Agnieszka Hollands neuster Film wirbelt in Polen Staub auf wie nie zuvor. Er zeigt die Verzweiflung von Menschen, die über die polnisch-belarusische Grenze gedrängt werden und die Hilflosigkeit der Aktivisten, die ihnen helfen wollen, eine Hilflosigkeit, die von der Politik hervorgerufen wird, wie sie nun einmal ist. Er hat eine Flut von hasserfüllten und von Gewaltphantasien strotzenden Angriffen im Internet ausgelöst. Die Empörung von höchstrangigen PiS-Politikern überschlägt sich buchstäblich.
Dabei ist kaum zu unterscheiden, ob diese Reaktionen nicht einfach auf den aktuellen Wahlkampf hin kalkuliert oder doch hysterische Verhaltensweisen von Leuten sind, die weder die Lage noch sich selbst unter Kontrolle haben. So die Gleichsetzung von Holland mit Leni Riefenstahl, der führenden Filmpropagandistin Nazideutschlands. Die Schmähung der Kinogänger mit einem berühmten Slogan aus der Zeit der NS-Okkupation („Tylko świnie siedzą w kinie“ – „Nur Schweine sitzen im Kino“) usw. Das ist präzedenzlos selbst für polnische Verhältnisse, die von einer äußerst brutalen und verantwortungslosen öffentlichen Debatte gekennzeichnet sind. Das alles muss sehr beunruhigen und sollte Anlass sein, schwierige Fragen zu stellen. Ich denke, wir müssen so weit wie möglich unsere Emotionen zurückstellen und uns die Dinge aus kritischer Distanz anschauen. Denn der Vorgang bietet eine sehr gute Gelegenheit, einmal genauer zu analysieren, was gegenwärtig eigentlich in Polen vor sich geht.
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Die Gleichgültigkeit der meisten von uns gegenüber der unsäglichen Lage der Migranten, die an die polnisch-belarusische Grenze gelangen, die Begeisterung der PiS-Anhänger über die längs der Grenze errichteten Sperranlagen, die Panik über das Eindringen angeblicher Terroristen und Vergewaltiger, obwohl sich unter den Migranten zahlreiche Frauen und Kinder befinden, und der Stolz auf die polnischen Grenzpolizisten, die illegale Pushbacks durchführen, d.h. die Migranten gewaltsam über die Grenze zurücktreiben – von was kann dies alles zeugen, wenn nicht von Fremdenfeindlichkeit und einem extrem narzisstischen Zynismus der polnischen Gesellschaft?
Diese Schlussfolgerung drängt sich auf, und doch lässt sie sich nicht ohne weiteres aufrechterhalten, denken wir an die hunderttausenden, vielleicht Millionen Polen, die in den ersten Tagen, Wochen und Monaten des Kriegs Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufnahmen und ihnen Hilfe gewährten. Zeugt das nicht von dem geraden Gegenteil, von Gastfreundschaft, Offenheit, von Einsatz‑ und Hilfsbereitschaft?
Wie also sind Land und Leute in Wahrheit? Sind die Polen in Schizophrenie verfallen, ihr Denken von inneren Widersprüchen überwältigt? Oder ist es vielleicht möglich, diese beiden irgendwie nicht zueinander passenden Sichtweisen zusammenzubringen? Sie in einem breiteren Kontext als zwei Seiten eines sozialen Phänomens zu sehen?
Auf ihre Art tun dies die Politiker und Publizisten aus dem rechten Spektrum. Sie behaupten, seien Polen erst einmal mit echtem Unglück konfrontiert, dann seien sie bereit zu helfen und ausgesprochen empathisch mit Menschen in Not. Doch würden sie keine Eindringlinge unterstützen wollen, die sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen suchen oder zwangsweise aus anderen Ländern der Europäischen Union nach Polen gebracht würden. Derartige Behauptungen gehen von der Annahme aus, die Probleme von Migranten aus dem globalen Süden gingen Polen nichts an. Und daher sei die Reaktion der Polen auf diesen Zustrom angemessen.
