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Zwanzig Jahre Polen in der Europäischen Union. Bilanz und Herausforderungen

In diesem Jahr stehen gleich zwei Jahrestage von Ereignissen an, die sehr wichtig für die Sicherheit Polens und seine weitere Entwicklung waren und in absehbarer Zukunft weiter sein werden. Dies ist der 25. Jahrestag des polnischen Beitritts zur NATO und der 20. Jahrestag des EU-Beitritts. Trotz der vielen Probleme der soziopolitischen Transformation seit 1989 integrierte sich Polen rasch in die westlichen Organisationen. Darin sah Polen nicht zuletzt einen Weg, dem Fatalismus zu entkommen, zu dem ihn seine geopolitische Lage zu verdammen schien. Einen solchen Umbruch hatte noch Mitte der 1980er Jahre eigentlich niemand vorausgesehen, noch auch den Fall der Sowjetunion und den Kontrollverlust Moskaus über ganz Ostmitteleuropa. Es handelte sich also um wirkliche Umbruchmomente der polnischen Geschichte. Zwar wurde ernsthaft diskutiert, ob wir, die Polen, denn nun „nach Europa zurückkehrten“ oder „uns Europa anschlossen“, es war jedoch nicht nur den aufeinanderfolgenden, politisch unterschiedlich ausgerichteten Regierungen, sondern auch der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft klar, dass diese Entwicklung zwar eine enorme Anstrengung erforderte, aber bezahlbar und unbedingt notwendig war. Die polnische Präsenz in Europa oder generell im Westen machte es erforderlich, sich für den Aufbau einer liberalen Demokratie und einer freien Marktwirtschaft einzusetzen. Das war kostspielig, nicht zuletzt sozial, doch standen weder die generelle Richtung noch die Kosten wirklich in Frage. Dies alles wurde als selbstverständliche Gegebenheit hingenommen, zumal die damalige Generation sich noch gut an die langwierige Krise des kommunistischen Systems erinnerte. Sie konnte mit eigenen Augen den Abzug der letzten Einheiten der russischen Armee, die bis vor kurzem noch sowjetisch gewesen war, im Herbst 1993 verfolgen. Die Integration in den Westen sollte garantieren, dass diese Truppen Polen für immer verließen. Zur selben Zeit wie Polen oder ein wenig später vollzogen weitere Staaten des vormaligen Ostblocks die Westintegration, darunter auch die baltischen Republiken, die gerade mit ihrem Beitritt zu den westlichen Organisationen ihre frisch erworbene Unabhängigkeit abzusichern versuchten. Belarus und die Ukraine konnten oder wollten diesen Weg nicht beschreiten, was in der Zukunft schwerwiegende Folgen für sie haben sollte, wie wir jetzt gerade erleben.

Wie haben wir als Land und Nation diese Zeit, dieses vor dem Hintergrund unserer Geschichte glückliche Vierteljahrhundert genutzt? Hat die Teilhabe an den militärischen und politisch-wirtschaftlichen Organisationen die Europaenthusiasten bestätigt und die Europaskeptiker geschwächt? Während es in Sachen NATO-Mitgliedschaft keine ernsthaften Stimmen der Kritik gibt, ist doch die EU-Mitgliedschaft stark umstritten. Möglicherweise werden sich die Anfeindungen noch steigern, weil nicht nur Teile der Opposition politisch davon zu profitieren trachten, die Aversion gegen Brüssel zu schüren, wobei sie ganz vergessen, dass in Brüssel auch unsere eigene Europapolitik betrieben wird. Was die NATO-Mitgliedschaft angeht, zeigt der Krieg in der Ukraine Tag für Tag, wie unverzichtbar das transatlantische Bündnis ist. Nur die Solidarität aller Mitgliedstaaten garantiert die militärische Sicherheit seiner östlichen Flanke, und einen starken Teil davon bildet nunmehr Polen, ein Frontstaat, wie es neuerdings heißt…

