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Die nationale Frage in Russland und wie sich die Ukraine dazu stellen sollte

Als in der Frühe des 24. Februar 2022 die russische Armee in die Ukraine einfiel, erstarrte die Welt in Erwartung der raschen Eroberung dieses Landes mit seinen vierzig Millionen Einwohnern inmitten Europas. Die russische „militärische Spezialoperation“ sollte dem Westen die nicht überschreitbare Grenze der Hegemonialsphäre Moskaus auf dem Kontinent zeigen, aber ein Jahr nach dem Beginn können wir sicher sein, dass das Moskauer Maximalziel, nämlich die Unterwerfung der Ukraine, nicht erreicht wurde. Mehr noch, Putin hat sich in einem Krieg festgefahren, den er nicht gewinnen kann, noch kann er sich daraus zurückziehen, will er keine Palastrevolte riskieren.

Das Scheitern der Blitzkriegsstrategie hat den Mythos von der unbesiegbaren russischen Armee zerstieben lassen. Das hat vielfach im Westen erneut alte Spekulationen angefacht, ob das Moskauer Zentrum wohl in der Lage sei, die Kontrolle über die nichtrussischen Regionen der Russländischen Föderation zu behalten. Manche Ukrainer setzen mit separatistischen Bewegungen Hoffnungen auf die Niederlage des Gegners und haben sich in die Gedankenspiele zur Entkolonisierung“ Russlands eingeschaltet. Solche Auffassungen sind zwar nicht offizielle Position Kiews, doch sind sie am Dnepr ausgesprochen beliebt und gehen mit der Überzeugung einher, der imperialistische Politikstil des Kremls werde auf ewige Zeiten eine Gefahr für Europas Sicherheit darstellen. Die aktuellen demographischen, politischen und sozialen Voraussetzungen sprechen jedoch nicht dafür, dass ein solches Szenario in nächster Zukunft Realität werden könnte, weil separatistische Bestrebungen nur schwach ausgeprägt sind, während sich umgekehrt die Menschen weitgehend passiv verhalten. Anstatt also ausufernde Spekulationen über die „Dekolonisierung Russlands“ anzustellen, sollten wir uns eher darauf konzentrieren, ukrainische Freiheitsbestrebungen zu fördern, die auf den Austritt aus der russischen Interessensphäre abzielen. Eine solche Botschaft wird im Westen auf größeres Verständnis stoßen, als vom Zerfall der Russländischen Föderation zu träumen, zumindest was die für den andauernden Krieg entscheidende kurzfristige Perspektive betrifft. Zudem sollten Fragen des Zerfalls und der „Deimperialisierung“ Russlands nicht miteinander vermengt werden. Denn mehr als einmal hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts vor Augen geführt, dass der Zerfall Russlands nicht gleichbedeutend damit ist, dass es seine imperialistische Politik aufgibt.

Zwischen Russifizierung und Änderung der ethnischen Gemengelage

Ein Blick auf die demographische und linguistische Landkarte Russlands stimmt eher pessimistisch. Nach der Volkszählung von 2021 bilden die ethnischen Minderheiten nur knapp zwanzig Prozent der Russländischen Föderation, und mit Ausnahme des Nordkaukasus verfügen sie in kaum einer Region über eine beträchtliche Mehrheit. Zwar fällt gegenwärtig der Bevölkerungszuwachs in einigen Oblaste und autonomen Republiken zugunsten der altansässigen Bevölkerungen aus, doch verläuft er zu langsam, um möglichen Unabhängigkeitsbestrebungen in naher Zukunft Erfolgsaussichten zu verschaffen. Darüber hinaus ist in den vergangenen zehn Jahren der Gebrauch der nichtrussischen Vernakularsprachen zurückgegangen, wie sie schließlich für die kulturelle Identität wichtig sind. Eine 2018 verabschiedete Novellierung des einschlägigen Gesetzes fand bei den altansässigen Bevölkerungen weiten Widerhall. Denn sie hob die Verpflichtung für ethnische Russen auf, abgesehen von der Staatssprache die lokalen Sprachen zu lernen, womit sie die ohnehin schon schwierige Lage der Minderheiten noch weiter verschlechterte. Leyla Latypova, eine bekannte tatarische Journalistin und Aktivistin, schrieb auf ihren Seiten in den sozialen Medien, Russland begehe einen „offenen Linguizid und einen ethnischen Genozid an unseren Nationen“.

