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Was wollen die Europäer?

Eine europaweite Umfrage über das Verhältnis Europas zur übrigen Welt lässt einige interessante Schlüsse zu.

Im April ließ der European Council on Foreign Relations (ECFR) eine demoskopische Umfrage in elf Ländern der Europäischen Union durchführen. Die Absicht war festzustellen, wie die Europäer über das Verhältnis zu den größten Partnern und Rivalen denken: den Vereinigten Staaten, Russland und China. Die Ergebnisse lassen vier wichtige Schlüsse zu.

Erstens wollten die Europäer im Falle eines Krieges zwischen den USA und China um Taiwan neutral bleiben. Zweitens nehmen sie China nicht als Bedrohung, sondern eher als Partner war, mit dem kooperiert werden muss. Drittens sprechen sich die meisten Europäer dafür aus, nach dem Ende des Kriegs in der Ukraine begrenzte Kontakte mit Russland aufrechtzuerhalten. Viertens wollen sich die Europäer militärisch nicht ausschließlich auf die USA verlassen und treten für größere strategische Autonomie ein.

Das alles zeichnet das Bild eines Kontinents, der den Ehrgeiz hat, international eine größere und von den USA unabhängigere Rolle zu spielen. Dem steht nur ein Hindernis entgegen: Europa ist nicht stark und mit Blick auf dieses Ziel einig genug, als dass es in absehbarer Zukunft zu erreichen wäre. Was nicht bedeutet, dass die Entscheidungen der europäischen Staaten für die chinesische und die US-amerikanische Politik nicht ins Gewicht fielen.

Ein Sieg für Macrons Konzeption?

Der vom ECFR auf Grundlage von Befragungen in Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich, Polen, Schweden, Spanien und Ungarn erstellte Bericht hält fest, dass den Europäern die Chinapolitik Emmanuel Macrons nähersteht als diejenige der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen.

Von der Leyen fand in diesem Jahr starke Worte zu China. Sie warf dem Land vor, eine Änderung der globalen Ordnung anzustreben, Reformen und eine weitere Öffnung seiner Märkte abzulehnen, vor allem aber, immer mehr Staaten seinem Einfluss zu unterwerfen. Die Kommissionspräsidentin sprach davon, Risikominimierung im Verhältnis zu China betreiben zu müssen, wobei sie den Fokus ausschließlich auf die Differenzen zwischen EU und China richtete.

Macron wählt beim Thema China einen anderen Tonfall. Er räumt ein, Peking sei nicht nur ein Partner, sondern auch ein geopolitischer Rivale, trotzdem sei er offen für vielfältige Zusammenarbeit. Im April wurde ihm in Peking ein Staatsempfang bereitet, er sprach mit Xi Jinping darüber, wie die Kampfhandlungen in der Ukraine zu Ende gebracht werden könnten, und er unterschrieb eine Reihe von Wirtschaftsabkommen. Zudem sagte der französische Präsident nach seiner Rückkehr in einem Interview, Europa müsse seine Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten verringern und vermeiden, in den Konflikt zwischen China und den USA wegen Taiwan hineingezogen zu werden.

In dieser Frage neigen die Europäer tatsächlich eher zu der Position Macrons als der von der Leyens. Der Umfrage des ECFR zufolge sind 62 Prozent der Meinung, Europa solle im Falle eines Konflikts der USA mit China über Taiwan neutral bleiben. Nur 23 Prozent meinen, die europäischen Staaten sollten Washington unterstützen. Selbst in Polen, dem erwiesenermaßen am stärksten proamerikanischen Land in Europa, optieren 51 Prozent für Neutralität, während nur 31 Prozent meinen, man müsse die USA unterstützen.

In diesem Zusammenhang ist klar, dass die Europäer die von der Biden-Administration propagierte Sichtweise ablehnen, es gebe einen globalen Konflikt zwischen Demokratien und Autokratien. Es sind zwei Erklärungen für diesen Befund möglich.

Erstens rechnen die Europäer nicht mit einem Krieg um Taiwan in absehbarer Zeit. Nur 29 Prozent halten ihn binnen der nächsten zwei Jahre für wahrscheinlich, 53 Prozent dagegen eher für unwahrscheinlich.

