Der 24. Februar 2022 hat all diese Illusionen zerstört. Das ist der Kern des „Putin-Schocks“, den speziell Deutschland mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges erlebt hat. Deutschland wird in Zukunft viel mehr Geld für seine Wehr- und Verteidigungsfähigkeit ausgeben und auch seine Mentalität fundamental ändern müssen. Doch allein die Wiederherstellung der Bundeswehr wird eine Herkulesaufgabe sein. Denn wir sind materialtechnisch, aber auch mental derart entwaffnet, dass dies ein Generationenprojekt werden wird.

Bislang aber ist trotz der Ankündigung des Kanzlers in seiner Zeitenwende-Rede nicht viel geschehen. Unsere politischen Eliten betonen zwar immer wieder – und durchaus zu Recht –, dass wir völkerrechtlich keine Kriegspartei sind und es auch nicht werden dürfen, schon um eine atomare Eskalation zu verhindern. Und dennoch werden wir als Teil des „kollektiven Westens“ von Russland längst als Feind wahrgenommen. Es nützt daher nichts, sich am liebsten aus allem heraushalten zu wollen, auch wenn dies die Einstellung vieler Deutscher ist. Wir sind keine Insel, sondern Teil Europas, für das wir eine politisch wie ökonomisch zentrale Rolle spielen. Die deutsche Politik sollte daher schon jetzt ihrer eigenen Bevölkerung viel stärker zu verstehen geben, dass die mit den 24. Februar 2022 eingebrochene neue Realität nicht wieder verschwinden wird und dass auf Deutschland wie auch auf ganz Europa gewaltige wirtschaftliche und politische Kraftanstrengungen zukommen – wenn denn der Kontinent tatsächlich endlich aus eigenen Kräften wehr- und verteidigungsfähig sein will.


Albrecht von Lucke, geb. 1967. Der studierte Jurist und Politologe ist Redakteur der größten politisch-wissenschaftlichen Monatszeitschrift im deutschen Sprachraum, der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (www.blaetter.de). 2014 erhielt er den Lessing-Förderpreis für Kritik, 2018 den Otto-Brenner-Preis “Spezial”

 

 

 

Arkadiusz Szczepański bei DIALOG FORUMArkadiusz Szczepański studierte Slawistik, Geschichte und Kulturwissenschaft in Leipzig und Berlin. Leitender Redakteur beim DIALOG FORUM, Übersetzer und Redaktionsmitglied des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG.

 

 

 

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Förderprogramms „Deutsch-Polnische Zukunftsbrücken für die Ukraine“ der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit aus den Mitteln des Auswärtigen Amtes.

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