Abgesehen von seiner zunehmend diskriminierenden Sprachenpolitik, hat Putin die politische Macht unterdessen stark zentralisiert und die volle Kontrolle über die Regionen in seinen Händen konzentriert. Eine Reihe von Gesetzen und Präsidialerlässen hat im Laufe weniger Jahre Russland faktisch in einen zentralistischen Staat mit ausgehöhlten Institutionen sowie rechtlosen, ganz und gar von der Zentralregierung abhängigen Lokalverwaltungen verwandelt. Eine Folge dieser Politik ist, dass die regionalen Führungskräfte keine politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsspielräume mehr besitzen und auf föderaler Ebene kaum repräsentiert sind. Mittelfristig mag der Nordkaukasus aufgrund seiner geographischen Lage und des Übergewichts seiner nichtrussischen Ethnien eine Ausnahme bilden, auch wenn er nur einen winzigen Anteil an der russischen Landmasse hat und nur etwa fünf Prozent der russländischen Gesamtbevölkerung stellt. Selbst wenn Russland diese und weitere Regionen verlieren sollte, würde das für sich genommen immer noch nichts an seinem imperialistischen Charakter verändern, noch würde die russische Führung eine Kurskorrektur vornehmen. Auch historische Analogien lassen sich kaum halten, so etwa mit zum zarischen Russland und der Sowjetunion, auch wenn beide Imperien letztlich zerfielen und dabei die jeweiligen regionalen Nationalismen eine gewichtige Rolle spielten. Es ist jedoch der meines Erachtens ziemlich wichtige Umstand zu berücksichtigen, dass im zarischen Russland ethnische Russen gerade einmal 45 Prozent der Bevölkerung ausmachten, in der Sowjetunion etwas mehr als die Hälfte. Im letzteren Fall war es vor allem die kommunistische Ideologie, die das Nationalitätenkonglomerat zusammenschweißte, doch deren moralischer und ökonomischer Bankrott ließ die Unabhängigkeitsbewegungen schließlich wiederaufleben und neue Staaten entstehen.

An der Schwelle zu Rezession und wachsender Unzufriedenheit über die hohen Kriegskosten in den Regionen dürfen wir natürlich Massenproteste in den entlegenen Provinzen nicht unterschätzen. Die nichtrussischen Nationalitäten der Föderation könnten die ersten sein, welche die Geduld verlieren, was etwa bei den Tumulten in Dagestan zu erkennen war, nachdem die Masseneinziehungen zum Militär begonnen hatten, die der Kreml im September letzten Jahres angeordnet hatte. Viele Experten halten daher den Nordkaukasus für die Region mit dem größten Potential zur Abspaltung, auch wenn sie im Moment vom Kreml streng kontrolliert wird. Ramsan Kadyrow ist die Personifizierung des autoritären Herrschers schlechthin; allerdings hängt seine Macht von seiner unbedingten Loyalität zu Putin und dessen Protektion ab. Er hat nur wenige Freunde in Moskau, und mit einigen hat er sich überworfen, allen voran mit Verteidigungsminister Sergej Schojgu. Die Auffassung, Kadyrow werde nach dem Abgang Putins sofort die Unabhängigkeit Tschetscheniens ausrufen, geht an der Realität vorbei, weil ihm der Verlust seines Protektors erhebliche Probleme mit seinen innenpolitischen Gegnern bereiten würde, die der tschetschenische Satrap jahrzehntelang verfolgt hat. Viele von ihnen kämpfen jetzt auf ukrainischer Seite und warten auf ihre Chance auf Vergeltung.

