Gespräch mit dem russischen Schriftsteller Wiktor Jerofejew
Dorota Danielewicz: Hast Du Russland gleich nach Putins Angriff auf die Ukraine Deiner Familie oder Dir selbst zuliebe verlassen?
Wiktor Jerofejew: Putins Regime wurde unerträglich, nach dem Februar 2020 war ich von Abscheu erfüllt. Nicht ich habe Russland verlassen, Russland war es, das mich verlassen hat. Dazu muss ich noch sagen, ich lebe seit fünfzehn Jahren offiziell in Frankreich. Im Grunde genommen bin ich nicht geflüchtet, ich bin einfach zu meinem zweiten Wohnsitz gefahren. Unterwegs habe ich einen Halt in Deutschland gemacht, weil man mir eine Professur an zwei Universitäten vorgeschlagen hat, in Lüneburg und in Halle. Man wusste von meiner Familie, die ich aus Moskau mitgenommen hatte. Kontakte zu Frankreich und Deutschland habe ich stets gepflegt. Überhaupt habe ich zwei Seelen, eine russische und eine französische, weil ich in meinen Kinderjahren teilweise in Paris gelebt habe. Zurzeit ist für uns Berlin der beste Ort. Wenn sich indessen die Arbeitsmöglichkeiten ändern sollten, werden wir nach Paris gehen. Schon immer mochte ich Paris lieber als Moskau.
Dieser Abscheu, von dem ich sprach, betraf die allgemeine Verlogenheit. Nicht nur die öffentlichen Medien, sondern auch die Menschen, ganz gewöhnliche Leute hatten allenthalben gelogen. Ich musste ausreisen, da meine ganze Familie so entschied. Es ist also nicht mal eine Metapher, wenn ich sage, Russland hat mich verlassen, ich habe es aus mir selbst verjagt.
Jetzt müssen wir bleiben, eine meiner Töchter geht hier zur Schule, die andere in den Kindergarten. Ich arbeite sehr viel, ich bin dabei, zwei Bücher zu veröffentlichen, ich schreibe für deutsche Medien.
Was bedeutet das eigentlich, Russland aus sich selbst zu verjagen?
Russland ist zuweilen sehr unterschiedlich, weil es das Russland der großen Schriftsteller gibt, und das ist mein Russland. Wir haben eine Kultur, die sich mit der Weltkultur messen kann. Kasimir Malewitsch, Boris Pasternak, die Musik und vieles andere mehr. Demgegenüber gibt es ein Russland der Schwarzen Hundertschaften, Kommunisten, Faschisten, Arbeitslagern, des Wladimir Putin. Und in dem Buch „Der große Gopnik“, das bereits in Polnische übersetzt wurde und gerade eben in Deutschland erschienen ist, vergleiche ich das Leben von Putin mit meinem eigenen. Einerseits ist das dramatisch, andererseits wirklich komisch.
Gegenwärtig gibt es überall in der Welt Streitgespräche, da zum einen die große russische Kultur gelobt, zum anderen die russische Ignoranz nicht verstanden wird.
Aktuell erklären die Ukrainer, die russische Kultur sollte nicht beworben werden, weil sie ein Teil Russland sei, das weiß ich und ich bin der Meinung, sie haben Recht. Während des Zweiten Weltkrieges wurden ebenfalls keine deutschen Bücher veröffentlicht. Wenn Menschen sterben, Kinder getötet werden, ist das eine normale Reaktion. Allerdings endet der Krieg irgendwann und die Umstände ändern sich. Diese große russische Kultur ist vor allem gegen das imperiale Russland, gegen einen Staat als repressives Machtorgan, obwohl diese Haltung niemals dominieren durfte. In Polen hattet ihr andere Bedingungen, obschon die jetzige Regierung wiederholt versucht hatte, einen Einfluss auf die Kultur auszuüben. Und in der heutigen Ukraine, so meine Hoffnung, gibt es eine Chance für die freie ukrainische Kultur, die dann Vorrang haben würde. Die wahre Kultur steht fortwährend in Opposition zur offiziellen. Sogar die am meisten opportunistische, angepasste, ist oppositionell. Die offizielle Kultur ist gar nichts, sie hat keine Bedeutung. Der Einfluss des Staates ist zu groß für die Kultur, die sich angepasst, dadurch verliert sie ihre Tatkraft und Lebendigkeit.
