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Versöhnung als Werk in Arbeit

Anlässlich des 20. Jahrestages der Erweiterung der Europäischen Union sollte eine Begegnung am Länderdreieck Tschechien, Polen und Deutschland von Spitzenvertretern dieser Länder möglich sein, sagt Martin Dvořák, tschechischer Minister für Europaangelegenheiten, im Gespräch mit Aureliusz M. Pędziwol.

Aureliusz M. Pędziwol: Herr Minister, ist die deutsch-tschechische Aussöhnung bereits Realität?

Martin Dvořák: Ich möchte bestätigen, dass dies dank der Courage einiger Politiker in den 1990er Jahren gelungen ist (einer davon war Präsident Václav Havel). Diese hatten den Mut, das Thema anzugehen und die Vertreibung der Deutschen beim Namen zu nennen, was zuvor in unserem Land ein Tabu gewesen war.

Aber wir wissen nur zu gut, dass in den folgenden zwanzig Jahren die Frage der Umsiedlungen eine sehr heikle Angelegenheit blieb und sie sogar einmal über den Ausgang von Präsidentschaftswahlen entschied. Es wäre daher falsch zu denken, die Aussöhnung sei eine ein für alle Male abgeschlossene Sache. Wir müssen uns fortdauernd darum bemühen und sie bestätigen. Am besten in der Weise, dass sich Tschechen und Deutsche als Nachbarn, Freunde, als Partner in der Wirtschaft, in der Kultur, Wissenschaft, Forschung oder auch in der Bildung begegnen.

Sie wissen sicherlich bestens Bescheid, wie es damit in Polen steht, wo die Versöhnung mit Deutschland einmal ein Beispiel für Tschechien war, aber in den vergangenen Jahren einen merklichen Rückschlag erlitten hat.

Und genau das hatte ich im Sinn damit, dass wir nie aufhören können, daran zu arbeiten. Politiker werden immer versucht sein, die Karte von Hasspropaganda und Intoleranz aus dem Ärmel zu ziehen. Und obwohl heute die Zeitzeugen der Ereignisse, die sich bei uns zugetragen haben, allmählich immer weniger werden, ist es doch erstaunlich, wie es immer wieder jemand schafft, dieses Narrativ zu entstauben, zu sagen: „die Deutschen schulden uns Reparationen“ oder ähnlichen Unsinn und damit nationalistische Ressentiments aufzustacheln.

Ich denke, wir hatten niemals bessere Beziehungen zu Deutschland, und ganz sicher nicht seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir dürfen uns nicht in eine nationalistische Falle aus Intoleranz und Revanchismus locken und die seit Jahren aufgebauten bilateralen Beziehungen kaputtmachen lassen.

Sind diese guten Beziehungen eine Folge der Deutsch-Tschechischen Erklärung, die Václav Klaus und Helmut Kohl 1997 unterschrieben?

Das war sicher ein wichtiger Meilenstein. Der Weg dahin führte über langwierige Verhandlungen und ein langsames Austesten, wie weit man gehen konnte, ohne schwere innenpolitische Erschütterungen auszulösen. Denn das war wirklich ein außerordentlich heikles Thema.

Ministerpräsident Klaus sagte damals, der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sei kein Partner für ihn.

Zum Beispiel. Heute haben wir es mit einer Generation von Politikern zu tun, für die die deutsch-tschechischen Beziehungen kein Ballast mehr sind. Und davon wird es immer mehr geben. Aber Sie haben das polnische Beispiel angeführt. Natürlich kann es passieren, dass jemand politisch punkten will und wieder die Leiche aus dem Keller holt, und erneut mit der Behauptung um sich wirft, wir seien Opfer, denen immer noch ein Schadenersatz verweigert wurde.

Sehen Sie solche Kräfte in Tschechien?

Jede populistische oder faschistoide Organisation kann nationale Intoleranz aufstacheln, und wir werden dagegen nie völlig immun sein. Das einzige, was wir tun können und müssen, ist, unablässig die Partnerschaft und den Willen zur Versöhnung zu bestätigen, uns zu treffen, gemeinsame Projekte zu entwickeln, einander zu besuchen. Und wenn es nicht klappt, mit dem Zug bis München zu kommen, wie heute jemand sagte, dann müssen wir die Infrastruktur verbessern.