Es bedarf keines großen Scharfsinns, um die Einseitigkeit dieser Sicht zu begreifen. Vielleicht haben also doch diejenigen recht, die der polnischen Gesellschaft den Vorwurf machen, einfach nur Migranten aus dem globalen Süden abzulehnen? Dagegen sehen sie in der Einstellung zu den Ukrainern einen unerklärlichen, zwangsweisen Reflex oder eine karnevaleske Kompensationshandlung. Und sie begreifen das als Ausnahme, welche die traurige Realität bestätigt.
Meiner Meinung nach ist auch das eine simplifizierende Denkweise. Um polnische Befindlichkeiten und kulturelle Identität zu verstehen, sollte keine der beiden genannten Haltungen gegenüber Migranten einfach nur abgetan werden. Sie sind beide als Realitäten anzusehen, auch wenn sie noch so gegensätzlich sind. Die Polen sind nicht einfach nur „gut“, noch einfach nur „schlecht“; weder sind sie völlig gastfreundlich und offen, noch völlig hermetisch und fremdenfeindlich. Denn sie sind, wie alle Menschen, das eine und das andere zugleich, oszillieren zwischen beiden Extremen, neigen bald zu dieser, bald zu jener Seite. Das ist natürlich eine Binsenweisheit. Für unsere Überlegungen ist jedoch wichtig, welcher Regel im polnischen Falle diese Oszillation unterliegt.
Was führt dazu, dass die Polen den ukrainischen Flüchtlingen helfen, sich aber den Migranten an der belarusischen Grenze gegenüber gleichgültig verhalten? Gibt dafür nur die Propaganda des Regierungslagers den Ausschlag, die letztere in negativen, erstere grundsätzlich in positiven Farben malt? Ich würde den Einfluss der Propaganda nicht überbewerten. Wenn diese so wichtig wäre, könnten wir uns auch eine genau entgegengesetzte Situation vorstellen: eine propagandistisch hergestellte Abneigung gegen die Ukrainer im Gegensatz zu Offenheit gegenüber Migranten aus dem globalen Süden. Es ist völlig klar, dass keine Manipulation durch die Medien die Polen davon überzeugen könnte. Höchstens verstärkt Propaganda, was bereits an Reflexen im kollektiven Phantasma vorhanden ist. Sie kann diese jedoch nicht von sich aus hervorbringen.
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In zielgerichteter Anwendung der Verfahren von Jacques Lacans Psychoanalyse und der Ansätze des Poststrukturalismus auf die Interpretation von Gesellschaft und Kultur verweist Andrzej Leder darauf, dass das soziale Phantasma in den Gesellschaften des Westens sich immer weniger auf die
uns umtreibenden Dynamiken und Konflikte anwenden lässt. Die kulturell definierten Strukturen unserer Vorstellung und unseres Denkens, die in der Vergangenheit zur Beschreibung der damaligen Welt geschaffen wurden, können den aktuellen Status quo nicht mehr erfassen. Sie sind immer noch aktiv, doch, wie Leder sagt, haften sie nicht länger am „Realen“ und stürzen uns in die Irrealität kollektiver Trugbilder. Sie bewirken, dass wir inmitten imaginärer Konflikte und Hoffnungen existieren, wobei wir ignorieren oder verzerrt wahrnehmen, was tatsächlich geschieht.
Dieser Sachverhalt gilt Leder zufolge nicht allein für Polen, sondern für die gesamte westliche Welt. Gleichwohl ist in durch periphere Lage und eine traumatische, nicht aufgearbeitete Geschichte geprägten Ländern wie Polen der Realitätsverlust des kollektiven Phantasmas umfassender und spürbarer.
Die heutige Realität, das ist vor allem der globale Kapitalismus, der in einem den modernen Staat überschreitenden Maßstab operiert, sich der sozialen Kontrolle entzogen hat und in die Phase des Turbokapitalismus eingetreten ist. Das hat weitreichende Konsequenzen. Dazu zählen wachsende gesellschaftliche Ungleichheiten, die die Welt in den reichen Norden und den armen Süden teilen, sowie die Klimakatastrophe.
