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Mein Land, durch einen Film gespalten

Über 137.000 Zuschauer sahen am Eröffnungswochenende Agnieszka Hollands Film „Zielona granica“ (Die grüne Grenze), der den Spezialpreis der Jury auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig erhielt. An den Tagen vor der polnischen Premiere brachten es Angehörige der polnischen Regierung, vom Präsidenten bis zum Hinterbänkler der Vereinigten Rechten, fertig, den Film einen „antipolnischen Hetzstreifen“, ein „Unternehmen zur Schmähung Polens und der Polen“ und eine „Beschmutzung der polnischen Uniform“ zu nennen. Präsident Andrzej Duda erklärte in einem Fernsehinterview, er habe den Film nicht gesehen und werde kein Geld für Eintrittskarten ausgeben, um ihn anzusehen („ich warte ab, bis er irgendwo im Fernsehen zu sehen sein wird“), aber er zitierte einen den Polen aus dem Geschichtsunterricht wohlbekannten Slogan: „Tylko świnie siedzą w kinie“ („Nur Schweine sitzen im Kino“).

Das ist ein Spruch aus der Zeit der deutschen Besatzung Polens, dessen sich bereits vor dem Präsidenten im Kontext der „Grünen Grenze“ Sprecher der Grenzwache bedienten. Er sollte damals die Polen davon abhalten, ins Kino zu gehen, wo vor dem eigentlichen Film die deutschen propagandistischen Wochenschauen gezeigt wurden. Ironischerweise verkündete am Tag vor der Landespremiere von Agnieszka Hollands Film einer der stellvertretenden Innenminister, die Kinos müssten vor der Vorführung der „Grünen Grenze“ einen Regierungsspot zeigen, der den Film einen Schmähstreifen nennt. Die Geschichte wiederholt sich als Farce, doch diesmal kam noch gerade rechtzeitig jemand zur Besinnung, denn der Spot erreichte die Kinos zumindest vorläufig gar nicht erst. Die Kinos reagierten übrigens sehr eindeutig mit der Anfrage, welche Rechtsgrundlage überhaupt dafür bestehe, sie zur Vorführung zu zwingen.

Zur Liste der Gründe für die polarisierende Wirkung des Films zählt noch ein weiterer: es handelt sich um das jüngste Werk einer weltbekannten polnischen Regisseurin. Die einen kommen in Tränen aufgelöst aus dem Kino, die anderen stehen davor und verfluchen Holland und die Besucher, die ihn sich anschauen gehen. Die einen überprüfen ihr Gewissen, nachdem sie den Film gesehen haben, die anderen behaupten, es sei eine schwere Sünde, Hollands Film zu schauen.

Doch geht es dabei überhaupt um den Film? Zum Teil natürlich schon. Aber nicht in erster Linie. Denn, wie der Reporter und Schriftsteller Mariusz Szczygieł schreibt, nachdem er sich den Film angeschaut hat, der Film stellt für die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eine doppelte Bedrohung dar: Wer ihn sich ansieht, wird nie wieder für PiS stimmen. Ein anderer Publizist weist darauf hin, Agnieszka Holland mache mit ihrem Werk die seit über zwei Jahren anhaltende Propaganda der Regierung zum Thema Migranten zunichte, welche die polnisch-belarusische Grenze zu überschreiten versuchen. Politiker nennen sie „Munition Lukaschenkas“, eine „hybride Waffe“, „Geschosse“ – sie operieren mit Dehumanisierung.

Doch das Publikum sieht sich mit der Realität konfrontiert, wie sie ist – der belarusische Diktator betrügt die Menschen, die auf der Suche nach einer besseren Welt sind, und versucht sie in der Tat dafür zu instrumentalisieren, die Europäische Union zu schwächen und unter Druck zu setzen. Was nichts daran ändert, dass durch Verhaue und Wälder Menschen streifen. Junge Männer und Halbwüchsige, ganze Familien, manchmal aus vielen Generationen bestehend. Es kommen schwangere Frauen, die um sich und ihre ungeborenen Kinder zittern. Mit ihren Männern, zumindest solange, wie sie nicht in dem stockdunklen Wald von Polen oder Belarusen in Uniform voneinander getrennt werden.