Wesentlich sind jedoch Kontakte auf gesellschaftlicher Ebene. Ich habe mit großer Genugtuung erfahren, dass immer mehr Deutsche Tschechisch lernen. Das war bis vor kurzem praktisch unvorstellbar.

Sie sagen, dass die Beziehungen zu Deutschland heute so gut wie nie in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg sind. Und was funktioniert dabei noch nicht so gut?

Es gibt immer noch ziemliche Fehlstellen bei den infrastrukturellen Verbindungen. Wir könnten die Zusammenarbeit der Rettungsdienste oder der Feuerwehren an der Grenze erheblich verbessern. Beispielsweise dort, wo das nächste Krankenhaus auf der anderen Seite der Grenze ist, aber von dort kann uns der Rettungswagen nicht erreichen, so dass wir den auf unserer Seite der Grenze rufen müssen, der aber weiter weg ist.

Es gibt immer etwas zu verbessern, ob bei der wirtschaftlichen oder der kulturellen Zusammenarbeit. Um leichter über Grenzen hinweg arbeiten zu können, müssen wir uns mit der Technologie und den gesetzlichen Rahmenbedingungen befassen.

Probleme auf einer zwischenmenschlichen Ebene sind nicht zu verzeichnen?

Ich kann keine erkennen, und das freut mich. Ich fahre wirklich häufig hin. Und ich habe den Eindruck, dass die Leute wirklich zusammen sein, zusammenarbeiten und zusammenleben wollen. Sie wollen keine Grenzlinie zwischen sich.

Eine der von der EU gemachten Erfindungen sind die Euroregionen. Die erste davon hinter dem früheren Eisernen Vorhang war die Euroregion Neiße-Nisa-Nysa. Wie funktionieren die Regionen heute? Wozu nützen sie?

Ich will nicht allzu skeptisch klingen, aber meinem Eindruck nach wird das Europa der Regionen, eine der Säulen der europäischen Integration, etwas schwächer. Und das ist ganz deutlich an unserem Länderdreieck zu erkennen.

Und hier möchte ich nochmals die Gelegenheit nutzen, um daran zu erinnern, dass wir anlässlich des 20. Jahrestages unseres Beitritts zur Europäischen Union dort gern eine Begegnung zwischen Regierungsvertretern aus Deutschland, Polen und Tschechien zustande bringen würden.

Wie stehen die Chancen dafür?

Wir arbeiten daran. Die Einladungen sind verschickt, und bislang hat niemand abgesagt.

Kooperieren Tschechien, Polen und Deutschland in der heute für Europa wichtigsten Frage, nämlich dem Krieg Russlands gegen die Ukraine?

Unbedingt – je länger der Krieg dauert, desto besser steht es damit. In Bezug auf das Verhältnis zur Ukraine sind wir meiner Meinung nach auf derselben Wellenlänge wie die Polen und die Deutschen.

Ich denke aber, trotz aller Erklärungen und Willensbekundungen, tun Europa und die Vereinigten Staaten nicht genug. Die Ukraine steht nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses. Alle sind irgendwie kriegsmüde und wünschen sich das Kriegsende herbei.

Als Bürger eines Landes oder auch Angehöriger einer Nation, die die Erfahrung von München [Konferenz vom Oktober 1938; A.d.Ü.] hinter sich hat, bei der die Mächte ohne uns über uns entschieden, dass ein Teil unseres Staatsgebiets jemand anderem zufallen würde, will ich es absolut nicht erleben, dass wir die Ukraine dazu zwingen, einen Teil ihres Gebiets abzutreten. Diese Debatte ist so zu Ende zubringen, dass darüber allein die Ukrainer entscheiden können. Wenn wir sie nicht ausreichend unterstützen, wird es für sie viel schwerer und schmerzhafter sein, eine Entscheidung zu treffen.

Wenn wir auf die Unterstützung zu sprechen kommen, hat jetzt Munition Priorität. Tschechien, Deutschland und Polen haben das Potential, dabei zu helfen. Sehen Sie das auch so?

Im Namen von Tschechien kann ich sagen, dass nach den mir zur Verfügung stehenden Informationen wir der Ukraine wirklich schon alles zur Verfügung gestellt haben, was wir konnten. Jetzt produzieren wir im Rahmen unserer Möglichkeiten schnellstmöglich Munition und Ausrüstung. Und ob Deutschland schon alles geliefert hat oder noch auf weitere Bestände zurückgreifen kann, das wage ich nicht zu beurteilen.