Im Hinblick auf die EU-Mitgliedschaft sind die Meinungen stärker geteilt, aber es überwiegen doch die proeuropäischen Ansichten. Zwei Monate vor dem anstehenden Jahrestag von Polens Beitritt zur Europäischen Union gab die Tageszeitung „Rzeczpospolita“ eine Meinungsumfrage in Auftrag. Deren Ergebnisse sind vielleicht überraschend und sollten nicht zuletzt die Regierung zum Nachdenken veranlassen. Auf die Frage, ob bei der EU-Mitgliedschaft Polens die Vor‑ oder die Nachteilen überwögen, antworteten 53,5 Prozent der Befragten positiv, 16,7 Prozent negativ. 24,7 Prozent waren der Meinung, Vor‑ und Nachteile hielten sich die Waage. Im Vergleich zu einer ähnlichen Befragung vor vier Jahren ist die Zahl der positiven Antworten um elf Prozent gesunken (2020 waren es 64,4 Prozent). Die negativen Antworten sind auf etwa demselben Niveau geblieben (2020: 17,1 Prozent). Dagegen ist die letztere Gruppe um neun Prozent gewachsen. Die nächste Frage betraf die Vorteile der polnischen EU-Mitgliedschaft. Der größte Anteil der Befragten, nämlich 32,2 Prozent, verwies auf die Öffnung der Grenzen zwischen den Mitgliedsländern, dann auf die größere Sicherheit (24,7 Prozent), ferner den Transfer von EU-Mitteln (21,3 Prozent) sowie die Möglichkeit, außerhalb Polens zu studieren (10,9 Prozent). Die übrigen Antworten nannten andere Vorteile (5,8 Prozent) sowie „ich weiß nicht/ schwer zu sagen“ (5,2 Prozent). Irgendwie ist die für unsere Wirtschaft ganz entscheidende Frage des Exports und des offenen Markts für Dienstleistungen und Arbeit völlig verlorengegangen… Oder sollten die Befragten diese beiden wichtigen Sachverhalte unter dem Begriff der offenen Grenzen verortet haben?

Interessant sind die Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Präferenzen und den politischen Sympathien. Die Respondenten, die für die gegenwärtige Regierungskoalition gestimmt haben, nannten an erster Stelle die Grenzöffnung (60 Prozent), die EU-Fonds (26 Prozent) und die gewachsene Sicherheit (12 Prozent). Die Oppositionsanhänger dagegen gaben ihrerseits an: gewachsene Sicherheit (32 Prozent), Möglichkeit des Auslandsstudiums (22 Prozent), EU-Fonds (19 Prozent). Zu bemerken ist im Vergleich mit der Umfrage von 2020 ein gewachsener Skeptizismus auf dem Lande (61 Prozent Zustimmung 2020, nur 43 Prozent jetzt). Dieser Rückgang lässt sich mit den laufenden Protesten der polnischen Landwirte gegen den Europäischen Green Deal erklären und mit der Lage auf dem Agrarmarkt. Andererseits gehören gerade die Bauern zu den Gewinnern der bisherigen gemeinsamen Agrarpolitik.

Die Umfrage machte auch die Polarisierung der Polen hinsichtlich ihrer parteipolitischen Präferenzen deutlich. Bei den PiS-Wählern sehen nur 17 Prozent, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen (2020 waren es noch 47 Prozent), dagegen blieben die Wähler der Bürgerkoalition (KO) auf ungefähr demselben Niveau einer ganz überwiegenden Befürwortung der EU-Mitgliedschaft (2020: 95 Prozent; jetzt 94 Prozent).