Die Stille während der Filmvorführung, das Schluchzen und das stille Verharren durch die ganzen, eine Ewigkeit dauernden Vor‑ und Nachspänne lassen annehmen, der Zuschauer habe die Botschaft des Films vollständig verstanden. Und der Zuschauer stellt sich die Frage, ob denn Agnieszka Holland und die im Film auftretenden Künstler sich wirklich an der polnischen Uniform versündigt haben. Oder ob er nicht durch eine entmenschlichende Botschaft entwertet werde, die wie ein doppelschneidiges Schwert diejenigen erreichen sollte, die die grüne Grenze zu forcieren versuchen, aber auch diejenigen, die ihnen das unmöglich zu machen beauftragt sind. Und die er auch erreichte. Wie die Meinungsumfragen zeigen, unterstützt die Mehrheit die Migrationspolitik der Regierung. Denn wenn die Flüchtlinge schon „Geschosse“ sind, gibt es auch auf der anderen Seite keine Menschen, sondern nur Schilde. Das ist die Idee, das ist das Narrativ.

Ach, wie sehr fehlt es an Menschen und an Menschlichkeit bei denen, die die Uniform tragen. Wie bereits das Anlegen der Uniform sie dazu bringt zu vergessen, dass diejenigen, die sie aufgreifen, abtransportieren, gegen den Stacheldraht drücken sollen, Menschen sind, während sie selbst Menschen bleiben. Selbst, wenn der Ranghöhere behaupte, es sei nicht Zeit und Ort dazu, schließlich gebe es Befehle.

Doch befreit die Uniform nicht von der Verantwortung. „Ich habe nur Befehle ausgeführt“, diese Schutzbehauptung verlor schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Gültigkeit, und die internationalen Tribunale verurteilten und verurteilen gleichermaßen diejenigen, die menschenrechtswidrige Befehle erteilen, wie diejenigen, die diese unwidersprochen ausführen. Zumindest einige werden verurteilt, schließlich sollten wir keinem deplatzierten Optimismus anheimfallen.

„Holland – eine Verehrerin Lukaschenkas und Putins!“, unter anderem mit solchen Plakaten protestierten Häuflein von Nationalisten vor einigen wenigen Kinos. Nur, dass polnische Uniformierte vielleicht nicht mit allen, aber doch einem ziemlich weiten Spektrum von Einstellungen gezeigt werden; in einem steckt etwa ein pflichtschuldig Befehle ausführender Beamter, ein durchschnittlicher Bewohner eines Hauses an der Grenze, der den Migranten außer Dienst Wasserflaschen bringt und es im Dienst fertig bringt, den Blick abzuwenden und sich anständig zu benehmen. Die belarusischen Grenzsoldaten dagegen werden unzweideutig als leibhaftige Teufel vorgestellt. Wo greift also hier der Vorwurf, die Belarusen würden reingewaschen?

Der Film hat eine heftige Debatte in der polnischen Öffentlichkeit ausgelöst, und nichts weist darauf hin, dass sie sich noch vor den Wahlen wieder beruhigen könnte. Dabei ist er weder eine Anklageschrift noch das Tagebuch einer Reise vom Fegefeuer der Flüchtlingslager in Syrien, Afghanistan usw. durch die Hölle zu einer vielleicht besseren Welt, vielleicht aber auch nur dem nächsten Kreis der Hölle.

Der Film singt nicht zuletzt ein Loblied auf die Macht der Menschlichkeit. Auf die Macht der Liebe und des Mitgefühls. Darauf, nicht unbedingt ein frommer Mensch sein zu müssen, oder jedenfalls nicht fromm im Sinne der Kirche, um Zeugnis zu geben. Auf die Aktivisten, die ihr Leben aufgegeben haben, um im Rucksack Hilfsgüter für die Flüchtlinge mitzubringen, manchmal auch nur eine Signallampe, um sich damit in den Urwald und die Sümpfe aufzumachen. Die einen sind dabei von einem tiefverwurzelten Humanismus angetrieben, die anderen gewiss von einer wörtlichen Auslegung der Botschaft des Evangeliums, die eigentlich universell ist: „Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war ein Fremder, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet; ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“ Und als die zur Erlösung aufgerufenen Verirrten fragen, wie der Evangelist Matthäus berichtet, wann sie denn Jesus hungrig, durstig, nackt oder im Gefängnis gesehen hätten, hören sie: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25:35–37). Im selben Augenblick erfahren die zur Verdammung Verurteilten, dass sie das, was sie „einem von diesen geringsten Brüdern“ nicht getan haben, auch nicht Jesus getan haben, so dass sie das ewige Feuer erwarte. Sie gaben nicht zu essen, nicht zu trinken, nahmen den Fremden nicht auf…