Dennoch bist Du Teil der russischen Kultur, dieser oppositionellen …
Ja, und deswegen kann ich sie nicht gänzlich aufgeben. Die Hand kann den Körper nicht loswerden. Ich bin ein Finger oder ein Ohr dieser Kultur, ich weiß selbst nicht so recht, was ich für sie bin. Obschon ich nicht unbedingt behaupten kann, das, was ich schreibe, sei Teil der russischen Kultur. Meine Arbeit wird genauso von der französischen und polnischen Kultur beeinflusst, nicht nur von Büchern, ebenso von Freunden und meiner polnischen Familie, so, wie von Deutschen oder Amerikanern. Ich kann schon seit Langem nicht mehr beteuern, ich bin ein wahrlich russischer Schriftsteller, auf jeden Fall bin ich ein Kosmopolit.
Wie hältst Du Kontakt mit Russland, wie erreichen Dich die inoffiziellen Nachrichten?
Sicherlich ist das so, wie im Exil nach der Oktoberrevolution: Jeden Tag denkst du daran, wann dieser Krieg enden wird. Damals dauerte es siebzig Jahre; keiner der Migranten hat das Ende erleben können. Diesmal wird es anders sein, obgleich wir nicht wissen, wie. Ich fahre zu den Kongressen der russischen Opposition und auch dort konnte mir keiner erzählen, wie alles endet. Bei den Treffen nahm ich eine gewisse kulturelle Impotenz wahr, wie immer. Sie schafften es nicht, ihre Aktionen zu koordinieren. Zum Beispiel behauptet die radikale Nawalny-Gruppe, der Redakteur von „Echo Moskau“ sei ein Kreml-Agent, was unglaublich dumm ist. Wie dem auch sei – keiner von denen weiß etwas. Hier in Deutschland bin ich zu beschäftigt, um mich öfter mit den Russen zu treffen, ich mache aber eine Sendung im „Radio Golos Berlina“ (Radio Stimme Berlins), in der ich über die russische Literatur spreche. Solche Sendungen habe ich früher in Russland gemacht, später bin ich ausgereist und so hat es geendet. Heutzutage möchte ich insbesondere darüber sprechen, wie sehr die russische Literatur durch die Ideologie beschmutzt wurde. Ich verpasse den von mir besprochenen Klassikern eine Dusche, keine soziale, eher eine philosophisch-ironische. Die Sendung heißt „Gespräch über Klassiker“.
Wie bewertest Du Nawalnys Bemühungen, nach Russland zurückzukehren? Hat er irgendeinen Einfluss darauf, was in Russland jetzt oder in der Zukunft passiert?
Nawalny ist seit vielen Jahren ein Held. Ich kenne ihn gut, er ist ein faszinierender Mensch, politisch enorm engagiert, sein Handeln wirkt sich sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Zukunft aus. Seine Ansichten sind liberal-demokratisch, was für die Europäer vielleicht banal erscheinen mag, was nicht heißt, diese Banalität könnte irgendwann die Macht übernehmen. Russland verfolgt einen anderen Ansatz in Bezug auf Macht und Geschichte, obwohl seine Geschichte wie ein brutales Märchen daherkommt, das sich im Kreis dreht und sich ständig wiederholt. Doch zurück zu Nawalny: Er ist ein bemerkenswerter Mensch, genauso wie seine Frau und seine Kinder und wenn er nicht ermordet wird, wir er einen großen Einfluss auf das zukünftige Russland ausüben. Manche werfen ihm seine nationalistische Vergangenheit vor, womöglich zurecht, ich glaube indes, er hat nach Optionen gesucht, um sich in der Politik einen Namen zu machen. Diese alten Zeiten sind vorbei, der Nationalismus ist für ihn gar kein Thema mehr. Leider wissen wir, wenn Politiker über etwas sprechen, dann sagen sie heute das eine und morgen das andere. Mein Vater war Politiker, ich weiß genau, wie es funktioniert.
