Zum Inhalt springen

(Nicht) unsere Erinnerung?

In den ersten Novembertagen besuchen wir traditionell die Gräber unserer Verwandten, Freunde, Nachbarn, aber auch uns unbekannter Menschen, die wir jedoch sehr schätzen und achten. Wir bringen Blumen und Grablichter mit, wir zünden Kerzen am Friedhofskreuz an, um derjenigen zu gedenken, an deren Gräbern wir nicht innehalten können. Die staatlichen und kommunalen Behörden, verschiedene Institutionen und Organisationen erinnern auf eine ähnliche Art und Weise ihrer verstorbenen Vorgänger, Mitglieder, Gefährten. Neulich war ich auf dem alten Freidhof in Bystrzyca Kłodzka (Habelschwerdt). Leider wurden auch diesmal die bedeutenden Bürger der Stadt von vor 1945 vergessen, die hier ruhen. Nicht einmal die Stadtverwaltung oder die Schulen entsinnen sich ihrer, nur manchmal zündet einer der Einwohner eine schlichte Kerze an. Diese Stille und Leere zeigen, dass trotz der einst lauten Rufe nach Erkundung der ganzen Geschichte samt bedeutenden Persönlichkeiten [der ehemals deutschen Gebiete, Anm.d.Red.], sie doch fremd bleibt, als Etwas von außerhalb wahrgenommen wird, und vielleicht nur in der Tourismus-Werbung Platz findet.

„Vergebliche Liebesmüh“

Die Städte in den West- und Nordgebieten Polens haben eine komplizierte Geschichte, deren viele Kapitel die Schicksale der deutschen Einwohner beinhalten. In den vergangenen Jahrzehnten ist uns gelungen, einen Umgang mit ihnen und ihrer Geschichte zu finden. Im Gegensatz zu den kommunistischen Zeiten wollten wir eine gewisse Verknüpfung und eine signifikante Fusion verschiedener Vergangenheitspfade schaffen. Wir waren stolz auf die Leistungen der ehemaligen Einwohner; wo wir nur konnten, unterstrichen wir nachdrücklich die Verdienste der großartigsten von ihnen.

Das äußerte sich in Gedenktafeln, historischen Büchern und Ausstellungen, in den lokalen Veranstaltungen und Festivals. Die antideutschen Töne, die von der polnischen Rechten in den letzten Jahren aufgedrängt wurden, stellten, zumindest teilweise, diese offene Haltung infrage. Die einstige Zugehörigkeit der polnischen West- und Nordgebiete zu Deutschland wurde von vielen erneut als unbequem empfunden und rief Reaktionen hervor, welche an die „zu Recht vergangenen Zeiten“ erinnerten. Zurück kam die nicht zu überhörende Herausstellung des Polentums, als ob die Erinnerung an die komplizierte Geschichte eine Gefahr darstellen würde.

Der Fall Bystrzyca

Vielleicht messe ich dem Fall von Bystrzyca Kłodzka eine übermäßige Bedeutung bei: Im Lyzeum hängen Gedenktafeln, das Grab des deutschen Schriftstellers Hermann Stehr am Parkberg wurde erneuert (eher rekonstruiert), als die Gegend umfassend saniert wurde. Vor einigen Jahren erschien die zweite Auflage einer umfangreichen Monografie zur Stadtgeschichte.

Allerdings, falls die Hochfeste der Allerheiligen und Allerseelen zu einem Lackmustest werden sollten für das tatsächliche, tiefere Interesse an der Vergangenheit der Stadt, auch der deutschen und für irgendeine emotionale Verbindung damit, dann wird es schwer, optimistische Schlussfolgerungen zu ziehen. Selbstverständlich wird heute niemand den alten Friedhof verwüsten, keiner will ihn auflösen, er liegt einfach abseits der Interessen der heutigen Einwohner von Bystrzyca, er scheint ihnen ziemlich gleichgültig zu sein. Auf diesem Friedhof sind einige polnische Gräber und diese werden noch von den Familien der Verstorbenen besucht.

Die Gleichgültigkeit betrifft ebenfalls die katholische Kirche. Denn ich entsinne mich an die Zeiten, als vor dem 1. November die Grabstätten der hiesigen ehemaligen Pröpste aufgeräumt und mit Blumen und Grablichtern geschmückt wurden. Jetzt stehen sie verlassen da, langsam dem Verfall preisgegeben, obwohl sie vor allem Denkmäler der Grabkunst darstellen, wie das Grab der Pfarrers Dr. Wilhelm Hohaus.