In diesem Krieg geht es nicht nur um die Ukraine, sondern um Freiheit und Demokratie in der halben Welt, wenigstens in einem großen Teil Europas. Es wäre gut, wenn wir alle nicht nur absolut einstimmig diese Ideen verkündeten, sondern sie auch mit Leben erfüllten. Ein Teil der europäischen Staats‑ und Regierungschefs ist sich jedoch immer noch nicht ganz über die Gefahr im Klaren, dass Putin nicht an den Grenzen der Ukraine haltmachen wird. Daher weiß ich nicht, ob wir im gegenwärtigen Augenblick wirklich willens und fähig sind, alles zu geben.

Besteht das Problem nicht aber nicht nur darin, dass die Länder alles geben, was sie noch haben, sondern sich in die Lage versetzen, neue Waffen und Munition zu produzieren? Ihre Industrie auf Kriegsproduktion umstellen, zumal Russland das bereits getan hat?

Russland ist schon seit drei Jahren dabei, sich auf die Kriegswirtschaft umzustellen, und wir können uns das immer noch nicht leisten. Mich stimmt es sehr traurig, dass Europa es offensichtlich nicht schafft, sein Versprechen einzuhalten, die Ukraine mit einer Million Artilleriegranaten zu versorgen.

Ich bekenne, auch lange in der Überzeugung gelebt zu haben, dass uns nichts passieren könne. Dass wir in der NATO auf jeden Angriff aus dem Osten vorbereitet und im Handumdrehen in der Lage seien, ihn abzuwehren. Aber jetzt stellt sich plötzlich heraus, dass unsere Bereitschaft und Stärke vielleicht gar nicht so großartig aussehen.

Und wie sieht Prag die Erweiterung der Europäischen Union, insbesondere um die Ukraine?

Tschechien gehört seit langem zu den Befürwortern der EU-Erweiterung. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat diesen Willen nur noch weiter bestärkt. Für ihren mutigen Kampf und ihre Verbundenheit mit den Werten von Freiheit und Demokratie, die sie jetzt jeden Tag auf dem Schlachtfeld beweist, hat sich die Ukraine ganz sicher die Mitgliedschaft verdient, die sie sehr wünscht und nach der sie strebt. Andererseits können wir nicht ignorieren, dass sich das Land im Kriegszustand befindet und nicht die Kontrolle über sein gesamtes Gebiet hat, seine Wirtschaft darniederliegt und es viele Beitrittskriterien noch nicht erfüllt. Daher gehe ich davon aus, dass der Beitritt der Ukraine zur EU sich in den nächsten zehn Jahren noch nicht auf der Tagesordnung befinden wird.

Und der Balkan?

Dort sehe ich potentielle Beitrittskandidaten, die relativ schnell EU-Mitglieder werden könnten.

Und die wären…

Nordmazedonien, Albanien und Montenegro sind sehr weit in der Vorbereitung fortgeschritten. Ich wünsche dies auch sehr für Bosnien-Herzegowina. Ein Problem sind Kosovo und Serbien, die sich miteinander in einem ungelösten Konflikt befinden.

Bosnien hat ebenfalls einen Konflikt, und zwar im Inneren des Landes.

Ja, das ist eine schrecklich komplizierte, heikle Situation. Ich bin gerade vor einigen Tagen dort gewesen. Ich konnte mich nicht mit Vertretern der Republika Srpska treffen, aber ich sprach mit Repräsentanten der beiden anderen Gebiete. Sie brachten einen solchen Wunsch und Willen zum EU-Beitritt zum Ausdruck, dass ich ihnen das herzlich wünsche. Wir sollten ihnen dabei helfen. Doch der serbische Einfluss ist dort nicht zu übersehen und könnte ein Hindernis darstellen.

Die Erweiterung der Europäischen Union bedeutet auch für sie selbst eine Veränderung. Dabei geht es vor allem um das Vetorecht. Wie sieht das die Tschechische Republik, wie sehen Sie das persönlich?