Die Umfrageergebnisse zeigen, dass besonders bei den Wählern von PiS die Anzahl der Europaskeptiker gewachsen ist. Dafür ist zweifellos die antieuropäische Rhetorik der PiS-Politiker mitverantwortlich, welche die Partei bereits während ihrer ersten Regierung der Jahre 2005 bis 2007 pflegte, aber verstärkt in ihrer zweiten Amtszeit 2015 bis 2023. In diesem Zeitraum forcierte PiS ihre Parole des „Aufrechten Gangs“, und die Regierung verfolgte Konkurrenzprojekte zur EU wie zum Beispiel die Drei-Meere-Initiative, mit der Warschau gemeinsam mit anderen ostmitteleuropäischen Ländern eine Koalition gegen Deutschland und Frankreich aufbauen wollte. Das alles blieb nicht ohne Auswirkung auf die Anschauungen eines Teils der polnischen Gesellschaft. Auch ist PiS in den ländlichen und stärker konservativen Gebieten besonders populär. Ebenfalls nicht ohne Wirkung blieb es, dass die Möglichkeit eines EU-Austritts immer öfter zur Sprache gebracht wurde. Noch ein weiterer Faktor ist zu nennen – die Vernachlässigung der Unterrichtung über die EU, der Information der Gesellschaft über ihre Funktionsgrundsätze, die Rolle der Nationalstaaten im Verhältnis zu den EU-Institutionen, vor allem die Rolle Polens im europäischen Projekt, die sich schließlich nicht darauf beschränkt, emsig Transfers aus Brüssel einzukassieren. Was die Aufklärung über europäische Sachverhalte betrifft, ist sie eigentlich schon seit der Beitrittszeit allmählich zurückgegangen, als ob dieses Wissen schon nicht mehr so sehr benötigt werde, nachdem einmal der Mitgliedsstatus erlangt sei.

Haben die Polen zwanzig Jahre nach dem Beitritt zur EU Gründe, ihr Verhältnis zu dieser zu ändern? Sind die nicht nur in Polen wachsenden europafeindlichen Stimmungen begründet und insbesondere auch von Nutzen? Im Weiteren lässt sich nur mit harten Fakten argumentieren. Diese stammen von Krzysztof Mrówczyński und Paweł Kowalski, Analysten der Bank Pekao. In ihrem Bericht „Zwanzig Jahre Polen in der EU aus Sicht der Unternehmen und Wirtschaftssektoren“ stellen sie fest, Polen gehöre beim Wirtschaftswachstum innerhalb der EU zu den führenden Ländern. Von 2004 bis 2022 wuchs Polens Bruttoinlandsprodukt auf das Doppelte – nur diejenigen von Malta und Irland verzeichneten noch höhere Zuwächse. Warschau vergrößerte den Mehrwert in einigen Dienstleistungssektoren und der Weiterverarbeitung. In acht großen Wirtschaftszweigen gehörte Polen zu den Top drei beim Wirtschaftswachstum seit 2004. Es gelang, stetig ausländische Investitionen anzuziehen und Investitionen unter anderem in der Industrie stark zu erhöhen. Der polnische EU-Beitritt schuf ausländische Absatzmärkte für polnische Firmen, ablesbar am bemerkenswerten Aufstieg in der Hierarchie der europäischen Exporteure. Zweifelsohne sei damit, so die Autoren, die Zugehörigkeit Polens zur EU ein wesentlicher Faktor beim polnischen Wirtschaftswachstum und werde dies auch in den nächsten Jahren bleiben. Diese Entwicklung wird durch Transferleistungen der EU noch verstärkt, die Polen nach der Freigabe des Landesaufbaufonds erhält. Im Zeitraum 2021 bis 2027 soll Polen 170 Milliarden Euro erhalten. Die jetzt der Vergangenheit angehörenden Vorwürfe zu Problemen mit der Rechtsstaatlichkeit, der Nichtbeachtung von EU-Recht und Verstößen gegen dieses waren der Grund für die EU-Sanktionen gegen Polen und die Blockierung des Landesaufbaufonds. Die besonders nach der sehr belastenden Zeit der Pandemie in Polen verbreitete Auffassung, Warschau könne sich selbst behelfen oder gar die EU-Gelder aus eigenen Mitteln ersetzen, haben sich als falsch und für das Wirtschaftsinteresse des Landes schädlich erwiesen.