Zweitens liegt hier offenbar eine praktische Anwendung der Balance of threat-Theorie vor. Diese in den 1980er Jahren zuerst von dem US-Politologen Stephen Walt entwickelte Konzeption geht davon aus, dass Staaten Bündnisse gegen Länder eingehen, die sie als stärkste Bedrohung ansehen, nicht gegen die stärksten Länder. China ist ein mächtiger Staat, doch fürchten die Europäer China aufgrund seiner geographischen Entfernung weniger als Russland. Die gesellschaftspolitische Verfassung Chinas spielt dabei keine besondere Rolle; es zählt nur, dass China weit entfernt von Europa ist und daher für dieses keine militärische Bedrohung darstellt.

Wenn sie befragt werden, wie sich das Verhältnis ihrer Länder zu China gestalten solle, sprechen sich deshalb die meisten Europäer für Partnerschaft aus, nicht für Rivalität. Im Schnitt halten nicht weniger als 46 Prozent der Befragten Peking für einen Partner, mit dem auf strategischen Gebieten zusammenzuarbeiten sei, nur 35 Prozent sehen in China einen Rivalen oder Gegner.

Daraus erklärt sich, dass Macron, der für seine Äußerung zu Taiwan besonders in Polen und den USA kritisiert wurde, nicht nur in den nichtwestlichen Ländern des globalen Südens Unterstützung findet, sondern auch in der europäischen Öffentlichkeit.

Rückhalt für „begrenzte“ Beziehungen zu Moskau, aber nach Kriegsende

Dem ist zuzufügen, dass Macrons Ansichten nicht nur in Bezug auf China populärer sind als diejenigen von der Leyens.

Daneben befragte der ECFR die Europäer in den elf Ländern der Erhebung nach den zukünftigen Beziehungen zu Russland. Gegenwärtig halten die meisten Russland für einen „Feind, mit dem wir uns auf Dauer im Konflikt befinden werden“; doch nicht weniger als 69 Prozent sind der Meinung, ihre Länder müssten nach dem Krieg entweder zu einer uneingeschränkten Zusammenarbeit mit Russland zurückfinden oder zumindest Beziehungen in einem eingeschränkten Rahmen unterhalten. Interessanterweise sprechen sich sowohl in Polen als auch Deutschland 42 Prozent für eine solche eingeschränkte Kooperation aus. Andererseits sind 39 Prozent der Polen der Meinung, Warschau solle die Beziehungen zu Moskau völlig abbrechen, während in Deutschland dieser Anteil bei nur 19 Prozent liegt.

Vielleicht ist das auf die pessimistische, aber doch der Realität geschuldete Feststellung zurückzuführen, ein Sieg der Ukraine sei in den nächsten zwei Jahren wenig wahrscheinlich (45 Prozent). In Europa insgesamt meinen nur 33 Prozent, die Ukraine werde Russland besiegen.

Daher auch sprechen sich im Durchschnitt nur 18 Prozent der Europäer für eine völlige Aufkündigung der Beziehungen zu Russland aus. Das stimmt wiederum mit Macrons Konzeption überein. Er steht zwar entschlossen auf Seiten der Ukraine, doch ist sein Ziel letztlich, eine europäische Friedensordnung herzustellen, der auch Russland angehört. In erster Linie zu dem Zweck, Bedingungen zu schaffen, die Moskau den Appetit auf weitere Invasionen verderben.

Der Bericht warnt in diesem Zusammenhang vor extremen Sichtweisen. Er führt als Beispiel die 39 Prozent der Polen an, die jegliche Beziehungen zu Russland abbrechen wollen, andererseits aber die 51 Prozent der Bulgaren, die zur uneingeschränkten Kooperation mit dem Kreml zurückkehren möchten. „Es wäre gefährlich, wenn die europäischen Diskussionen hierüber von diesen extremen Standpunkten aus betrieben würden“, heißt es dazu in dem Bericht.

Wachsende Befürwortung europäischer Autonomie

In Anbetracht aller vorgenannten Faktoren ist es nicht zu verwundern, dass die Europäer die Vereinigten Staaten als wichtigsten Verbündeten oder zumindest Partner sehen, doch zugleich bekunden, ihre Länder dürften bei der Verteidigung nicht allein auf Washington setzen. Während diese Auffassung 2020 noch von 66 Prozent vertreten wurde, sind es heute bereits 74 %.

Denn auch wenn die Europäer Trumps Chancen, an die Macht zurückzukehren, als eher gering einschätzen (61 %), meinen sie doch, eine weitere Amtszeit Trumps würde die NATO schwächen (56 Prozent). Wie der Bericht festhält, trägt aber die Ukrainepolitik der Biden-Administration keineswegs dazu bei, die Europäer zu beruhigen. Der Ukrainekrieg habe sie vielmehr im Gegenteil dazu veranlasst, sich für die Stärkung der eigenen Rüstungsindustrie und den Wiederaufbau eigener Militärpotentiale auszusprechen.