Die Argumente der Ukraine

Während Kiew seine Argumente und Wünsche ziemlich geschickt vermittelt, was ihm bisher die militärische Hilfe der westlichen Verbündeten eingebracht hat, so tauchen im internen Diskurs ab und an illusorische Aufrufe zur „Entkolonisierung“ Russlands auf, die sich auf die naive Erwartung stützen, das Land werde in kleinere Nationalstaaten zerfallen. Zwar ist es richtig, den Imperialismus des Kremls unter Putins Führung als strategische Bedrohung für die Sicherheit der Ukraine und den Frieden in Europa einzustufen, doch ist der Glaube, die Russländische Föderation werde zerfallen, mehr Wunschdenken als Ergebnis einer faktengestützten Analyse. Selbst wenn die Föderation infolge des Kriegs einen erheblichen Teil ihres Gebiets einbüßen sollte, änderte das nichts an ihrem aggressiven Wesen, noch würde es sie militärisch schwächen. Überdies erscheint es in naher Zukunft kaum realistisch, dass sich die tatarischen, baschkirischen, jakutischen und anderen nichtrussischen Nationalismen in effektive Unabhängigkeitsbewegungen verwandeln könnten. Daher wäre es für denjenigen Teil der ukrainischen Gesellschaft, der immer noch auf eine Art Wunder hofft, sehr viel besser, die vage Rhetorik von der „Entkolonisierung“ durch eine antikolonialistische zu ersetzen, die ganz auf die Befreiung der Ukraine von der russländischen imperialen Übermacht fokussiert ist. Das würde in der westlichen Öffentlichkeit auf sehr viel mehr Verständnis und Zustimmung stoßen, eine unbedingte Voraussetzung, um die weitere politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung für den sehnlich erhofften und teuer bezahlten Sieg zu erhalten. Daher ist es ein viel realistischeres und berechtigteres Ziel, sich auf den Sieg über die russische Armee auf dem Schlachtfeld zu konzentrieren als auf den Niedergang Russlands, der nicht zuletzt große Befürchtungen um die Sicherheit und die Zukunft seines riesigen Nukleararsenals auslöst.

Wenn objektive Voraussetzungen für den Zerfall des russischen Staates in nächster Zukunft nicht gegeben sind, heißt das nicht, alle Aussichten seien düster. Nach dem Sieg der Ukraine und seiner westlichen Verbündeten besteht die Chance, die neue Kremlführung dazu zu zwingen, das Land weitgehend zu dezentralisieren und in einen wirklichen Dialog mit den Regionen zu treten. Viele dieser Regionen mögen die Unabhängigkeit wünschen, was zu respektieren wäre, doch einige werden sich schlicht mit größerer Autonomie zufriedengeben. Um eine solche Entwicklung wahrscheinlicher zu machen, sollten bereits jetzt die Nationalitätenbewegungen in Russland durch die Umsetzung einer klugen Strategie unterstützt werden, die unter anderem Kooperation mit Aktivisten im Land wie in der Emigration einschließt. In diesem Zusammenhang sollte, vorbehaltlich natürlich aller schlechten Erfahrungen, auf die politisch-intellektuelle Bewegung der Zwischenkriegszeit zurückgegriffen werden, die unter dem Namen „Prometheismus“ bekannt war und die Unabhängigkeitsbestrebungen der Nationalitäten in der damaligen UdSSR förderte, indem sie Exilregierungen und ‑organisationen in ihrem Widerstand gegen die Bolschewiki half. Solche Aktivitäten müssen sich auf realistische Annahmen und langfristige Ziele stützen, denn selbst ein partieller Zerfall Russlands ist eher in langer als kurzer Perspektive möglich, nämlich infolge der Dysfunktionalität seines gegenwärtigen ökonomischen und politischen Systems, nicht aber des aktuellen Kriegs. Das schlimmste Szenario wäre, wenn alles im Chaos ethnischer Blutbäder versänke, eine wahrhaft apokalyptische Vision bei einem Staat mit dem weltweit größten Arsenal von Nuklearwaffen. Dieses im Sinn, sollte sich die Ukraine auf eine langfristige Friedensstrategie konzentrieren, die den Aufbau von Kontakten mit den einheimischen Völkern Russlands umfasst, wozu gehört, deren kulturelle Identitäten und Autonomiebewegungen zu fördern, mit ihren Führungspersönlichkeiten zusammenzuarbeiten, Stipendien an junge Aktivisten zu vergeben, Kulturaustausch in die Wege zu leiten, für den Erhalt der Vernakularsprachen einzutreten, Diskussionsplattformen einzurichten, die mehr politische oder kulturelle Autonomie propagieren, sowie eine Reihe weiterer Initiativen aufzunehmen, die zukünftig helfen könnten, den russischen Neoimperialismus zu besiegen und andauernden Frieden in der Region herzustellen.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Nedim Useinow

Nedim Useinow

Nedim Useinow ist Mitglied des Koordinationsrates des Weltkongresses der Krimtataren in Polen. Er studierte Politologie an der Universität Danzig. Seit 2003 arbeitet er im Nichtregierungssektor in Polen und der Ukraine.

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