Du sprichst von liberalen, banalen Ansichten Nawalnys, trotzdem schreibst Du in dem Buch „Der gute Stalin“, in Russland gebe es immer noch zu wenig Liberalismus. Zwar ist das Buch schon einige Jahre alt, doch mir scheint, als ob die Frage nach Liberalismus derzeit aktueller ist, als damals, als Du es geschrieben hast.
Ich verrate Dir was: In der russischen Gesellschaft gibt es seit jeher 20 Prozent an Menschen, die heimlich oder offen liberal sind. Ob vor der Revolution, danach oder jetzt – nichts hat sich geändert. Der russische Staat allerdings war und ist autoritär, und das ist der andere Teil des Märchens, der von dem brutalen Zaren.
Unser Märchen vom bösen Zaren wiederholt sich nach einem gewissen Muster. Zuerst Repressionen, anschließend kommt der Frühling, dieser Frühling ist schön, weil dann die Menschen aufleben, schreiben, Neues tun, viele gute Dinge passieren. Danach kommt jemand Neues und führt neue Repressionen ein, und es bleibt wie eh und je, wir drehen uns im Kreis. Einerseits ist das ein Albtraum, andererseits ist das womöglich wichtig, um zu erfahren, was den Menschen ausmacht, warum er so brutal, so grausam sein kann. Insofern würde man hier von einem negativen Experiment sprechen. Der junge Fjodor Dostojewski, als er noch ein Sozialist war, meinte, Russland sei gewissermaßen ein Anti-Versuch der Menschlichkeit. Und wenn wir von Repressionen und Kultur sprechen, so bin ich mir nicht sicher, ob diese Kultur so herausragend wäre, wenn es die Repressionen nicht gegeben hätte. Besser wäre es natürlich, keine Kultur zu haben und ohne Repressionen zu leben, jedoch ist die russische Kultur mit jener Realität verbunden, die wirklich existiert, also mit der Repression.
Wie schätzt Du die russische Literatur der letzten Jahre ein?
Als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich eine Anthologie unter dem Titel „Exit“ herausgegeben. Es ist eine Anthologie der wichtigsten Werke der russischen Literatur, Philosophie und Essayistik mit vielen sehr guten Beiträgen von Wladimir Sorokin, Boris Akunin, Ljudmila Ulitzkaja und anderen jungen Menschen.
Ansonsten gibt es die offizielle russische Literatur, jetzt ist das die Kriegsliteratur, die Literatur „Z“; lauter neue Texte über diese „Z“-Literatur, die wie immer, wie in den Sowjetzeiten, von Helden erzählt, patriotisch ist. Leider wird der heutige offizielle Diskurs auf einige wenige Worte reduziert: Wir sind besser, als die anderen.
Ist das alles, die ganze Ideologie?
Ja, warum wir besser sind. Es ist eine slawische, sowjetische und faschistische Mischung.
Auf dem Literaturfestival in Berlin, wo Du zu Gast warst, wurde über die Aufklärung und deren Fehlen in Russland gesprochen. Im Westen wird oft konstatiert, da es in Russland keine Aufklärung gab, wird das Land nicht vom Verstand als gesellschaftlichen und politischen Kompass geleitet. Du hast wiederum erklärt, es sei gut, dass es keine Aufklärung in Russland gegeben habe.
Wir entstammen verschiedenen Zivilisationen: Die chinesische ist anders, die russische, hinduistische oder europäische, und es ist schwer zu behaupten, all die Zivilisationen seien wertlos. Diese rationale Zivilisation findet ihren Widerhall in „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski oder in „Krieg und Frieden“ von Lew Tolstoi. Wir hatten auch die Zarin Katharina, eine Persönlichkeit der Aufklärung, obgleich sie nicht mit der französischen Aufklärung zu vergleichen sei, welche zu der schrecklichen Französischen Revolution führte. Die Menschen der Aufklärung leben, bildlich gesprochen, mitten im Dasein, sie klettern nicht hoch und nicht runter. Russland dagegen lebt in keinem solchen Zustand, entweder steigt es hoch oder herunter; das sind ganz andere Dimensionen, wobei das Volk sowieso irgendwo unten lebt.