In Verbindung einer sehr weit einwickelten Technologie beutet der Turbokapitalismus die natürlichen Ressourcen aus, emittiert Kohlendioxid in ungeahnter Menge und produziert Abfälle in solchen Massen, dass sie sich nicht mehr deponieren oder recyceln lassen. In gesellschaftlicher Hinsicht bringt er eine ganze Klasse von „unnützen Menschen“ hervor, die unter den Bedingungen des sich klimabedingt aufheizenden Südens keine Chance mehr auf ein normales Leben haben. Daher belagern sie die Länder des Nordens.
All dies führt dazu, dass sich das bisher in Westeuropa gültige Modell des von Wohlstand und Mittelschichten geprägten Staates seinem Niedergang und Ende nähert. Zugleich damit gerät das bisherige Phantasma ins Schwanken und löst sich auf, zu dem die Vorstellung von einem dauerhaften, weltweiten Frieden und allgemeiner Sicherheit gehört, von endloser Weiterentwicklung der Menschheit und Chancen auf individuelle Selbstverwirklichung.
An die europäischen Türen, eher an Europas mit Stacheldrahtverhauen bewehrten Grenzen pocht der Andere, der ins Bewusstsein führt, dass diese Postulate nicht für alle gelten, sondern ein Privileg des reichen und dominanten Teils des Globus sind. Das zieht Massen derer an, deren Ausbeutung der Norden seinen Wohlstand verdankt und die dafür einen hohen Preis von Perspektivlosigkeit und Mangel selbst an basaler Sicherheit zahlen. Ihre Anwesenheit an unseren Grenzen lässt die Beunruhigung ständig wachsen. In Reaktion darauf gibt es einen Teufelskreis aus begrenzter Aufnahme auf der einen Seite, Internierung, Abschiebung und Verjagung auf der anderen. Letztere, entgegen Recht und Moral an der polnisch-belarusischen Grenze praktiziert, sieht dem psychologischen Vorgang der Verdrängung täuschend ähnlich. Dann gibt es noch die Negation, Rationalisierung und das fallweise Ad-Hoc-Management der wiederkehrenden und sich verschlimmernden „Migrationskrisen“. Das losgelöste Phantasma erlaubt es nicht, die wahren Ursachen des Problems und sein Ausmaß zu erkennen. Und es erlaubt es gnädiger Weise nicht, die eigene Perversität zu sehen, das komfortable Leben auf Kosten schierer Not und Schmerzes.
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In Polen als Land der europäischen Peripherie ist es noch schlimmer. Denn hier geht das westeuropäische Phantasma eine Verbindung mit dem einheimischen Phantasma ein, das an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufkam. Während die westeuropäischen Gesellschaften in der Lage sind, sich auf die Welt in ihrer Globalität zu beziehen, auch wenn es sich dabei um einen unvollständigen und „perversen“ Bezug handelt, ist in Polen der globale Kontext, psychoanalytisch ausgedrückt, verdrängt. Wir genießen Wirtschaftswachstum und Hyperkonsumption, doch unsere kollektive Mentalität fasst das als etwas im Grunde Natürliches auf. So als ob die Konsumgüter in polnischen Gärten auf den Bäumen wüchsen oder Wirtschaftswachstum wie Manna vom Himmel fiele. Der Andere in Gestalt des globalen Südens hat überhaupt keinen Platz im Raum unserer kollektiven Vorstellungen, Identifikationen und Reaktionen.
So funktioniert unser peripheres, auf das historische Trauma zurückgehendes polnisches Phantasma. Es schließt unsere Mentalität in einem Raum des lokalen Konflikts ein, in dem Polen das Opfer war, die Täter hingegen die miteinander konkurrierenden, aber auch bei der Vernichtung unseres Vaterlandes kooperierenden Mächte Russland und Deutschland.