Die Autoren verweisen daneben auf die anstehenden Herausforderungen und die Gebiete, die für die weitere Entwicklung wichtig werden können. Dies sind vor allem die Transformation der Energieversorgung, das Recycling von Kunststoffverpackungen und die erheblich steigenden Ausgaben für Bildung und Innovation. Für das erstgenannte Gebiet gilt eine gewisse Verspätung, eine mangelnde Entschlossenheit bei der Umstellung auf erneuerbare Energien (die Anzahl der Sonnenkollektoren zeigt, dass gesellschaftliches Interesse daran besteht…) und mangelnde Sorge um den Zustand der Umwelt. Ausgaben für die Bildung und Forschung sind immer noch niedrig und erfordern radikale Veränderungen, weil eine hochentwickelte Wirtschaft daran steigenden Bedarf hat.

Die Bilanz der Entwicklung der vergangenen zwanzig Jahre und die Effektivität der EU-Mitgliedschaft sind nicht zuletzt auch auf Ebene der Regionen, Wojewodschaften, Kreise und Städte zu betrachten. Das ist jedoch ein Thema für einen gesonderten Beitrag. Und was wäre zu den, nennen wir es einmal mentalen und bewusstseinsmäßigen Aspekten zu sagen? Die EU beruht auf dem Bekenntnis zu Menschen‑, Individual‑ und Minderheitenrechten. Unabhängig von der jeweiligen Minderheit, ist deren Schutz als Lehre aus den Erfahrungen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ihren Massenverfolgungen gezogen worden. 2017 wurde in Brüssel das Haus der Europäischen Geschichte eröffnet. Dieses präsentiert die Geschichte des Alten Kontinents über die Zeiten hinweg mit einem Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert. Schließlich ist die europäische Integration die Umsetzung eines Friedensprojekts nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Sie sollte den Europäern Frieden, Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und nicht zuletzt Wohlstand gewähren. Der letzte Stock des Museums wurde leer gelassen. Dies stellt heraus, dass das europäische Projekt auf die Zukunft orientiert ist. Wir setzen der Integration keine Grenze, wir betrachten sie immer noch als Prozess, der andauert und verschiedene Gestalten annimmt, die von gemeinsamer wie nationaler Politik bestimmt werden. An diesem Prozess nimmt Polen aktiv teil, in Vergangenheit wie Gegenwart. Obwohl die Zeitzeugengeneration des Zweiten Weltkriegs heute fast schon ausgestorben ist, scheint doch die Integration als Friedensprojekt nichts an Aktualität verloren zu haben. Das wird heute besonders am Krieg in der Ukraine sichtbar. Es hängt allein von der Solidarität und Kooperation der europäischen Staaten ab, ob wir den Kontinent vor einem weiteren Konflikt bewahren. Polen hat dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle als eines der Länder, die am meisten unter den Kriegen des 20. Jahrhunderts gelitten haben. Von seiner aktiven proeuropäischen Politik wird die Zukunft des gesamten Projekts und seine letztendliche Ausgestaltung abhängen.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Benutzte Quellen:

Wiktor Ferfecki: Sondaż: Gaśnie entuzjazm Polaków do Unii Europejskiej [Umfrage: Wiktor Erlöscht der Enthusiasmus der Polen für die Europäische Union], in: „Rzeczpospolita”, 2.4.2024, https://www.rp.pl/20-lat-polski-w-ue/art40078171-sondaz-gasnie-entuzjazm-polakow-do-unii-europejskiej (letzter Zugriff: 11.4.2024)

Krzysztof Mrówczyński, Paweł Kowalski, 20 lat Polski w Unii Europejskiej z perspektywy przedsiębiorstw i sektorów gospodarki. Kluczowe sukcesy, szanse i wyzwania (marzec 2024) [Zwanzig Jahre Polen in der Europäischen Union aus Sicht der Unternehmen und Wirtschaftssektoren. Wichtige Erfolge, Chancen und Herausforderungen (März 2024)], https://www.pekao.com.pl/dam/jcr:b4c8323a-76aa-48cd-bf1e-a79b43e9d7be/20%20lat%20Polski%20w%20U-E_Raport%20Banku%20Pekao_Marzec%202024.pdf (letzter Zugriff: 11.4.2024)

 

Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz

Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

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