Den Durschnitt gab es nie für das Volk, die Aristokraten lebten vielleicht in gewisser Weise in der Mitte, und die Kulturschaffenden stiegen auf. Bei uns mochte niemand den Mittelstand, Maxim Gorki mochte ihn nicht, Anton Tschechow nicht, im Kommunismus gab es ihn ebenfalls nicht. In den 1990er Jahren kam er teilweise an, durch die Korruption ist er jedoch gescheitert. In Russland gibt es keine Nation, es gibt ein Volk. In Frankreich haben wir eine französische Nation, in Spanien eine spanische … Was ist ein Volk? Es ist ein archaischer Begriff, der übrigens im Westen nicht verstanden wird; sie sagen, die Russen werden von Putin in Beschlag genommen oder ähnliches … dem ist aber nicht so. Angenommen, es würde freie Wahlen geben, wüssten wir, ob sie nicht einen noch schlimmeren Despoten wählen würden? Garri Kasparow meint, Putin sei schlecht und das Volk sei gut; darauf antworte ich, ich kenne folgenden Wortwechsel bei uns: Der Reanimierende sagt, Russland sei krank und man müsse es reanimieren, und der Pathologe meint, es sei schon tot. Kasparow habe ich mit dem Reanimierenden und mich mit dem Pathologen verglichen. Das Volk ist wie die Ameisen, es läuft über diesen ganzen toten Körper und lebt von ihm. Nach dem Krieg kann uns nur ein Wunder retten, ein metaphysisches. Chruschtschow war nach Stalin ein Wunder, sicher nicht sehr elegant, aber ein Wunder. Später war Gorbatschow ein wahres Wunder. Ob es ein drittes Wunder geben wird und wie es sein wird, wissen wir nicht. Es ist möglich, ob es realisierbar sein wird, weiß ich nicht. Nichtsdestotrotz wird es ein kein solches Wunder sein, dass der tote Körper Russlands auf einmal aufersteht. Das Wunder wird sein, wenn ein neuer, anderer Körper erscheint. Nach diesem Krieg wird der alte Köper auf keinen Fall auferstehen, das ist unmöglich. Es wird nicht mehr dieses Russland sein, das wir kennen, was nicht bedeutet, es wird besser, da es auch schlimmer sein kann. Meines Erachtens ist diese Art des Rationalismus, verbunden mit der sozialen Niederlage der russischen Kultur ziemlich interessant, wie manche Blumen. Die Vereinigten Staaten erleben einen genauso absurden historischen Moment und wir wundern uns darüber, was hier alles passiert. Eine Epidemie der Dummheit grassiert in der ganzen Welt. In Deutschland hat Angela Merkel sehr viel Falsches in Bezug auf Russland unternommen, in Frankreich wählen über 40 Prozent der Franzosen Marine Le Pen, die eine Halb-Faschistin ist. Die Briten sind aus der Europäischen Union ausgetreten, das ist furchtbar. Russland ist selbstverständlich der Vorreiter bei dem politischen Idiotismus.
Russland war in viele Wahlkämpfe involviert. Bekannt ist die Teilnahme von Cambridge Analitica an Trumps Wahlkampf oder an der Brexit-Kampagne.
Ja, natürlich, Russland verbreitet seine totalitäre Magie unter gewöhnlichen Menschen. Diejenigen, die vom Westen her auf dieses Land blicken, sehen dessen Bruchstücke; sie sind nicht imstande, das Ganze zu betrachten. Es ist eine komplett andere Zivilisation, worüber ich bereits viel geschrieben habe, letztens in meinem Buch „Der große Gopnik“. Diese Zivilisation ist nicht behaglich, und wenn ich vom Weiten auf Russland schaue, sehe ich noch deutlicher ihre dunklen Seiten.