Jedoch sind verschiedene Faktoren wie die Abhängigkeit von den USA, der Mangel an politischen Entscheidungen bis hin zum Mangel an Geschlossenheit auf EU-Ebene dafür verantwortlich, dass die Möglichkeiten der europäischen Länder auf diesem Gebiet begrenzt sind. Der Ukrainekrieg hat überdeutlich vor Augen geführt, dass Europa weiterhin militärisch auf die USA angewiesen ist, was sich auch in absehbarer Zeit nicht ändern wird. Selbst wenn die europäischen Gesellschaften und viele europäische Politiker eine etwas umsichtigere Politik wollen.

Es zählt nur militärische Stärke

Solange Europa nicht soweit geeint ist, um eine entschlossene Außenpolitik zu betreiben, und es nicht über ausreichende militärische Fähigkeiten verfügt, ist das von der ECFR-Umfrage vermittelte Bild politisch relevant.

Die wichtigsten Fragen in den Beziehungen Europas zu den USA, zu China und zu Russland stellen sich nämlich nicht auf militärischem Gebiet. Selbstverständlich ist das militärische Potential ein wesentlicher Aspekt von Staatsmacht, aber umso größer die militärischen Fähigkeiten, desto größer die Freiheit, Außenpolitik mit anderen Mitteln zu betreiben.

Doch in absehbarer Zukunft werden die Entscheidungen der europäischen Länder auf den Gebieten Wirtschaft, Handel und neuen Technologien wichtig für die Weltordnung und Europas Stellung in ihr bleiben. Selbst wenn in naher Zukunft ein Krieg um Taiwan ausbräche, wäre für Amerikaner und Chinesen die Haltung der Europäer bei Handel und Wirtschaft ausschlaggebend, nicht bei Militärfragen.

Die USA sind sich darüber im Klaren und treten daher intensiv dafür ein, dass sich Europa von der Wirtschaft Chinas und seinem Einfluss abkoppelt, insbesondere auf dem Feld neuer Technologien. Dessen ist sich auch China bewusst, weshalb es unablässig sondiert, wie weit sich bestimmte europäische Länder von den USA entfernen mögen und was ihnen anzubieten sei, um diesen Zweck zu erreichen.

Beide Länder werden sich daher Umfragen wie diejenige des ECFR genau anschauen, denn sie wissen, dass in der Demokratie nicht nur Regierungsmaßnahmen zählen, sondern auch Stimmungen in der Gesellschaft, die in politische und geopolitische Entscheidungen einfließen.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała, Redakteur beim polnischen onlineportal onet.pl, Absolvent der Warschauer Universität und der University of Birmingham. Seine Interessengebiete sind die Politik der Großmächte und die Theorie der internationalen Beziehungen.

2 Gedanken zu „Was wollen die Europäer?“

  1. Wahrgenommen wird Europa als Kontinent, aber warum? “Als Erdteil erstreckt sich Europa über das westliche Fünftel der eurasischen Landmasse. Geographisch betrachtet, ist Europa ein Subkontinent. Mit Asien >> zusammen, bildet Europa Eurasien. Historisch und kulturell gesehen, wird Europa als eigenständiger Kontinent wahrgenommen. Der Begriff Europa definiert sich somit nicht aus der Geographie, sondern eher politisch, kulturell, historisch, ideell, wirtschaftlich und rechtlich” -> https://www.mythologie-antike.com/t85-europa-in-der-griechischen-mythologie-ist-die-tochter-von-konig-agenor-und-mutter-von-minos-rhadamanthys-und-sarpedon

  2. Chapeau für den Beitrag von Lukasz Gadzala! Ohne das jetzt wissenschaftlich untermauern zu wollen, finde ich die gegenwärtige politische Entwicklung gut bzw. richtig beobachtet – entgegen Beiträgen von einigen anderen Autoren hier und da.
    Selber denke ich, dass die Vorstellungen von Emmanuel Macron als Staatspräsident der Französischen Republik nicht von der Hand zu weisen sind – trotz Gegenwind, aus welchen Gründen auch immer, vielleicht auch aus Prestige-Gründen.
    Den in der Tat sehr schwierigen Entwicklungen derzeit kann man eigentlich nur mit klugen und weitsichtig denkenden Köpfen begegnen.

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