Eine ziemlich furchterregende Perspektive, insbesondere für die Gläubigen. Die wohlgemerkt am 24. September den Tag des Migranten und Flüchtlings begingen, und zumindest in einigen Kirchen, obwohl wir nichts davon hören, dass darunter auch Gemeinden in Podlachien waren, bekamen sie zu hören, dass Flüchtlinge menschlich zu behandeln seien. Die Kirchgänger hörten jedoch, und zwar in allen Messen, etwas viel wichtigeres, die Botschaft des Paulus aus dem Brief an die Philipper: „Nur führt euer Leben würdig des Evangeliums von Christus“ (Phil 1:27). Ebenso die dem Matthäus zugeschriebene, in dem die Passagen über die Pflichten gegen die Geringsten, die Menschen in Not, die Hungernden, Dürstenden, Nackten, Fremden und Gefangenen (wovon auf die Migranten praktisch alles zutrifft), nicht mit einem Sternchen versehen sind: *trifft nicht zu auf Leute, die der belarusische Präsident nach Polen schickt. Oder: *gilt nur für Personen derselben Hautfarbe und Religion. Nein. Keine Ausnahmen, keine Fußnoten.

Dieser Exkurs der vom Evangelium den Christen und Katholiken auf den Weg gegebenen Pflichten bedeutet im Kontext von Agnieszka Hollands Film nicht, das Thema zu verfehlen. Es ist im Gegenteil ein zentraler Aspekt, bedenken wir, dass die der Partei Recht und Gerechtigkeit treuen Wähler meist ältere Menschen und tiefgläubig sind, oder doch zumindest fromme Kirchgänger.

Wenn sie es wollten und verstünden, in dieser Sache auf die Stimme der Kirchenhierarchie zu hören, müssten sie sich von ihrer Partei abwenden. Papst Franziskus lässt in der Frage der Migranten keinen Zweifel: Wir müssen helfen. Wir müssen uns bewegen und Platz schaffen. Die Fremden nicht nur gastlich aufnehmen, sondern dafür sorgen, dass sie sich in unserer Nachbarschaft niederlassen können. Aber auch die polnische katholische Kirche, die polnischen Bischöfe widersetzen sich der Entmenschlichung der Flüchtlinge wie ihrer Instrumentalisierung als Waffe in der innenpolitischen Auseinandersetzung.

Denn Recht und Gerechtigkeit veranstaltet gleichzeitig mit den Wahlen vom 15. Oktober ein Referendum, bei dem zwei von vier Fragen sich auf die Lage an der Grenze zu Belarus beziehen. Die Polen sollen angeben, ob sie die Aufhebung der Barriere an der Grenze der Republik Polen mit der Republik Belarus befürworten (keine der Parteien fordert den Abbau der Grenzsperren, die ohnehin nicht dicht sind) und ob sie die „Aufnahme tausender illegaler Immigranten aus dem Nahen Osten und Afrika, in Übereinstimmung mit dem von der europäischen Bürokratie aufgezwungenen Zwangsmechanismus zur Umverteilung“ befürworten. Es dürfe nicht sein, namens eines falsch verstandenen Patriotismus Angst und Feindseligkeit zu Einwanderern zu wecken, insbesondere wegen ihres Status, ihrer Religion oder Herkunft, warnte bereits im Juli der Rat der Polnischen Bischofskonferenz für Migration, Touristik und Pilgerfahrten. Die Art und Weise, wie kluge und solidarische Aufnahme geschehen kann, bedarf keiner Beschlüsse auf der Grundlage eines Referendums, wie die polnischen Bischöfe noch präzisierten.