Hier würde ich gerne den polnischen Autor Andrzej Stasiuk und sein Buch „Der Osten” zitieren. Darin schreibt er von dem östlichen Nichts, von der Leere, die anzieht und sich nähert. Eine kulturelle Leere.
Wir hatten uns einmal in Polen getroffen und er fragte mich, wohin er in Russland fahren sollte; ich sagte ihm, er sollte nach Sibirien fahren, dort gibt es diese Leere. Nun, er ist dorthin gefahren und hat sie wohl in seinem Buch beschrieben. Über diese Leere schrieb bei uns Viktor Pelewin, sie sei eine Art Meditation. Jetzt erzähle ich Dir auf Russisch, wie das so ist mit Meditation. Eine Axt schwimmt den Fluss hinunter, das Dorf schaut zu und lässt sie schwimmen, das Eisen ist beschissen, sie solle trotzdem ruhig weiterschwimmen. Das ist die totale Passivität, alle schauen zu, keiner reagiert. Diese Axt ist symbolisch, das Volk weißt, es kann nichts tun. Die Axt schwimmt, man könnte sie rausholen, bloß keiner tut das. Das Fehlen einer Reaktion ist bezeichnend für den Osten, jedoch nicht für Asien. Der Chinese hätte nie behauptet, das Eisen sei beschissen, er hätte gesagt, es sei schier ein Wunder, dass die Axt schwimmt.
Also keine Metaphysik, nur Gleichgültigkeit?
Metaphysik ist sehr wohl dabei, weil eine Axt normalerweise nicht schwimmen kann. Das ist ein poststalinistisches Gedicht, es ist die Sichtweise von jemandem, der sich entfremdet hat, der keinen emotionalen Kontakt damit hat, was er sieht, der nicht reagiert. Eigentlich ist das kein Gedicht, es ist eine Tschastuschka (ein scherzhaftes Volkslied). Sie ist perfekt, großartig in ihrer Botschaft, man könnte eine ganze Abhandlung darüber schreiben. Der Mensch schaut auf die Axt von oben herab, trotzdem ist er nicht wichtiger als sie. In einem der hervorragendsten Romane des 20. Jahrhunderts beschrieb Andrei Platonow eine solche Entfremdung. Das Buch trägt den Titel „Tschewengur“, da der Roman in der gleichnamigen Stadt spielt, im Süden Russlands, nah an der ukrainischen Grenze. Platonow zeigt, was das Glück des Volkes während des Bürgerkrieges wirklich ausmacht: der ganze Sadismus, die Kameradschaft, die Gleichgültigkeit; er analysiert dabei auf geniale Art und Weise das Wesen der russischen Glückseligkeit – es ist eine extreme Barbarei. Putin hat das Geheimnis des Volksglücks entdeckt, da er selbst aus dem Volk kommt. Er hat verstanden, dass Annehmlichkeiten und ein höherer Lebensstandard keinen Vorrang bei den Russen haben. Die Freundschaft mit dem Westen spielt ebenso keine Rolle. Es gibt ein Märchen über den Wolf und den Hasen, wo sich ein Liedchen wiederholt: „a nam vse ravno” – uns ist alles egal.
Eine der schlimmsten russischen Grausamkeiten gegenüber der Ukraine war der Holodomor in den 1930er Jahren, als die Getreidevorräte allesamt dem Westen verkauft wurden und dadurch sieben Millionen Menschen dem Hunger zum Opfer fielen. Wie weit ist die Geschichte des Holodomor in Russland bekannt?