Darauf kann ich nur zwei verschiedene Antworten geben. Der offizielle Standpunkt Tschechiens ist, dass wir im Augenblick dagegen sind. Nichtsdestoweniger bin ich der Meinung, dass wir zu Gesprächen bereit sind, was letztendlich Präsident Petr Pavel in Brüssel gesagt und damit eine sehr scharfe Gegenreaktion ausgelöst hat. Dies würde jedoch nicht nur einen Konsens unter den Parteien der Regierungskoalition erfordern, sondern auch mit der Opposition.

Dagegen wären aus unserer Sicht irgendwelche institutionellen Änderungen völlig inakzeptabel, welche die Gründungsverträge unmittelbar beträfen. Diese anzugehen, würde nämlich Volksabstimmungen und Verfassungsänderungen in mehreren Ländern erfordern. Das ließe sich aber jetzt höchstwahrscheinlich nicht durchsetzen.

Das ist die Haltung Tschechiens. Und Ihre eigene?

In der Frage der Verträge stimme ich völlig überein. Das steht im Moment nicht auf der Tagesordnung. Außerdem habe ich meine eigene Position gewissermaßen schon vorgestellt, als ich davon sprach, dass wir allmählich von der Absage zum Gespräch übergehen sollten. Wir haben viele Vorbehalte, aber wir sind bereit, nach Lösungen zu suchen, die alle zufriedenstellen würden.

Werde ich genauso zwei Antworten zu hören bekommen, wenn ich nach dem Euro frage?

(Lacht.)

Präsident Pavel hat diese Debatte schon eingeleitet bzw. wieder aufgenommen.

Wir haben sie schon früher einmal in der Koalition geführt. Der Präsident hat sie nur durch das Gewicht seiner Persönlichkeit, mehr noch seines Amtes ins Bewusstsein gehoben. Die Wahrheit ist aber, dass die Ansichten auseinandergehen und der Wille zur Veränderung gering ist.

Haben die Erfahrungen Sloweniens, der Slowakei und der baltischen Länder Einfluss auf die Entscheidungen in Tschechien? Oder unterscheidet sich Tschechien zu sehr?

Ich bemühe mich, ständig auf die unabweisbare Tatsache hinzuweisen, dass ausnahmslos alle Länder, die den Euro übernommen haben, damit zufrieden sind. Der Euro erfreut sich großer Zustimmung und hat nirgendwo Erschütterungen  oder einen Zusammenbruch der Wirtschaft ausgelöst. Ich denke, die Gründe, ihn abzulehnen, sind eher psychologischer, gefühlsmäßiger oder ideologischer Natur. Und ich bin überzeugt, das ließe sich überwinden. Aber ich denke nicht, dass das der aktuellen Regierung gelingen wird, eben weil es in der Sache keine Übereinstimmung gibt.

Wir müssen also die nächsten Wahlen abwarten?

Das wäre traurig, weil die Lage nach den nächsten Wahlen noch viel schlimmer sein könnte.

 

Das Gespräch fand am 9. Februar 2024 in Hradec Králové (Königgrätz) während einer deutsch-tschechischen Konferenz des Verbands der Ackermann-Gemeinde Prag statt.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann


 

Martin Dvořák

Geboren 1956, Ökonom und Diplomat, seit Mai 2023 Minister für Europaangelegenheiten in der Regierung von Petr Fiala. In den Jahren 2021 bis 2023 war er stellvertretender Außenminister.

Ende der 1980er Jahre nahm er an den Protesten gegen das kommunistische Regime teil, während der Samtenen Revolution (1989) war er Mitbegründer der Abteilung des Bürgerforums in Hradec Králové, einer von den Dissidenten der Charta 77 unter Leitung von Václav Havel gegründeten Bewegung. Ende der 1990er Jahre wurde Dvořák Bürgermeister von Hradec Králové, eine Funktion, die er acht Jahre innehatte. Später diente er in den UNO-Missionen im Kosovo und im Irak und war anschließend Konsul in New York und Botschafter in Kuwait.

 

Aureliusz M. Pędziwol Autor bei DIALOG FORUMAureliusz M. Pędziwol, Journalist, arbeitet mit der polnischen Redaktion der Deutschen Welle zusammen. Er war 20 Jahre lang Korrespondent des Wiener WirtschaftsBlattes und für zahlreiche andere Medien tätig, darunter für die polnischen Redaktionen des BBC und RFI.

 

 

 

 

 

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