Doch die Crux besteht darin, dass der harte Kern der PiS-Wählerschaft eher dem Parteivorsitzenden und seinen Hintermännern zuhört als den Bischöfen. Noch dazu ist es ein Unglück, dass zu diesem harten Kern auch so mancher Bischof und einfacher Gemeindepriester gehört. Und der Große Vorsitzende behauptet schon lange, die Migranten seien eine Gefahr, weil sie Krankheiten und Schädlinge mit sich brächten, kulturell fremd seien und in Westeuropa No-Go-Zonen schüfen, in die sich die Ordnungskräfte nicht mehr vorwagten. Und seinen Anhängern und Mitarbeitern teilt er gerne mit, seien erst einmal Horden „junger Männer“ aus Afrika und den islamischen Ländern in Polen angelangt, würden die Frauen in den Häusern sitzen müssen, weil es auf den Straßen zu gefährlich werde.

Allein, sie sind bereits an der Weichsel angelangt. Die Wut ist nicht nachzuvollziehen, mit der die Regierung die „Grüne Grenze“ attackiert, ohne zu wissen, dass die sogenannte Visaaffäre dazu den Kontext bildet. Wie die Medien kurz vor der Filmpremiere bekanntmachten, gab Polen seit einigen Jahren massenhaft Visa an Einreisewillige aus afrikanischen und asiatischen Ländern aus, in denen der Islam dominiert oder die einzige anerkannte Religion ist. Gab aus ist übrigens zu wenig gesagt; nach weiteren Berichten gab es in diesen Ländern einen regelrechten Handel mit Visa, wobei das konsularische Verfahren missachtet, manipuliert oder schlicht ignoriert wurde. Es gab zahlreiche Entlassungen, nun auch die (ersten?) Verhaftungen; aber so ganz genau weiß niemand, wie groß der Umfang der Unregelmäßigkeiten, vielleicht sogar Straftaten wirklich ist. Zwar behauptet der Große Vorsitzende, es gebe keine Affäre, nichtmals ein Affärchen, aber die Statistiken der von EU-Ländern ausgegebenen Visa sind eindeutig: Polen gab in den letzten Jahren mit Abstand die meisten Visa aus. So ist nicht zu verwundern, dass die Deutschen sich die Wiedereinrichtung von Grenzkontrollen zu Polen überlegen, und immer mehr Polen fährt der Schrecken in die Glieder, man könnte ihr Land aus der Schengenzone ausschließen. Selbst wenn es nicht soweit kommt, hat die Glaubwürdigkeit Polens auf europäischer Bühne noch weiteren Schaden gelitten, obwohl das doch kaum möglich schien, lag sie doch schon viele Jahre ganz am Boden, wenn wir an den Dauerstreit mit der Europäischen Kommission um die Rechtsstaatlichkeit denken.

Wir haben da an eine wunde Stelle gerührt. Denn wie sich zeigt, bedrohen einige hundert Menschen an der Grenze die Integrität des Staates und die öffentliche Sicherheit, was rechtfertigen soll, sie gegen den Stacheldraht zu drücken, sprich Pushbacks durchzuführen, das internationale Recht mit Füßen zu treten und mit Hunden aufzuspüren, wer sich widersetzt. Aber zehn‑, wenn nicht gar hunderttausende Angehörige derselben Länder, die ein paar tausend Dollar oder Euro auftreiben konnten, um für ein polnisches Visum zu bezahlen, bilden keineswegs eine Gefahr. Heuchelei in Potenz, dröhnt die Opposition. Zurecht, hat die Opposition damit auch Erfolg? Und vor allem, ist das sinnvoll? Denn Polen, das schon lange von einer Mauer geteilt war, bevor Agnieszka Holland ihren Film drehte, vergisst, dass nicht in zehn Jahren, sondern in diesem Augenblick eine kluge Migrationspolitik dringend gebraucht wird. Diese fehlt uns, die wir durch die Politik der Angst wie gelähmt sind, wie sie von Politikern betrieben wird, die daraus gern eine Waffe im Bürgerkrieg machen. Ganz, als ob sie sich an dem Nachbarn im Osten ein Beispiel genommen hätten.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Małgorzata Solecka

Małgorzata Solecka

Małgorzata Solecka, Journalistin beim Internetportal Medycyna Praktyczna (Praktische Medizin) und der Monatszeitschrift„Służba Zdrowia“ (Gesundheitsdienst), 1998 bis 2007 Journalistin und Redakteurin bei der Tageszeitung „Rzeczpospolita“, arbeitete auch für „Życie“ (Leben), die Polnische Presseagentur (PAP) und die Wochenzeitschrift „Newsweek Polska“.

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