Gar nicht; nur manche wissen davon, diejenigen, die die diese Hölle als Kinder überlebten. Der Rest hat kein Interesse daran. Es gibt einen großen Unterschied zwischen den Russen und den Ukrainern; die Ukrainer sind den Polen ähnlich, weil sie den Begriff des Privateigentums kennen. Den gemeinen Russen könnte man als einen Rüpel betrachten, der nichts herstellt, nichts tut, faul und passiv ist. Der gemeine Ukrainer wiederum ist anders, er ist wie ein Egoist, der alles für sich selbst behält. Noch dazu ist die Westukraine mit der polnischen, ungarischen rumänischen Kultur verbunden. In Russland ist die Volksmentalität gegen das Privateigentum, was man in dem kleinen Gedicht von der Axt sehen kann: sie schwimmt vor sich hin und gehört niemandem. Ein solches Gedicht könnte niemals in der Ukraine entstehen, dort ist die Mentalität eine andere. Zum Beispiel: zu Sowjetzeiten wurden in Kyiv verschiedene Schokoladen und Bonbons hergestellt. Auf den Verpackungen gab es Zeichnungen mit Mädchen, die am Wasser saßen, bei ihnen hübsche Jungs. Schon damals dachte ich, dies wäre in Russland nicht möglich: Die Russen mögen keine Harmonie, für sie liegt das Glück in der Überwindung der Harmonie. Vor einem Jahr hielt ich in Hamburg einen Vortrag zum Thema „Was ist das russische Glück und welchen Unterschied gibt es zum deutschen Begriff des Glücks“. Dies ist ein sehr interessanter Vergleich: Das deutsche Glück bedeutet Familie und materiellen Erfolg. Vielleicht noch die Metaphysik und Gott oder eine ähnliche höhere Macht zu finden.
Das russische Glück befindet sich nicht in der Mittelzone. Diese Harmonie, welche die Ukrainer erreichen wollen, passt zu der europäischen. Ich erkläre Dir den Unterschied: Einmal fuhr ich mit einem Freund auf die Krim, es war die sowjetische Krim. Mein Freund meinte, wenn wir die Grenze erreichen, werden wir in Charkiw in ein Restaurant gehen. Welche Grenze, überlegte ich mir, da keine zu sehen war. Erst im Restaurant erkannte ich, warum wir nicht mehr in Russland waren: In Russland war es leicht, sich eine Lebensmittelvergiftung zu holen, in der Ukraine nicht … In den Restaurants wurde das Essen hübsch serviert, es war schmackhaft, die Teller waren sauber, die Gläser genauso. Die Ukrainer respektierten schon andere Menschen und sich selbst, sie würdigten die Arbeitsmoral. Die Menschen müssen zufrieden sein mit dem, was du tust. Wenn du all das sieht, dann stellst du fest, es sind zwei ganz andere Völker und Mentalitäten. Die Ukraine bemühte sich, die Zivilisation zu erhalten, Russland dagegen, trotz der Gleichgültigkeit, fühlte und fühlt sich überlegen. Das alles ist eigentlich leicht zu verstehen.
Leicht zu verstehen, wenn Du uns das erklärst.
Irgendwann lief ich in der Mittagszeit mit meinem Freund Friedrich Gorenstein, der während der Perestrojka in Berlin lebte, den Kurfürstendamm entlang. Die Berliner saßen draußen in den Restaurants. „Ich habe Lust, den Teller vom Tisch zu nehmen und ihn auf den Bürgersteig zu werfen“, gestand dieser große Schriftsteller und lächelte dabei glückselig. Putin entdeckte das Geheimnis des russischen Glücks: Es ist die Dominanz und der Verstoß gegen alle Normen. Was wird am Ende gewinnen: die europäische Kultur und Vernunft oder die russische Entropie?
Wiktor Jerofejew, russischer Schriftsteller, geboren 1947 in Moskau, wurde bekannt durch seinen Roman „Die Moskauer Schönheit“ (1989). Jerofejew schreibt regelmäßig für Zeitschriften, u.a. die New York Times Book Review
Dorota Danielewicz, geb. in Poznań, Polen. Zweisprachige freie Publizistin, Autorin und Kulturmanagerin. Buchveröffentlichungen: „Auf der Suche nach der Seele Berlins“ (Europa Verlag, 2014), „Der weisse Gesang. Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution“ und „Droga Jana“ (Krakau 2020/„Jans Weg“ erschienen 2022 ebenfalls im Europa Verlag.