Ich besuche diesen Friedhof jedes Jahr, zünde Grablichter für die Persönlichkeiten an, die für die Geschichte der Stadt wichtig sind, die sich um die Entwicklung der hiesigen Wirtschaft, Kultur, Selbstverwaltung verdient gemacht haben. Sie sind keinesfalls anonym, da man heute leicht Informationen über sie finden kann. Wäre die Finanzierung eines symbolischen Grablichtes wirklich eine solche Anstrengung? Oder wollen wir gar vergessen, die „unerwünschte Erinnerung“ verdrängen? Ich halte fest: Dies sind Menschen, die durch die Nazi-Zeit nicht belastet sind …

Wir müssen die Regionalismusidee überdenken

Meiner Meinung nach wird es schlussendlich zur Wiederaufnahme einer sachlichen Diskussion über die Zukunft der Regionalismusidee in den polnischen West -und Nordgebieten kommen. Zur nationalen Geschichte zurückzukehren, sie erneut in den Vordergrund zu stellen, hatte vermutlich einen der interessantesten Prozesse geschwächt, an dem wir teilnahmen. Endlich begannen wir damals, ohne Angst und Komplexe, die Vergangenheit unserer Gebiete zeitlich und räumlich zu entschlüsseln. Wir konnten ihre Vielfarbigkeit und Unterschiedlichkeit erkennen, indem wir die früheren Schwarz-Weiß-Schemata verwarfen.

All das erlaubte uns, von dem einzig richtigen Geschichtsbild wegzukommen, das Lokale und Regionale wertzuschätzen; ebenso das ehemalige, das uns aber so nahe ist, wie niemandem sonst. Weil wir es sind, die hier wohnen, in dieser Landschaft leben, mit diesem Erbe.

An der Diskussion müssen natürlich die Selbstverwaltungen, Kulturinstitutionen sowie Schulen aktiv und kontinuierlich teilnehmen. Ich bin schon am überlegen, wie lange wir auf die regionalen Beilagen in den Geschichtsschulbüchern warten werden. Wenngleich Jahrzehnte vergangen sind, hat noch keiner solch ein Konzept umgesetzt. Die Diskussion über das polnische Bildungswesen fängt aufs Neue an. Vielleicht lohnt es sich, in ihrem Verlauf über die entsprechenden Aspekte der Geschichtsbildung zu sprechen. Wie sollten wir dazu ermutigen, sich für das Lokale / Regionale zu interessieren, wenn wir dies in der Schule als etwas Marginales, Nebensächliches betrachten?

 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf: https://blogifotografia.pl/stary-cmentarz/?fbclid=IwAR1FIhnePfCtJm3eiYTTxNNukAXpNxebdrspkD3_6gEqis1K1pwlMZ9KBBY

Schlagwörter:
Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz

Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

2 Gedanken zu „(Nicht) unsere Erinnerung?“

  1. Vielen Dank für den Bericht, der mich schon allein deshalb sehr interessiert hat, weil meine Mutter in der Kreisstadt Glatz (Klodzko) geboren wurde und in der dortigen Franziskanerkirche zur Erstkommunion gegangen ist, in Habelschwerdt wohnten Verwandte. Ihr Vater war einer der Abteilungsleiter der Glatzer Stadtverwaltung, er wurde 1933 von den Nazis rausgeworfen und war danach eine Zeitlang arbeitslos, bis er eine Stelle beim Roten Kreuz fand.

    Was die deutschen Gräber angeht, so gibt es auch positive Beispiele, etwa die Kreisstadt Prudnik, das frühere Neustadt OS (= Oberschlesien), ganz im Süden der Woiwodschaft Oppeln: Dort sind die Gräber der deutschen Pfarrer, die in einer Rotunde in der Mitte des Friedhofs kreisförmig angelegt wurden, in den vergangenen Jahren aufwändig renoviert worden, eine Fülle von Grablichtern stand auf ihnen zu Allerheiligen. Und es gibt seit ein paar Jahren in Prudnik eine Initiative, auch andere Gräber aus der Vorkriegszeit zu renovieren, dafür stehen Mitglieder der Initiative vom 31. Oktober bis 2. November mit Sammelbüchsen an den Toren zum Friedhof.

  2. … der Bericht weckte in mir die Erinnerung an unsere Lieben, vor allem an meine Schwester, die mit acht Jahren 1942 an Scharlach starb und auf dem Coseler Friedhof in Breslau beerdigt wurde. Danke, danke Grüße Georg

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.