Erst diese Sichtweise erlaubt es, die Schizophrenie im polnischen Verhältnis zu beiden Migrationswellen zu erklären. Die ukrainische Migration weckt Mitgefühl, Solidarität und Engagement, weil sie die Folge von Russlands imperialistischer Invasion ist, des Angriffes unseres ewigen Feindes. Unser übrigens abgelöstes Phantasma erweist sich hier immer noch als aktuell und nützlich. Es gestattet, Russlands Aggression zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Das geschieht, weil das Russland von heute in seiner Vergangenheit als Großmacht steckengeblieben ist und versucht, diese wieder zum Leben zu erwecken. Es spielt um seine imperiale Position in der Welt, in der es dafür längst keinen Platz mehr gibt. In dem es einen Krieg wie im frühen 20. Jahrhundert führt, bleibt es für die polnische, aus ebenjener Zeit stammende kollektive Vorstellung völlig lesbar. Doch in der heutigen Realität erscheint dieser Krieg als Anomalie und lässt sich in keiner Weise erklären. Daher bleiben seine Ursachen für die westeuropäischen Gesellschaften unverständlich. Daher haben damit auch Länder wie China oder Indien so offenkundige Probleme, da sie dem Krieg erst sekundär eine reale Bedeutung zu geben und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versuchen.
Mit der Migrationswelle an der belarusischen Grenze verhält es sich ganz anders. Auch wenn sie von Putin und Lukaschenka zu politischen Zwecken provoziert wurde, ist sie in ihrem Wesen die Folge eines Konflikts und einer Krise, die völlig unserer Zeit angehören. Da jedoch das polnische Phantasma von der Realität unserer Zeit abgelöst ist, nimmt sie die im Białowieża-Urwald umherirrenden Migranten als gespenstische Erscheinungen war, als Simulacrum: Etwas, das zu existieren vorgibt, in Wirklichkeit jedoch nicht besteht. Leider hat diese Erkenntnisweise für die Migranten fatale Folgen. Denn das polnische Phantasma drängt sie an eine Grenze, an der sie ganz real das Leben verlieren können.
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Es gibt keinen Anlass, optimistisch zu sein. Nicht nur, was die Zukunft der Migranten an der polnisch-belarusischen Grenze betrifft. Sondern auch die polnische Zukunft.
Wir sollten die Polen nicht für ihre besondere Amoralität geißeln, noch sollten wir sie für ihren außerordentlichen Edelmut loben, zu dem sie sich emporgeschwungen haben. Wir sollten auf Polen als einen unglückseligen Abschnitt der europäischen Peripherien blicken, der sich in seiner traumatischen Erinnerung verfangen hat, in seinen nicht zur Jetztzeit passenden Vorstellungen und Einsichten. Als solches ist Polen ein Beispiel für das globale Problem, nur potenziert bis zu den Grenzen des Möglichen. Um das zu ändern, müsste das polnische Phantasma abgewandelt, oder eher noch müsste es zerstört und durch ein neues ersetzt werden. Bisher gibt es kein Konzept, wie das zu bewerkstelligen wäre. Seine abgelöste Inadäquatheit geht nämlich einher mit einer zu Außenperspektiven unfähigen Nabelschau, einer vollkommenen Imprägnierung durch die nationalen Traumata und Katastrophen.
Wer sollte uns da herausholen? Zumal der politische Mainstream davon lebt, dass das Phantasma fortbesteht und noch weiter angeheizt wird (PiS), oder aus Angst vor einer weiteren Wahlniederlage keinen Mut hat, daran zu rühren (Bürgerkoalition)? In dieser beinahe hoffnungslosen Lage hoffe ich trotz allem, dass Agnieszka Hollands Film einen Impuls liefern wird, der dazu beiträgt, einen allmählichen Wandel in Gang zu setzen. Wir müssen Mut fassen und der Politik entgegen dem polnischen Phantasma auf die Grenze richten. Indem wir vielleicht die Grenzen unserer Vorstellungen verletzen, werden wir endlich die Chance haben, sie zu überschreiten oder neue Weisen zur Wahrnehmung der Welt und Reaktion auf sie gewinnen? Es ist nicht mehr viel Zeit dazu.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann